Über Tarifverträge

Zu den Glaubensartikeln der zünftigen Sozialpolitiker in Deutschland gehört bekanntlich die Forderung nach Abschluss von Tarifverträgen zwischen Unternehmern und Arbeitern. Vielfach wird mit der großen Zahl der Tarifverträge „Staat gemacht“ und zu beweisen gesucht, wie rückständig die Großindustrie sei, die sich zu solchen Tarifverträgen im allgemeinen nicht verstehen will. Die guten Gründe der Industriellen gegen die Tarifverträge werden nicht anerkannt, obgleich sie tatsächlich stichhaltig sind. Schon die eine Tatsache, dass zwei rechtlich ganz ungleiche Parteien einander gegenüberstehen, muss den sachlich urteilenden Beobachter zu größter Zurückhaltung in der Kennzeichnung des ablehnenden Verhaltens der Unternehmer bestimmen. Denn während der Arbeitgeber als eine bestimmte Person oder als Firma jederzeit rechtlich haftbar gemacht werden kann für von ihm eingegangene Abmachungen, fehlt es gänzlich an solcher rechtsgültigen Haftbarkeit der Arbeiter. Selbst wenn sie zur Gewerkschaft vereint sind,, so bildet diese doch keine juristische Person; die Zugehörigkeit zu ihr kann jeder Arbeiter jederzeit aufgeben, und er kann nach der Gewerbeordnung für die Erfüllung der ihr gegenüber eingegangenen Verpflichtungen (Verabredungen) niemals in Anspruch genommen werden. Der einzelne Arbeiter ist also an die Abmachungen der Gewerkschaft nicht gebunden, er wechselt auch häufig seine Stelle; die Gewerkschaft setzt sich daher nach Jahr und Tag oft aus ganz anderen Bestandteilen zusammen als bei dem Abschluss eines Tarifvertrages, es können daher in ihr auch in dieser Zeit ganz andere Ansichten und Auffassungen zur maßgebenden Geltung gelangen. Demgegenüber ist der Arbeitgeber, der einen Tarifvertrag abschließt, oder, was hier dasselbe sagen will, das Unternehmen, für welches der Vertrag gilt, immer zu fassen. Es liegt also eine vollständige Rechtsungleichheit unter den beiden vertragschließenden Teilen vor. In bezug auf das Wesen des Tarifvertrags selbst waltet bei den Industriellen die wohl begründete Ansicht vor, dass ein solcher mit dem Großbetrieb nicht vereinbar sei, da er erstens die Leistung der Arbeiter herabdrücke und zweitens das Gewerkschaftswesen begünstige. Denn nur mit einer Vereinigung der Arbeiterschaft kann ein Vertrag geschlossen werden, welche Tatsache denn auch schon die extremsten wissenschaftlichen Vertreter des Gewerkschaftsgedankens zu dem von ihrem einseitig arbeiterfreundlichen Standpunkt völlig folgerichtigen Schluss geführt hat, dass alle Arbeiter gewerkschaftlich organisiert sein müssten. Dadurch würde dann die Herrschaft der Arbeiter oder die ihrer Führer über die Industrie völlig gesichert erscheinen und die „konstitutionelle Fabrik“, d. h. das maßgebende Mitbestimmungsrecht der Arbeiter über die Arbeitsbedingungen der Unternehmer die notwendige Folge sein. Dass von manchen anderen Kreisen der Unternehmerschaft Tarifverträge abgeschlossen werden, beweist nichts für deren Angemessenheit oder Möglichkeit in der Großindustrie. Wohl aber lässt der jüngste Tarif kämpf der Baugewerbebetriebe mit ihren Arbeitern, der mit einer Niederlage der Arbeitgeber endete, erkennen, dass Tarifverträge nicht vor Lohnkämpfen schützen. Dem vorerwähnten Glaubensartikel von den allein seligmachenden Tarifverträgen tritt nun ein technisch, privat- und volkswirtschaftlich erfahrener Mann (ein höherer Staatsbeamter, Regierungsrat und Mitglied des Kaiserlichen Patentamtes), der lange Jahre als Betriebsingenieur in verschiedenen Werken tätig war, entgegen und zerstört mit seiner soeben erschienenen Druckschrift 1), die von genauer Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse und von gründlichem Studium in der Literatur über Tarifverträge sowie von eigener Nachprüfung der in letzterer geschilderten Zustände auf diesem Gebiete zeugt, diesen Glaubenssatz, weist auch nach, dass sogar amtliche Quellen unzuverlässig sind und mit den wissenschaftlichen Vertretern des Tarifgedankens unrichtige Nachrichten über das Tarif Vertrags wesen verbreiten, wie auch und namentlich diese für die Großindustrie unannehmbar sei, aber auch den Arbeitern mehr Schaden als Nutzen bringe.

1) Über die Einführung von Tarifverträgen in den Großbetrieben des Maschinenbaues und verwandter Industrie. Von F. Selter, Regierungsrat. Berlin 1911. Kommissionsverlag von A. Seydel, Polytechnische Buchhandlung.


Zunächst die falschen Nachrichten anbelangend, so teilt der Verfasser darüber auf Seite 18 usw. seiner Schrift mit, dass er insbesondere die in den von amtlicher Seite herrührenden Veröffentlichungen „Die Tarifverträge im Jahre 1908 und 1909“ im Reichs Arbeitsblatt (Sonder-Beilage Nr. 11 vom November 1909 und Sonder-Beilage Nr. 8 vom August 1910) angeführten Tarifverträge, die sich auf bestimmte Arten von Großbetrieben des Maschinenbaues beziehen, nachgeprüft habe. Zu dem Zweck hatte er sich mit all den Firmen in Verbindung gesetzt, die nach Angabe der verschiedenen Arbeiter-Verbände Tarifverträge abgeschlossen haben sollten, und deren Namen er durch Rundfragen erfahren hatte. Das Ergebnis war folgendes: Nur drei Firmen haben nicht geantwortet. Von den übrigen berichteten die befragten Betriebe einer bestimmten Gattung, die das Reichs-Arbeitsblatt in der genannten Veröffentlichung für 1908 und 1909 als solche angeführt hatte, die Tarifverträge mit ihren Arbeitern hätten, nur 2 mit Massenfabrikation (Fahrräder, Apparate), dass sie Tarifverträge hätten, 6 dagegen, dass sie überhaupt keine Tarifverträge mit ihren Arbeitern hätten, und der siebente lediglich, dass er keinen eigentlichen Tarifvertrag abgeschlossen, noch allgemeine Festsetzungen von Akkordlöhnen vereinbart hätte. Solche unterlägen der jeweiligen Vereinbarung zwischen Werkführer und Arbeiter. Bei Meinungsverschiedenheiten entscheide die Fabrikdirektion. Von den einer anderen Gattung angehörigen in der Sonder-Beilage des Reichs-Arbeitsblatts ferner aufgeführten Betrieben kleineren Umfanges (mehr als 100 — 200 Arbeiter) hatte einer keinen Tarifvertrag, drei hatten Zeitlöhnung, drei verweigerten die Auskunft, drei hatten Tarifverträge (eine Fahrradfabrik, eine Feldbahnfabrik, eine Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen). Der Verfasser kommt daher zu dem Schluss, dass von den angeführten Tarifverträgen nur wenige für die Großbetriebe des Maschinenbaues in Betracht kämen, die übrigen wirklich vorhandenen aber die Massenfabrikation beträfen, in denen solche möglich seien. Die in der Sonderbeilage des Reichs-Arbeitsblattes für 1909 aufgeführten Industriebetriebe mit Tarifverträgen hatten sämtlich Massefabrikation zum Gegenstand ihrer Tätigkeit. Der Verfasser hat aber auch die in der sonstigen Literatur insbesondere die von Koppe über die neue Entwickelung des Arbeits-Tarifvertrages gemachten Angaben nachzuprüfen versucht und fasst das Ergebnis seiner gesamten Erhebungen wie folgt zusammen: „Von Großbetrieben des Maschinenbaues usw. mit differenzierter Produktion und in der Hauptsache Stücklöhnung haben in Deutschland nur insgesamt drei oder, wenn man die beiden Betriebe, die dem Verfasser nicht geantwortet haben, sowie diejenige Waggonfabrik, die der Verfasser nicht ermitteln konnte, hinzurechnet, nur 6 Betriebe Tarifverträge mit Bestimmungen über Lohnfestsetzungen mit Arbeitern abgeschlossen.“ Dazu könnten diese von den einzelnen Großbetrieben abgeschlossenen Tarifverträge als wirkliche im Sinne der Anhänger der Tarifverträge nicht gelten . denn die Grundbestimmungen eines Tarifvertrags, grundsätzliche Mitbeteiligung der Arbeiter an der Festsetzung der Löhne und Schlichtungskommissionen bei Lohnstreitigkeiten habe Verfasser bei keinem dieser Verträge gefunden. Es würde sich also hier nur um Tarifvereinbarungen handeln.

Die Unmöglichkeit des Tarifvertrags in der Großindustrie des Maschinenbaues und verwandter Betriebe beweist Selter durch eine Schilderung des Zustandekommens der in der Maschinenindustrie üblichen Akkordlöhne, die auf Schätzung der Leistung des Durchschnitt-Arbeiters bei einer neu zur Vergebung gelangenden Stückarbeit beruht und hernach je nachdem oft berichtigt werden muss. Von dieser Festsetzung dieser Akkorde könne eine wettbewerbsfähige Fabrik nicht abgehen, wohl aber könne und müsse sie ein zuverlässiges System dafür einführen, das es auch ermögliche, dem Arbeiter nachzuweisen, dass er den gerechten Lohn für seine Arbeit erhalte. Dieses System sei das analysierende von Taylor, nach welchem die Gedinge auf Grund genauer Maschinen-Tabellen festgesetzt würden, von denen jede zu suchende Maßgröße sofort abgelesen werden könne. Ein besonderes Kalkulationsbureau habe danach die Lohnsätze für die einzelnen Leistungen der Arbeiter zu ermitteln. Eine Mitwirkung der Arbeiter bei dieser Berechnung sei ausgeschlossen, wie der Verfasser in eingehenden Untersuchungen nachweist. Selter legt an der Hand seiner Erfahrungen, die er durch bezeichnende Beispiele erörtert, dar, dass schon bei der jetzigen einfachen Rechnungsmethode selbst der über dem Durchschnitt befähigte Arbeiter nicht in der Lage ist, den Akkordpreis so festzusetzen, dass er für beide Teile gerecht sei, geschweige denn bei der genaueren, der analysierenden Rechnungsweise. Der Verfasser legt in diesem Abschnitt also dar, dass die Einführung von Tarifverträgen in den Großbetrieben des Maschinenbaues und verwandter Industrien technisch unmöglich sei, und dass nicht „Herren-Standpunkt oder allgemeine Abneigung der Unternehmer gegen Kollektiv-Verträge“, sondern nur „technische Schwierigkeiten und Konkurrenzfähigkeit“ die Gründe seien, weshalb die Einführung von Tarifverträgen mit Bestimmungen über Lohnfragen in den Großbetrieben des Maschinenbaues usw. als unmöglich bezeichnet werde. Der Verfasser tritt in näheren Ausführungen, die ebenfalls auf tatsächlichen Erfahrungen und Ermittelungen beruhen, der Ansicht der Gewerkschaftler und „einiger theoretischen Sozialpolitiker“ entgegen, dass sich die Arbeiter bei dem herrschenden Akkordsystem über ihre Kräfte anstrengen müßten. Er tut auch überzeugend dar, dass die verhältnismäßig geringe Zahl von älteren Arbeitern in der Industrie keineswegs von zu frühem Verbrauch der Arbeitskräfte herrühre, sondern weil durch Neugründungen und Erweiterungen der Betriebe natürlich junge Arbeitskräfte herangezogen würden, sowie weil ältere Arbeiter, die sich etwas gespart haben, sich ruhigere Posten suchten, eigene Geschäfte anfingen oder sich invalidisieren ließen. In einem der vielen Berichte von Großbetrieben, die Selter über diesen Punkt veröffentlicht, heißt es : „Die Sucht, invalidisiert oder als erwerbsunfähig angesehen zu werden, geht so weit, dass die Behörden, unterstützt von namhaften Ärzten, die Absicht haben, zu beantragen, für die Folgen der Renten-Hysterie nicht mehr auftreten zu müssen.“ Dieselbe Firma bezeichnet das Miethausleben und das übermäßige Zigarrenrauchen als einen Grund des vorzeitigen Versagens der Arbeitskraft. Ein 16 jähriger Fabriklehrling verbrauchte seinen ganzen Monatsverdienst von 27 M für Zigaretten. Ein anderer junger Mann gab dafür 32 M monatlich aus. Der Verfasser tritt ebenso der Ansicht entgegen, als betrieben die Unternehmer mit Fleiß Überstunden und Nachtarbeit; dies verbiete schon das eigene Interesse der Arbeitgeber, da in der Über- und Nachtarbeit bei weitem nicht das geleistet werde wie bei der regelmäßigen Tagesund Schichtarbeit, während erstere bekanntlich erheblich höher bezahlt werden müsste; auch weigerten sich die Arbeiter, wie zu ihrer Ehre gesagt werden müsse, nicht, Überstunden

[Diese Feststellung entspricht nicht anderweitig häufig gemachten Beobachtungen, wonach die Arbeiter grundsätzlich Überstunden, auch wenn sie in der Art des Betriebes begründet sind, zu machen ablehnen.]

Zugrunde gelegt hat Verfasser den Betrachtungen dieses Kapitels nur Betriebe, in denen die Arbeiter für die Schicht von 10 Stunden 6 — 6,50 M und die Schlosser 7,50 M verdienten. Sie würden also nicht etwa durch zu niedrigen Lohn zur Überarbeit veranlasst.

Weitere Darlegungen des Verfassers erstrecken sich auf die Frage der Verkürzung der täglichen Arbeitszeit, auf die Lebenshaltung der Arbeiter, Urlaubsgewährung bei Fortzahlung des Lohnes usw. und führen zu der Erkenntnis, dass die Lage der Industrie-Arbeiter sich unter dem geltenden System des Akkord- oder Zeitlohnes sehr gehoben habe, die Tarifverträge aber dazu auch nicht das geringste beigetragen haben. Die Tarifverträge seien daher in der Groß-Industrie technisch unmöglich, auch nicht erforderlich und ebenso zur Beseitigung einiger nicht zu leugnenden Missstände ungeeignet.

In einem dritten und letzten Abschnitt wird dann in einer sehr inhaltreichen, wenn auch räumlich nicht sehr umfangreichen Ausführung dargelegt, dass Tarif vertrage in den Großbetrieben der Maschinen- und Eisen-Industrie für diese Industrie weder wünschenswert noch zweckmäßig sind. Er klingt in der Ansicht aus, dass die Gewerkschaften durch festen Zusammenschluss der Arbeitgeber von der Unfruchtbarkeit ihrer Bestrebungen nach Einführung von Tarifverträgen überzeugt werden müssen, dass die Arbeiter ihren Arbeitgebern vertrauen und in ihnen ihre besten Freunde erblicken, die Arbeitgeber aber in ihren Arbeitern das wichtigste Glied ihres Unternehmens erblicken und ihrem berechtigten Wunsch nach Lohnerhöhung, gerechter Akkordberechnungsmethode und Arbeitszeitverkürzung, so viel es in ihrer Gewalt stehe, nicht gezwungen, sondern freiwillig entgegenkommen sollten. Erst dann werde auch in diesen Gewerben der so sehnsüchtig herbeigesehnte gewerbliche Frieden wieder einkehren ! — Dies ist gewiss ein sehr schöner und allgemein geteilter Wunsch; wird aber die Sozialdemokratie damit einverstanden sein? Diese will doch Unfrieden und den sozialen Staat, nicht eine die berechtigten Bestrebungen der Arbeiter berücksichtigende Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft.