Unzulänglichkeit des gesetzlichen Schutzes gegen persönliche Beleidigungen

Eine alte und weitverbreitete Klage des deutschen Staatsbürgers, insbesondere auch des Arbeitgebers, ist der Mangel eines ausreichenden Schutzes gegen Privatbeleidigungen. Das Gesetz und das Gerichtsverfahren gewähren in dieser Beziehung nicht die nötige Sicherheit gegen Tücke und Bosheit des Beleidigers. Das Gesetz ist in der Hinsicht vielmehr ganz mangelhaft. Es geht von der offenkundigen Absicht aus, die Privatbeleidigungsklagen möglichst zu erschweren, indem es dem Kläger gewisse lästige Bedingungen für die Anstellung und Verfolgung der Klage auferlegt, dem Angeklagten aber nichts dergleichen zur Pflicht macht, dagegen diesem den weitgehendsten Spielraum bei seiner Verteidigung lässt und ihm gestattet, gegen und über den Kläger aus dessen gar nicht zur Verhandlung stehendem Privatleben und dergleichen Sachen vorzubringen, die den Kläger als Angeklagten, den Angeklagten als Schützer der vom Kläger verletzten Moral erscheinen lassen können. Dazu kommt, dass wenn der Angeklagte mittellos ist, was häufig der Fall sein dürfte, der erfolgreiche Kläger die Kosten zu tragen hatte, die er zur Anstrengung und Durchführung der Klage aufwenden musste. Der Gesetzgeber hat sich bei seiner den tatsächlichen Verhältnissen so wenig Rechnung tragenden einschlägigen Entschließung offenbar von sogenannten sozialen Beweggründen leiten lassen, die aber hier am allerletzten zutreffen. Die persönliche Ehre des Staatsbürgers muss nicht, wie es unter unserer Gesetzgebung der Fall ist, als ein ideales Gut betrachtet werden, dem durch unbegründete Beleidigungen ein erheblicher Abbruch nicht getan werden könne, sondern als ein äußerst feiner und daher leicht verletzbarer Gegenstand, der ganz besonderen Schutzes bedarf. Wenn im gewöhnlichen Volk es mit beleidigenden Äußerungen im persönlichen Verkehr nicht so sehr ernst genommen werden mag, so ist das doch keine Entschuldigung für geflissentliche Beleidigungen, die höher stehenden, gebildeten Menschen mit verfeinertem Empfindungsleben und gehobenem Ehrbegriff auch von niedriger stehenden Mitmenschen zugefügt werden. Heutzutage, wo z. B. die Arbeiterschaft so genau über ihre Rechte und sachlichen Vorteile im öffentlichen Leben unterrichtet ist, kann man von ihr auch verlangen, dass sie weiß, was sie der Ehre anderer schuldig ist, besonders auch derjenigen des Arbeitgebers, dessen Tatkraft und Unternehmungslust sie ihre Beschäftigung verdankt. Aber die gehässigen, häufig pöbelhaften Angriffe der von den Arbeitern gelesenen sozialdemokratischen Presse gegen das Unternehmertum und die Unternehmer sowie gegen deren Sachwalter beweisen klar und deutlich, dass man sich auf Seiten einer gegnerischen Arbeiterschaft absichtlich eines möglichst verletzenden Tones im vollen Bewusstsein von der Wirkung bedient, die diese boshaften Angriffe und übertreibenden Schilderungen auf diejenigen Leute und Unternehmungen ausüben sollen, an deren Adresse sie gerichtet sind.

Dabei ist entsprechend zu berücksichtigen, dass der gesellschaftlich oder beruflich höher stehende Beleidigte bei einer von ihm anzustrengenden Privatbeleidigungsklage viel mehr zu befahren hat als der Kläger, dem das Gesetz die Befugnis gibt, zu seiner Verteidigung die weitest hergeholten, unbegründetsten oder nicht zur Sache gehörigen Behauptungen anzubringen bzw. unter Beweis zu stellen. In so ungünstiger Lage befindet sich namentlich der große Unternehmer, dessen hervorragende Stellung im geschäftlichen und gesellschaftlichen Leben für Beleidigungen mehr Angriffsfläche bietet als die des kleinen Mannes. Das Unternehmertum ist also als solches durch die erwähnten Mängel der geltenden Gesetzgebung besonders benachteiligt. Durch seine geschäftliche Bedeutung veranlasste Beleidigungen werden, wenn es sie ahnden will, von den Beleidigern auf das Gebiet der Persönlichkeit, der Familie, der Privatverhältnisse übertragen und oft in ganz schändlicher Weise zur Verletzung der tiefsten Gefühle des Klägers benutzt.


Die meisten Privatbeleidigungen werden von Personen begangen, die mit den Beleidigten am selben Ort wohnen. Um Klagen möglichst zu vermeiden, hat das Gesetz die löbliche Einrichtung des Schiedsmannsamtes getroffen. Nun aber kommt das geradezu Ungeheuerliche, was nur die Wirkung haben kann, dem Kläger die Klage zu verleiden: Der Kläger ist genötigt, persönlich vor dem Schiedsmann zu erscheinen, desgleichen jeder Vorladung des Gerichtes zum persönlichen Erscheinen bei der Hauptversammlung (auch bei ausreichender Vertretung) zu folgen, widrigenfalls seine Klage als zurückgenommen gilt. Der Angeklagte dagegen braucht nicht vor dem Schiedsmann zu erscheinen, er kann vielleicht auch unentschuldigt bei Gericht fehlen; es wird dann die Verhandlung einfach vertagt, so dass der wiederholt vorgeladene Kläger wieder unverrichteter Sache abziehen muss. Beweis dessen folgender Vorfall, der für den Sachverhalt höchst bezeichnend und von dem Kläger in einem öffentlichen Flugblatt geschildert, auch durch entsprechende Mitteilungen dem preußischen Justizminister und dem Staatssekretär des Reichs-Justizamts sowie vielen Richtern und Abgeordneten zur Kenntnis gebracht worden ist. Es heißt in diesem vom Urheber namentlich unterzeichneten Flugblatte ,,Wie es um den Rechtsschutz des Staatsbürgers als Beleidigten in Preußen und im Reiche steht“ vom 10. August 1910: „Anfangs Februar d. J. fand ich bei der Rückkehr von einer mehrtägigen Berufsreise einen an mich gerichteten Brief vor, in dem eine mich beleidigende Äußerung enthalten war. Ich forderte den bei mir im Hause wohnenden Beleidiger, dessen Frau (früher Dienstbote in meinem Haushalt) die Reinigung der Bureaus besorgte, zur schriftlichen Entschuldigung auf und beantragte, als diese nicht erfolgte, am 15. Februar 1910 bei dem zuständigen Schiedsmanne die Anberaumung des gesetzlich vorgesehenen Sühnetermins. Die Antwort des Schiedsmannes lautete, dass er wegen einer Geschäftsreise nach England erst nach acht Tagen der Sache näher treten könnte. Ich bat ihn um deren schleunige Erledigung, da der Beleidiger, ein in der Konsumbäckerei von Felten & Guilleaume, Karlswerk in Mülheim, beschäftigter Bäcker, Ende des Monats aus- und in einen anderen Stadtteil verzöge. Die Sühneverhandlung wurde nun auf den 26. Februar, 11 1/2 Uhr vormittags, anberaumt, und ich als Kläger musste mich hierzu bereithalten, da mein persönliches Erscheinen zur Vornahme der Verhandlung gesetzlich vorgeschrieben war. Der Beklagte, für den kein Erscheinungszwang bestand, entschuldigte sich kurz vor dem Termin, so dass mir dessen Aufhebung vom Schiedsmanne nur noch telephonisch mitgeteilt werden konnte. Der vom Beklagten angegebene Verhinderungsgrund (Auszug aus der Wohnung) war falsch; er war zu der Zeit, wie ich sofort feststellte, beruflich, wie sonst, tätig gewesen. Hiervon machte ich auch dem Landgerichtspräsidenten Mitteilung, um ihm anheimzugeben, eine entsprechende Strafvorschrift ähnlich der für „contempt of court“ anzuregen. Ich drang auf baldige zweite Ladung vor denselben Schiedsmann; sie geschah auch noch im Februar mit dem Erfolge, dass zwar ich zur Verhandlung erscheinen musste, der Beklagte aber unentschuldigt ausblieb. Da er inzwischen vom Norden in den Süden der Stadt verzog, musste ich ihn nach Anweisung meines Rechtsanwalts vor den Schiedsmann seines nunmehrigen Bezirks laden und diesen Termin natürlich auch persönlich wahrnehmen, während der Beklagte wiederum unentschuldigt ausblieb. Er folgte dagegen einer Aufforderung meines Rechtsanwalts zu einer Vernehmung, in der er sich aber zur Zurücknahme der Beleidigung nicht verstand.

Nach Anhängigmachung der Klage wurde diese ihm natürlich vom Gericht zur Kenntnis gebracht und die Verhandlung vor dem Schöffengericht durch das Amtsgericht Abt. 35 auf den 3. Juni anberaumt. Mein Erscheinen dazu wurde mir mit dem Bemerken zur Pflicht gemacht, dass im Falle meines Ausbleibens die Klage als zurückgenommen gälte. Ich musste also der Vorladung folgen. Der Angeklagte war zwar erschienen, wandte aber gegen die Verhandlung ein, dass seine Frau, die ihm ausschließlich als Zeugin dienen sollte, schon längere Zeit (nach Stuttgart) verreist sei, dort einige Hochzeiten mitmachen und übrigens ihrer Schwangerschaft wegen nicht vor Gericht erscheinen könnte. Obwohl ihm nun diese Umstände schon lange vorher bekannt gewesen waren, und die gänzlich auf freier Entschließung beruhende Reise der Frau erst lange nach Erhebung der Klage erfolgt war, dem Beklagten also genügend Gelegenheit zu einem rechtzeitigen Vertagungsantrag gegeben gewesen war, entsprach das Schöffengericht dem letzteren und vertagte die Verhandlung auf unbestimmte Zeit, ungeachtet des von mir und meinem Anwalt dagegen erhobenen Einspruchs.

Wegen der bei dieser Verhandlung von dem Vorsitzenden Richter bekundeten Parteilichkeit für den Angeklagten und unangemessenen Haltung gegen mich musste ich gegen ihn Beschwerde führen bzw. Ablehnung für die weitere Verhandlung beantragen, worauf vom Präsidenten des Landgerichts und der zuständigen Strafkammer folgende Bescheide ergingen:

Der Landgerichts-Präsident.

X 19/1866. Köln, den 13. Juni 1910.

Auf die Eingaben vom 3., 4., 5. und 7. d. Mts.

I. Die Art und Weise der Behandlung, die der Amtsgerichtsrat N. N. Ihnen hat zuteil werden lassen, kann ich selbstverständlich nicht gutheißen und habe dieserhalb das Geeignete im Aufsichtswege veranlasst.

II. Ich habe das hiesige Amtsgericht ersucht, nach Möglichkeit auf eine baldige Erledigung des Verfahrens hinzuwirken; insbesondere habe ich der Erwägung des Gerichts anheimgestellt, ob nicht durch Nachfrage bei der Polizeibehörde festzustellen sein dürfte, ob die Frau des Angeklagten in der Tat sich in Stuttgart aufhält, und wann ihre Niederkunft zu erwarten steht.

Im übrigen vermag ich, wie ich Euer Hoch wohlgeboren bereits mündlich auseinandergesetzt habe, in der Angelegenheit nichts zu veranlassen und stelle anheim, die etwa noch erforderlichen Anträge bei dem Amtsgerichte zu stellen. (Unterschrift.)

Beschluss.

In der Privatklagesache des X., Privatklägers, gegen Z., Angeklagten, wegen Beleidigung wird das Gesuch des Privatklägers X. vom 9. Juni 1901 um Ablehnung des Amtsgerichtsrats für begründet erklärt.
Köln, den 18. Juni 1910.
Königliches Landgericht, 4. Strafkammer.
(Unterschriften)

Infolge der vom Amtsgericht auf Ersuchen des Landgerichtspräsidenten veranlassten Beschleunigung des Verfahrens fand eine kommissarische Vernehmung der Frau des Beklagten als Zeugin am 20. Juli in Stuttgart statt. — sie war also nun nach sieben Wochen nach der ersten Hauptverhandlung, zu der sie angeblich, u. a. wegen ihrer Schwangerschaft, nicht hatte erscheinen können, noch vernehmungsfähig! — , während die neue Hauptverhandlung vor dem Kölner Schöffengericht, Abteilung 35, auf den 8. August angesetzt wurde, diesmal auf 12 Uhr mittags in demselben Saal A, Glockengasse Nr. 9. Wieder war ich zum persönlichen Erscheinen durch die Ladung genötigt, wenn ich die Klage aufrecht erhalten wissen wollte.

Der Verlauf dieser Verhandlung gab mir zu folgenden Beschwerdeschreiben d. d. 8. August Veranlassung:

a) An den Landgerichtspräsidenten.

In Sachen der Privatklage X. gegen Z. bin ich wieder genötigt, beschwerdeführend mich an Eure Hochwohlgeboren zu wenden.

Ich war heute auf Mittag 12 Uhr vor das Amtsgericht Abteilung 35 in der Glockengasse, Saal A, geladen worden, fand dort aber, als ich ankam, meine Sache gar nicht auf der Rolle verzeichnet und konnte erst durch Hin- und Herlaufen zu dem Gerichtsschreiber im Nebenhause, wohin mich der Gerichtsdiener wies, während dieser erstere mich wieder zu dem Gerichtsdiener sandte und umgekehrt, erfahren bzw. erlangen, dass meine Sache dem Richter vorgelegt würde. Zur Verhandlung gelangte sie dann, und zwar mit dem Ergebnis- der Vertagung auf unbestimmte Zeit, gegen 1 ½ Uhr, und zwar, wie der Vorsitzende erklärte, lediglich aus Gefälligkeit, da sie nicht auf der Rolle gestanden habe. Ich fühle mich erstens durch diese Art der Behandlung meiner Angelegenheit benachteiligt und führe daher darüber Beschwerde, dies umsomehr, als, wie ich erfahren habe, die auf der Rolle stehenden Sachen früher erledigt worden sein würden, wenn die Verhandlungen, wie vorgesehen, um 9 Uhr, anstatt, wie tatsächlich, um 10 Uhr begonnen hätten. Ferner aber fühle ich mich dadurch empfindlich benachteiligt, dass der Beklagte durch sein Nichterscheinen, was doch wenigstens um 12 Uhr hätte festgestellt werden sollen, und können, mich ungestraft wieder hat hierher rufen können, und dass das Gericht wieder mein persönliches Erscheinen in der Verhandlung anordnete unter der Androhung, dass im Falle meines Nichterscheinens die Klage hinfällig würde. Auch sehe ich mich dadurch in meinem Recht gekränkt, dass der Antrag meines Rechtsanwaltes, den Beklagten zwangsweise vorführen zu lassen, vom Gericht nicht angenommen wurde, vielmehr letzteres lediglich beschlossen hat, die Bestimmung darüber sowie über meine Verpflichtung zum Erscheinen in der nächsten, also 3. Sitzung dem zuständigen Richter vorzubehalten.

Dieses Verfahren gibt mir selbstverständlich Anlass, mich an den Herrn Justizminister und den Herrn Staatssekretär des Reichsjustizamtes zu wenden sowie auch an die dafür zuständige Presse, um auf den Rechtszustand aufmerksam zu machen, wonach in Deutschland der beleidigte Staatsbürger die unglaublichsten Scherereien hat, um Sühne für das ihm angetane Unrecht zu erlangen.

b) An den Justizminister und an den Staatssekretär des Reichsjustizamts.

Euer Exzellenz beehre ich mich, Abschrift von einer an den Herrn Landgerichtspräsidenten in Köln gerichteten Beschwerde zur gefälligen Kenntnisnahme zu übersenden.

Nach den Erfahrungen, die ich mit diesem Prozess gemacht habe, wo der Beleidiger alles tun kann, um die Sache hinauszuschieben, nämlich

1. drei Ladungen vor den Schiedsmann zu veranlassen und dann nicht zu erscheinen,

2. die Vertagung der ersten Verhandlung durch den Hinweis auf die ganz willkürliche Abwesenheit seiner Frau als Zeugin zu veranlassen,

3. mein vergebliches Erscheinen zu der heutigen Verhandlung zu bewirken, wobei das Gericht mich zum zweitenmal persönlich vorlud, obgleich ich einen Rechtsanwalt hatte,

muss ich zu dem Ergebnis kommen, dass der unbescholtene Staatsbürger in Deutschland bzw. in Preußen einer Privatbeleidigung gegenüber wehrlos bzw. der gröblichsten Ungebühr seitens des Beklagten ausgesetzt ist, während der letztere sogenannte Narrenfreiheit hat und mit dem Beleidigten sowie mit dem Gerichtshof nach Laune und Willkür ungestraft umspringen kann.

Aus dieser Euer Exzellenz ja schwerlich unbekannten Rechtslage zu ziehende Folgerungen werde ich an geeigneter Stelle zur Geltung zu bringen suchen. Einstweilen wollte ich nicht unterlassen, die Aufmerksamkeit Euer Exzellenz auf den Vorgang hinzu lenken, um Ihnen die Möglichkeit zu bieten, die geeigneten Schritte zur Abschaffung dieses Rechtszustandes zu tun, der den davon Betroffenen ja, wenn er nicht sehr feste Grundsätze hat, in das Lager der Staatsfeinde, der. Sozialdemokraten oder Anarchisten treiben muss.
(Unterschrift).

Nach der preußischen Verfassung sind vor dem Gesetz alle Preußen gleich. Tatsächlich ist der Privatkläger, wie wir gesehen haben, vor dem Gesetz dem Privatbeklagten nicht gleich. Ungleichheit vor dem Gesetz besteht zu Ungunsten des Beleidigten auch insofern, als er zu der Beleidigung die Kosten der Klage zu tragen hat, wenn der Beleidiger unbemittelt ist, während es anderseits diesem letztern durch das Gerichtsverfahren gestattet bzw. ermöglicht wird, die Kosten durch von ihm geflissentlich wiederholte Vertagung der Verhandlung, z. B. durch sein unentschuldigtes Ausbleiben, in fast beliebiger Weise zu erhöhen und dem Kl?ger zu der ihm angetanen Unbill und der hierdurch und durch das Verfahren veranlassten Schädigung an seiner Gemütsverfassung, Gesundheit und Zeit noch einen mehr oder weniger erheblichen Vermögensschaden zuzufügen. Der nichtbesitzende Staatsbürger hat also ein völliges Privileg der Straffreiheit im Falle einer von ihm verübten Beleidigung. Geldstrafe bezahlt er nicht, Kostenersatz kann von ihm nicht beigetrieben werden. Unter solchen Umständen ist der ruhige, ordnungsliebende, gute Bürger geradezu vogelfrei gegenüber einem Beleidiger, der nichts hat. Dem Staat aber ist das alles einerlei, obgleich doch der Rechtsschutz zu seinen vornehmsten Aufgaben gehört!

Weiterer Ausführungen zu dem vorstehend geschilderten Sachverhalt bedarf es schwerlich, um das Verlangen nach einer Änderung unserer Justizgesetze überzeugend zu begründen. Einstweilen aber und bei unserer von falscher, weichlicher Sozialpolitik triefenden Richtung in der Gesetzgebung wird der durch grundlose Beleidigung verletzte Staatsbürger der größten Unbill ausgesetzt bleiben, die ihm, „wie figura zeigt“, ein auf Verschleppung des Urteils hinzielendes Verhalten des Beleidigers zufügen darf.


Auf die Beschwerde über das Verhalten des Amtsgerichts vom 8. August 1910 erfolgte folgender Bescheid des Landgerichtspräsidenten vom 20. September 1910:

Ihre Beschwerde über das hiesige Amtsgericht ist in folgenden Punkten begründet:

1. Die Sache hätte zur Hauptverhandlung auf einen ordentlichen Sitzungstag der Abteilung 35, d. h. auf einen Dienstag oder Freitag, gesetzt werden müssen, nicht aber auf einen Sitzungstag der Abteilung 34.

2. In jedem Falle musste am 8. August d. J. am Eingange zum Terminzimmer ein auf Ihre Sache bezüglicher Aushang angebracht sein.

3. Dass die Sitzung am 8. August mit einer erheblichen Verspätung begonnen hat, beruht auf einem bedauerlichen Versehen.

Wegen dieser Ordnungswidrigkeiten habe ich das Geeignete im Aufsichtswege veranlasst. Eine weitere Folge vermag ich Ihrer Beschwerde jedoch nicht zu geben. Im einzelnen bemerke ich noch folgendes:

Am 8. August standen vor der Abteilung 34 mit einer einzigen Ausnahme sämtliche Sachen vor 12 Uhr an, mussten mithin bis auf jene einzige Sache vor der Ihrigen, die um 12 Uhr anstand, erledigt werden. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Privatklägers stellt sich als eine rein richterliche Entscheidung dar, die der Nachprüfung im Aufsichtswege entzogen ist. Das gleiche gilt von dem Beschlüsse des Schöffengerichts, wonach die Entscheidung über Ihre Anträge betreffend Ihre Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im nächsten Termin und Vorführung des Angeklagten zu diesem Termin ausgesetzt wurde. Ich habe das Amtsgericht, Abteilung 35, ersucht, nunmehr schleunigst die Beschlussfassung über Ihre Anträge herbeizuführen. Weiter kann von hier aus in der Angelegenheit nichts geschehen.

Das Amtsgericht seinerseits erwiderte am 2. September folgendes :

Der in der Verhandlung vom 8. August 1910 gestellte Antrag des Privatklägers auf Vorführung des Angeklagten zum neuen Termin wird zurückgewiesen, weil die Zustellung der Ladung zum Termin vom 8. August 1910 durch Niederlegung bei der Post bewirkt worden ist und somit nicht feststeht, dass der Angeklagte Kenntnis von dem Termin hatte, diese Kenntnis aber trotz der formell der Prozessordnung entsprechenden Zustellung verlangt werden muss, um eine derartig eingreifende Maßnahme wie die Vorführung zu rechtfertigen.

Eigentümlich berührt in dieser Mitteilung des Amtsgerichtes vom 21. September, dass die gesetzliche Zustellung keine Sicherheit über deren Empfang seitens des Vorgeladenen gebe. Welchen Zweck hat diese Zustellung denn? Und bedingt nicht die gebotene Rücksicht auf die Gegenpartei, dass das Gerichtsverfahren für eine sichere Zustellung der Ladung sorge? Nachträglich hat das Gericht doch den Wohnsitz des verzogenen Angeklagten ausfindig machen müssen. Warum muss das nicht gleich geschehen? Warum muss der Kläger erst vergeblich zu Gericht kommen und den gedachten Ordnungswidrigkeiten ausgesetzt werden? Auch hier mangelt es also an der den Preußen verfassungsmäßig verbürgten Gleichheit vordem Gesetz zuungunsten des staatserhaltenden, sesshaften, steuerzahlenden Bürgers, der feste Wohnung, ordentlichen Hausstand besitzt, und zugunsten des unsesshaften, meist auch steuerfreien Volksangehörigen, den man als „Bürger“ im eigentlichen Sinne des Wortes kaum ansprechen kann.“

Die dritte, auf den 7. Oktober anberaumte Hauptverhandlung, zu der persönliches Erscheinen dem Kläger diesmal nicht zur Pflicht gemacht worden war, ist dann ohne Zwischenfälle verlaufen.

Der Angeklagte wurde, wie hier nachrichtlich hinzugefügt werden mag, nachdem er bei seiner kommissarischen Vernehmung gänzlich aus der Luft gegriffene, neue Beleidigungen enthaltende Behauptungen ungestraft hatte aufstellen können, zu einer kleinen Geldstrafe und in die Kosten verurteilt, die er auch bezahlt hat. Der Kläger erhielt aber keinerlei Genugtuung oder Entschädigung für die auf die Betreibung der Angelegenheit angewandte Zeit, Mühe und Nervenkraft und für die ihm vom Gericht wiederholt widerfahrene Unbill. Würde man die Privatbeleidigungen nicht so leicht nehmen und ihre Verfolgung den Beleidigten nicht so sehr erschweren, so würden die Beleidigungen sicherlich erheblich weniger vorkommen und die persönliche Ehre des Staatsbürgers gegen frivole Verletzungen besser geschützt sein.