Das Venedigermännlein bei Knittelfeld

Autor: Ueberlieferung
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Vor langer Zeit, als im Gebirge noch sehr viel Gold versteckt war, das aufsteigende Quellen oder dem Berg entströmendes Wildwasser da und dort an die Oberfläche brachten und unter den Sand der Bäche oder Felder mengten, sah man in den Bergen oft seltsames Volk herumsteigen, das auf geheimnisvolle Weise um solche Plätze wußte, an denen Gold zu finden war. Da diese Leute meistens aus Welschland, und zwar aus Venedig, stammten, nannte man sie Venediger.

Zu einem Bauern aus Landschach bei Knittelfeld kam lange Jahre hindurch ein Männchen, das sich einige Wintertage im Haus aufhielt und beim Abschied für die gewährte Unterkunft stets reichliche Belohnung hinterließ. Da das Männchen auch sonst ein freundliches, bescheidenes Wesen zeigte, war es immer gern gesehen. Man wußte nichts Näheres über den seltsamen Gast, hielt ihn aber wegen seiner Sprache und seines Aussehens für einen Venediger. Seltsamerweise trieb sich der fremde Gast zur Nachtzeit meist hinter dem Hause auf dem Krautacker des Landwirtes herum. Auffallend war auch, daß er stets ohne Gepäck ankam, dagegen jedesmal bei der Abreise ein paar schwer gefüllte Säcke mit sich nahm.

Als einst der Hofhund verendet war, schaffte sich der Landwirt einen andern Hund an, der sehr bösartig und bissig war. Nur den Hausbewohnern tat er nichts zuleide, fremde Menschen aber mußten sich vor ihm sehr in acht nehmen.

Als nun der Venediger wie alljährlich wieder ins Haus kam und seine nächtlichen Gänge antrat, fiel der Hund den Gast an, und er wäre zerrissen worden, wenn ihm nicht der Landwirt auf sein Gebrüll hin zu Hilfe gekommen wäre. Der Welsche verlangte vom Landwirt die Entfernung des bösen Hundes, und als der Bauer das ablehnte, sagte der Besucher, er werde sogleich das Haus verlassen und nie wiederkommen. Tatsächlich reiste er sofort ab und wurde in der Gegend nie mehr gesehen.

Nach vielen Jahren unternahm der Landwirt eine Wallfahrt. Der Rückweg führte ihn durch Venedig. Aufmerksam und staunend besichtigte er die stolzen Häuser und prachtvollen Paläste, die sich seinen Blicken boten. Ein besonders schönes, stattliches Gebäude erregte vor allem seine Aufmerksamkeit, und er dachte stehenbleibend, der Besitzer eines solchen Prunkgebäudes müsse über ungeheure Reichtümer verfügen. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter, und als er sich umwandte, sah er einen Unbekannten, der wie ein Diener gekleidet war und ihn freundlich aufforderte, ihm in das prunkvolle Bauwerk, vor dem er bewundernd stand, zu folgen.

Zögernd schloß sich der Bauer seinem vorausschreitenden Führer an, aber die Neugierde besiegte bald sein ängstliches Mißtrauen, und er stieg mit seinem Begleiter über eine marmorne Treppe in eine prachtvolle Halle empor, die mit herrlichen Bildern und Statuen geschmückt war. Der Diener führte ihn über teppichbelegte Gänge und durch kostbar eingerichtete Räume in ein kleines Zimmer, wo ihn der Herr des Palastes lächelnd begrüßte. Mit höchstem Erstaunen erkannte der Landwirt in ihm den fremden welschen Mann, der sich früher so oft in seinem Haus in Landschach aufgehalten und zur Nachtzeit immer den Krautacker aufgesucht hatte.

Mit höflichen Worten führte der Gastgeber seinen Besucher im Palazzo herum und zeigte ihm alle seine Schätze und Kostbarkeiten. Schließlich lud er ihn zum Mittagessen ein und sagte während des Mahles, »Ihr werdet Euch wundern, wenn ich Euch sage, daß alle meine Reichtümer von Eurem Krautacker stammen. Wenn Ihr alles Gold, das sich noch im Acker vorfindet, auflesen wolltet, brauchtet Ihr Euch nicht mehr so plagen.«

Als der Landwirt hierüber seine Zweifel äußerte, setzte das Männlein fort:

»So kommt mit mir, ich werde Euch meine Worte beweisen.« Er führte den Landwirt in einen abseits gelegenen Raum, in dem sich nur ein großer Spiegel in goldglänzendem Rahmen befand, und erklärte: »Seht einmal in diesen Spiegel hinein, dann werdet Ihr meine Worte bestätigt finden.«

Der Landwirt schaute in den Spiegel und sah zu seiner Verwunderung nicht sein Bild im Spiegel, sondern eine stets sich verändernde Landschaft. Zuerst sah er alle Orte, die er auf seiner Wallfahrt berührt, dann erschien die wohlbekannte Stadt Knittelfeld im Spiegel, an ihre Stelle trat sein Heimatort Landschach, und endlich zeigte sich sein eigenes Haus samt Stallungen und Wirtschaftsgebäuden, er sah seine Frau und seine Kinder, seine Wälder und Felder. Das Bild blieb nun ruhig, und er konnte sogar feststellen, daß die Erde seines Krautacker stellenweise stark mit Goldkörnlein durchsetzt war.

Der Gastgeber erzählte dem staunenden Landwirt, daß dieser wunderbare Spiegel ein »Bergspiegel« sei, der seinem Besitzer alles Gold und die geheimsten Schätze, und waren sie auch noch so weit entfernt, anzeige.

Dem Landmann kam das Ganze wie ein Traum vor, und er meinte zweifelnd: »Dies alles scheint mir so wunderbar, daß ich es gar nicht glauben kann.«

Da entgegnete der Gastgeber: »Ich will Euch noch einen Beweis von der Wahrheit meiner Worte geben; wenn Ihr wieder nach Hause kommt, mögt Ihr Euch mit eigenen Augen davon überzeugen: Seht Ihr im Spiegel den bösen Hund, vor dessen Zähnen Ihr mich einst gerettet habt?«

Der Landwirt bejahte.

»Erlaubt Ihr mir, ihn von hier auf der Stelle zu töten?«

Der Bauer gab sein Einverständnis und schaute neugierig in den Spiegel, wo man den Hund vor der Haustür liegen sah.

Der Mann nahm eine Pistole und schoß auf den Hund im Spiegel, der nicht die geringste Beschädigung oder einen Flecken des Pulverrauches aufwies. Der Hund aber sprang auf und stürzte sogleich tot zu Boden. Nun wurde dem Landwirt unheimlich zumute, und er wollte je eher, je lieber das Haus des feinen Männleins verlassen.

Der Welsche merkte die Unruhe des Bauern und erkannte seine Absicht. Daher verabschiedete er sich mit freundlichen Worten von ihm und drückte ihm zuletzt noch einen Beutel voll Dukaten in die Hand.

Der Landwirt nahm das Geschenk freudestrahlend entgegen und verließ erleichterten Herzens das Haus, das ihm ebenso wie dessen Herr zuletzt nicht mehr ganz geheuer erschienen war. Als er die Stadt hinter sich hatte, wanderte er rüstig weiter und langte nach mehreren Tagen frohgemut zu Hause. Hier erfuhr er bald, daß sein Hund vor kurzem von einem unbekannten Täter erschossen worden sei. Als er sich um Tag und Stunde der Tat erkundigte, hörte er erstaunt, daß sie am gleichen Tag und zur selben Stunde geschehen war, wo der Schuß in den Spiegel erfolgte. Nun glaubte er auch das, was ihm der seltsame Venediger über das Gold in seinem Krautacker gesagt und gezeigt hatte. Er versuchte es mit der Ausbeutung des Ackers, hatte aber nur geringen Erfolg, da er sich auf die Scheidekunst nicht verstand, vor allem aber, weil ihm der Bergspiegel zur Auffindung fehlte.

So war es dem Landwirt doch nicht möglich, von seiner harten Landarbeit zu lassen.

Oft und oft dachte er jedoch an das wohlwollende »Venedigermännchen« und dankte dem Schicksal, keinem hinterlistigen Venediger begegnet zu sein.