Die Kehrseite der Arbeiterversicherung

Es kann nicht wundernehmen, dass eine so gewaltige und umfassende öffentliche Einrichtung, wie die deutsche Arbeiter-Zwangs-Versicherung ist, auch ihre Mängel hat, auch gewisse unerfreuliche Erscheinungen im öffentlichen Leben zeitigt. Denn wo Licht ist, ist auch Schatten. Für die Güte einer Sache ist es aber beweisgebend, dass das Licht, das sie verbreitet, größer ist als der Schatten, den sie wirft. In bezug auf die öffentliche Arbeiterversicherung Deutschlands wird die vorherrschende Meinung nun mit Recht dahin gehen, dass ihre Vorzüge ihre Nachteile überwiegen. Immerhin haben sich aber mehr größere Nachteile mit ihr verbunden gezeigt, als wegen der guten Sache wünschenswert und als — von den schon näher gekennzeichneten üblen Folgen für das Unternehmertum abgesehen — für die Arbeiterkreise förderlich ist. Den Hauptnachteil der Einrichtung wird man in dem zunehmenden Mangel an einer Selbstfürsorge und Selbsthilfe bei dem Arbeiter erblicken müssen. Er ist für alle Lagen des Lebens durch diese Versicherung versorgt, vielleicht nur notdürftig, aber doch für seine Verhältnisse ausreichend, obwohl er nur einen Teil der Kosten dieser Versicherung trägt, nämlich die der Krankenversicherung zu zwei Dritteln, die der Alters- und Invalidenversicherung noch nicht zur Hälfte — denn für den Reichszuschuss bezahlt er nichts — , die der Unfallversicherung gar nicht. Das letztere ist nun ohne Zweifel folgerichtig, denn die wirtschaftlichen Folgen eines Berufsunfalles des Arbeiters hat derjenige zu tragen, der den unfallverursachenden Betrieb unterhält. Und die Beseitigung der früheren Haftpflicht mit ihren Klagefolgen war ein dringendes sozialpolitisches Gebot. Anders steht es schon mit der Krankenversicherung und noch mehr mit der Invaliden- und Altersversicherung. Sie treten an die Stelle der eigenen Fürsorge des Arbeiters, der wie jeder Erwerbstätige naturgemäß dafür zu sorgen hat, dass er und seine Familie im Falle von Krankheit und Erwerbsunfähigkeit gegen Not geschützt seien.

Indem der Staat durch seine Gesetze und eigenen Leistungen dem Arbeiter diese natürlichen Pflichten zum guten Teil abnimmt, ihn anderseits aber zu bestimmten Aufwendungen für die bezeichneten Zwecke durch Beitragsleistung zwingt, vermindert er zweifellos die persönliche Freiheit des Arbeiters und beeinträchtigt er dessen wirtschaftliche Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit. Ja, das Gemeinwesen hat mit dieser Gängelung des selbstbestimmungsfähigen Arbeiters — der doch, mindestens im Reiche, das volle Wahlrecht besitzt — noch nicht genug. Es strebt auch die Arbeits-Versicherung in irgendeiner Form an. Sie ist zunächst von einigen größeren Städten Deutschlands als Arbeitslosenversicherung eingeführt worden und wird wesentlich auf Kosten dieser Städte, zum Teil unter Bevorzugung der Mitglieder sozialdemokratischer Gewerkschaften — Genter System — ausgeübt. Der in der deutschen Arbeiterversicherung von deren wohlmeinenden Urhebern zu verwirklichen gesuchte Gedanke, dass der Versicherte (wie die weiter unten anzuführende Schrift von Friedensburg sagt) durch seine eigene Leistung ein Recht miterwerben, auf diese Weise zum Gemeinsinn, zur Teilnahme am Staatsleben erzogen werden und lernen sollte, nicht auf fremde Hilfe zu vertrauen, vielmehr selbst für seine Zukunft zu sorgen, hat sich nur zum kleinsten Teil verwirklicht. In der Invaliden- und Altersversicherung hat der Reichstag die wohlerwogene Verpflichtung des Arbeitgebers, die Hälfte der Beiträge vom Versicherten einzubehalten, in eine Berechtigung umgewandelt. Die meisten Dienstherrschaften entrichten daher den vollen Beitrag zur Invalidenversicherung für ihre Dienstboten, für Stundenfrauen, Wäscherinnen und dergleichen, wodurch diese Kreise von Versicherten jedenfalls nicht zur eigenen Fürsorgetätigkeit und Mitwirkung am Staatsleben erzogen oder veranlasst werden.


Es liegt auf der Hand, dass die staatliche Fürsorge und Bevormundung auf die Charakterbildung des Arbeiters mit der Zeit einen entsprechenden Einfluss ausüben müssen. Einmal wird er einen unangemessen hohen Begriff von der Wichtigkeit seines Standes innerhalb des Gemeinwesens erhalten, wenn er wahrnimmt, wie umfassend man für ihn sorgt, und es wird dadurch der soziale Staat sorgsam vorbereitet. Zum andern Mal aber, und dies ist vielleicht das Näherliegende, wird der Arbeiter durch das Übermaß sozialer Fürsorge zur sorglosen Lebensführung, zum leichtsinnigen Wirtschaften verleitet, und es tritt an die Stelle der Tugenden des Sparsinns, der eigenen Fürsorge für das Alter der Hang zum sofortigen Genuss, zur Aufzehrung des ganzen Verdienstes. Die schönen Eigenschaften der Selbstverleugnung, der Verzichtleistung zugunsten der Familienangehörigen werden nicht mehr gepflegt und gefördert, denn „man hat es ja nicht nötig.“ In anderer Hinsicht bildet der Arbeiter diejenigen Geistes- und Wesenskräfte nicht aus, die auf Schaffung und Erhaltung möglichst vorteilhafter Daseinsbedingungen hinausgehen. Er verlernt, für sich selbst zu sorgen, er verlernt das Weiter streben, die Selbständigkeit der Entschließung in wirtschaftlichen Dingen und vor allem die Selbstverantwortung für sein und der Seinigen Schicksal. Dadurch muss unsere Arbeiterschaft an Entschließungskraft und Unternehmungsgeist hinter fremden Arbeitern, die solche Versicherungseinrichtungen nicht besitzen, zurückbleiben, was sich natürlich nicht gleich, wohl aber nach einem oder einigen Menschenaltern äußern wird. Damit gerät aber unser Wirtschaftsleben, auf dem die große Last der sozialen Versicherung ruht, besonders denjenigen Ländern gegenüber in Nachteil, mit denen es um den Absatz industrieller Erzeugnisse im In- oder Auslande zu wetteifern hat. Nimmt aber das Ausland, wie es in steigendem Maße der Fall ist, allgemein unsere Arbeiterversicherung an, so wird eben auf der ganzen Welt, wenigstens in allen Industriestaaten, der Arbeiter auf der einen Seite zu einer unverdienten Bedeutung im Staatsleben emporgehoben und auf der anderen Seite die Summe seiner persönlichen Eigenschaften in einer für die Entwicklung des Menschengeschlechts nachteiligen Weise herabgedrückt. Eins ist so schlimm wie das andere; ganz besonders wird durch die Herabminderung des Geistes- und Charakterstandes der Arbeiter das für die Erneuerung der Unternehmerschaft so wichtige Aufsteigen hervorragender Kräfte aus der Arbeiterschaft sehr eingeschränkt werden. Denn solches Emporkommen, das bis jetzt noch alle Tage beobachtet werden kann, setzt ungewöhnliche Charakterstärke und geistige Fähigkeiten, vor allen Dingen große Selbstüberwindung und Selbstverleugnung unter Beiseiteschiebung aller „sozialen“ Grundsätze voraus. Der Arbeiter der aufsteigen will, kann sich nicht mit dem 9 oder 10 stündigen Arbeitstag begnügen; er darf auch nicht sein Erwerbseinkommen ganz aufzehren oder vertun, sondern er muss sich vieles, ja fast alles versagen und in schwerer Berufs- und Bildungsarbeit und in hoher Selbstverleugnung Stufe um Stufe erklimmen. Das ist aber nicht Sache der nur sozial gerichteten Arbeiter, die den 8 stündigen Arbeitstag verlangen und noch dazu nach dem Ca-Canny(geh langsam voran) System arbeiten, und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, da die Gesellschaft, das Gemeinwesen, der Unternehmer ja für sie sorgen müssen.

Mit anderen unerwünschten Erscheinungen der Arbeiterversicherung beschäftigt sich in eingehender Weise ein Praktiker dieses Versicherungszweigs, der frühere Senats Vorsitzende im Reichsversicherungs-Amt, Herr Professor Dr. Ferdinand Friedensburg. Dieser hat in der Zeitschrift für Politik Band IV, Heft 2/3 eine längere, auch als erweiterter Sonderabdruck in Carl Heymanns Verlag erschienene Abhandlung „Die Praxis der deutschen Arbeiterversicherung“ veröffentlicht, die in eingehender und sachlich begründeter Weise die Fehler, die bei der Fassung der Gesetze und bei ihrer Handhabung gemacht sind, sowie den Mißbrauch schildert, der von seiten der Versicherten mit diesen Gesetzen zum Schaden des eigenen Charakters sowie zum Schaden der Arbeiterversicherung getrieben wird, endlich auch die Unterlassungen der Versicherungsträger, der Arbeitgeber in der Ausübung ihrer Pflichten und Rechte rügt. Die Schilderung des sachkundigen Verfassers, der sich in seinen Ausführungen von einem sehr hohen Rechtsgefühl beseelt zeigt, entrollen ein wahrhaft erschreckendes Bild von dem Stande und der Handhabung unserer Arbeiter Versicherung. Man kann nur wünschen, dass der Verfasser zu schwarz sähe, aber seine tatsächlichen Mitteilungen lassen einen Zweifel an der Richtigkeit seiner Beobachtungen und Schlüsse kaum zu. Jedenfalls erfordern die Fülle der von ihm gemachten Angaben und die Schlüssigkeit seiner daraus gezogenen Folgerungen die ernstlichste Beobachtung seiner Darlegungen seitens aller derjenigen, die den Lebensfragen des deutschen Volks die ihnen gebührende Beachtung schenken wollen.

Der erste Abschnitt der Schrift handelt von den Versicherungskörpern; dieses sind hauptsächlich die Organe der Arbeitgeber, die Berufsgenossenschaften, und die Landesversicherungs-Anstalten. Von den Krankenkassen spricht der Verfasser nur beiläufig, wie anzunehmen ist, deshalb, weil die Kosten dieser Versicherung größtenteils von den Versicherten selbst getragen werden und Rentenfestsetzungen für sie nicht in Frage kommen. Er bemängelt nun in diesem Abschnitt den unklugen Übereifer, den die Organe der Versicherung in der Zuerkennung von Unfall- und Altersrenten gleich beim Inkrafttreten der einschlägigen Gesetze bekundeten. Das den Versicherten bewilligte weitgehende Entgegenkommen in bezug auf Art und Umfang der Ansprüche, wie auch die Steigerung der Löhne haben die Lasten der Versicherung in stets zunehmendem Maße erhöht. Die Gesamtausgaben der Berufsgenossenschaften sind seit dem Jahre 1888 von 2,57 M auf einen Versicherten und 193,45 M auf einen angemeldeten Unfall auf 7,40 M für einen Versicherten und auf 303 M für einen Unfall im Jahre 1908 gestiegen. „Hiernach“, sagt Friedensburg, „gewinnt es den Anschein, als ob jetzt wirklich das Maß des Träglichen erreicht, wenn nicht schon überschritten ist.“ Der Verfasser weist dann auf das Drückende der Versicherungslast besonders für die mittleren und kleineren Arbeitgeber hin, und ferner auf den Nachteil, den diese Last der deutschen Industrie im Vergleich mit der davon nicht oder weniger betroffenen ausländischen verursacht. Schon ein Kaiserlicher Erlass vom 4. Februar 1890 hatte die Notwendigkeit, die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu erhalten, betont und diese Rücksichtnahme mit dem unbestreitbaren Satz begründet : „Der Rückgang der heimischen Betriebe durch Verlust ihres Absatzes im Auslande würde nicht nur die Unternehmer, sondern auch ihre Arbeiter brotlos machen.“ In neuerer Zeit haben die deutschen Industriellen über diese stets fest steigende Last — 2 Millionen Mark täglich — in zunehmendem Maße laute Klage geführt, so auch verschiedene vom Verfasser namhaft gemachte Handelskammern. (Hinzuzufügen ist hier, dass der Verein der Industriellen des Regierungsbezirks Köln im Laufe des vergangenen Winterhalbjahres durch einige vielbeachtete Druckschriften seines Geschäftsführers dieser Frage eine eingehende Würdigung unter Anführung einwandfreier Ziffern hat zuteil werden lassen, und dass, durch diese Darlegungen veranlasst, ein Mitglied der Handelskammer zu Aachen, hervorragendes Mitglied der Zentrumspartei, eine ähnliche Veröffentlichung bewirkt hat.) Friedensburg bezeichnet es weiter als eine betrübliche, aber unleugbare Tatsache, dass man von der Begeisterung, mit der man einst die neue Einrichtung begrüßte, nirgends mehr etwas verspüre. Wer es irgend könne, suche sich den Lasten der Versicherung zu entziehen; dies mache natürlich vermehrte und kostspielige Überwachungseinrichtungen nötig. Im Jahre 1908 haben die Landesversicherungsanstalten 268.177 M, die Berufsgenossenschaften 412.608 M an Strafgeldern erhoben. Dessenungeachtet sei die wirtschaftliche Lage der Versicherungsträger, insbesondere der Berufsgenossenschaften, keine so sichere, als man es wünschen müsse, daneben fehle es an Geneigtheit der Arbeitgeber zur Ausübung der ehrenamtlichen Tätigkeit in den Berufsgenossenschaften, zum Teil infolge Eingriffs der Aufsichtsbehörden in das Selbstverwaltungsrecht der Genossenschaften bei Zumessung der Entschädigungssummen. Die Folge davon ist eine starke Zunahme der Beamtenschaft und des Bureaukratismus in der Verwaltung. In der Krankenversicherung blieb die Selbstverwaltung am vollkommensten, aber sie wurde hier zu der bekannten missbräuchlichen Versorgung zielbewusster Genossen von der Sozialdemokratie missbraucht. Der Verfasser beleuchtet und rügt in diesem Abschnitt schließlich noch die allzugroße Freigebigkeit der Versicherungsträger bei dem Bau und der Unterhaltung von an sich gutzuheißenden Krankenhäusern und Genesungsheimen und macht darüber einige drastische Angaben. Luxusbauten brauchten solche Häuser ebensowenig zu sein, als die Dienstgebäude der Versicherungsträger Paläste. Auch gewöhnten sich die Insassen von solchen Genesungs- und Erholungsstätten leicht an eine Lebenshaltung, die sie in ihrem eigenen Heim nicht führen könnten. Ein solches Genesungsheim, das auf 500.000 M veranschlagt war, kostete tatsächlich 2.700.000 M; es enthält aber auch einen Saal, der den Thermen des Kaisers Caracalla in Rom nachgebildet ist, eine Kegelbahn, die 18.000 M kostet, und 4 Orchestrien, jedes zu 12.000 M. (!)

Ein anderer Abschnitt der Friedensburgschen Schrift beschäftigt sich mit den staatlichen Organen der Versicherung, insbesondere dem Reichsversicherungs-Amt, dem der Verfasser als Senatspräsident bis vor kurzem angehört hat. Dieses habe es an der durch die eigenen und öffentlichen Interessen den Versicherten gegenüber gebotenen Zurückhaltung ebenfalls mehr oder weniger fehlen lassen. Das löbliche Streben, die Versicherten durch wohlwollende Handhabung der Versicherungsgesetze für deren Anwendung; zu gewinnen, verleitete die Versicherten zu einer unangemessenen Inanspruchnahme des Reichsversicherungs-Amts unter Ausschaltung der Zwischeninstanzen. Von 304 Stück im Jahre 1887 wuchs die Zahl solcher Gesuche auf 3.303 im Jahre 1909. Das Reichsversicherungs-Amt erntete so die Früchte seines humanen Grundsatzes, ,,den Arbeitern die starke Hand zu leihen“ in einer Vielschreiberei, in einem Übermaß von Arbeit, das durch solche Anträge verursacht wird. Dazu würden die Rechtsmittel der Versicherten durch weitestgehende Auskunftserteilung geradezu künstlich vermehrt, so dass im Jahre 1909 allein 18,9 % der berufsgenossenschaftlichen Entscheide und 27,74 % der Schiedsgerichtsurteile angefochten wurden. Bei den Landesversicherungs-Anstalten bestehen nicht viel günstigere Verhältnisse. Alle diese Zahlen haben noch immer eine Neigung zum Steigen, obgleich die öffentliche Versicherung ins Leben gerufen wurde, um die Haftpflichtstreitigkeiten zu beseitigen. Durch den vom Reichsversicherungs-Amt aufgestellten Grundsatz, dass die Berufsgenossenschaften einen bereits rechtskräftig abgewiesenen Anspruch einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen berechtigt seien, wurde die Rechtssicherheit beeinträchtigt, zumal aus dem ,,Recht“ der Berufsgenossenschaft unter dem Druck der starken Hand des Reichsversicherungs-Amts bald eine „Pflicht“ wurde. Dabei werde der große allgemeine Gesichtspunkt des Gesetzgebers, die Erbitterung durch den Streit um die Rente zu vermeiden, auch hier Mieder allseits vergessen. Auch werde die Rechtsprechung durch das vorwiegende Bestreben der Richter, helfen zu wollen, erheblich beeinträchtigt. Über dieses Gebiet der Arbeiterversicherung macht der Verfasser verschiedentlich ziffermäßige Angaben und knüpft daran weitere Urteile über die Rechtsprechung des Reichsversicherungs-Amts, die keineswegs günstig für diese lauten. „Juristische Gedanken und Gründe“, sagt er z. B. in dieser Beziehung, „sind im Reichsversicherungs-Amt unbeliebt; die feinste Rechtsausführung unterliegt glatt vor dem Einwurf, sie sei nichtsozial, und ist allenfalls gut genug, eine vom Wohlwollen eingegebene Entscheidung nach außen zu rechtfertigen.“ Eingehender wird neben dieser Seite der Sache die Zuerkennung von möglichst hohen Renten für die erlittenen Unfälle geschildert, um zu zeigen, wie es gelungen sei, die wohltätigen Absichten des Gesetzgebers immer und überall noch zu überbieten. Die den Versicherten zugebilligte völlige Kosten- und Gebührenfreiheit für die Verfolgung ihrer Rechtsansprüche hat ganz ungeheuerliche Zustände geschaffen. Das Gesetz von 1900, das die Kosten mutwilliger Verfolgung eines aussichtslosen Rechtsanspruches den Parteien aufzuerlegen gestattet, kommt den Berufsgenossenschaften so gut wie gar nicht, wohl aber den Versicherten zustatten.

Den Schiedsgerichten wird zum Vorwurf gemacht, dass sie, die nur allzuhäufig von jungen Assessoren geleitet seien, sich nicht gegen eine bedenkliche Ausdehnung der Wohltaten der Versicherung gewehrt hätten. Der Mangel an sachkundiger Leitung der Schiedsgerichte sei ein großer Schaden, der die Berufsgenossenschaften zu häufiger Anwendung des Rechtsmittels des Rekurses bestimme.

Der nächste Abschnitt handelt von den Versicherten. Was er von diesen zu sagen weiß, gelangt zu bezeichnendem Ausdruck in dem Satz: ,,...., und es ist für den, der in seinem Volke nicht bloß die Masse sucht und sieht, eine tief schmerzliche Erfahrung, dass die Versicherung geradezu zu einer allgemeinen Entäußerung und Entsittlichung geführt hat.“ Diese betrübende Erkenntnis begründet Friedensburg durch Schilderung der Mittel und Wege, die von den Versicherten vielfach angewandt werden, um eine angemessene Entschädigung zu erlangen. Er beruft sich dabei auch auf andere Schriftsteller, wie C. Müller in Band 7 der Zeitschrift für Versicherungswissenschaft, und führt eine größere Anzahl von Beispielen für die Rentenlüge und die Rentenerschleichung an, wobei auch auf gewisse Volksanwälte, die sich die Vertretung von Versicherungsansprüchen zum Beruf machen, ein bezeichnendes Streiflicht fällt. Der Verfasser, dem doch die Kenntnis der Dinge nicht abgesprochen werden kann, führt unter anderem aus, „wie die Versicherten sich bemühen, die letzten Riegel, die der Anerkennung ihrer Ansprüche entgegenstehen, auf dem Wege der — man kann es leider nicht anders sagen — Lüge zu beseitigen“. Er schildert die Stufenleiter der verschiedensten Bemühungen der Verletzten, ihren Zustand der Rentenzahlung günstig zu erhalten. Künstliche Gliedmaßen u. dgl. werden nicht benutzt oder gar absichtlich verdorben; alles, was jemand an Krankheiten und Schäden besitzt, wird mit dem Unfall in Zusammenhang zu bringen gesucht, die geringsten Schäden werden mit äußerster Beharrlichkeit geltend gemacht. Erschreckend viele Verletzte wollen gar nicht geheilt werden, sondern sich mit Hilfe gefälliger Ärzte auf Kosten des Versicherungsträgers gütlich tun, während doch gerade die Wiederherstellung der Gesundheit das höchste Ziel sein muss, dem auch die weitgehende gesetzliche Befugnis der Berufsgenossenschaften und Versicherungsanstalten zur Heilbehandlung entspringt. Wie wenig begründet die Einsprüche der Verletzten gegen die Entscheidungen der Organe der Versicherungsträger zu sein pflegen, erhellt aus der Tatsache, dass im Jahre 1909 von den Rekursen der ersteren nur 16,7 %, von ihren Revisionen nur 10,5 % Erfolg hatten.

Zweifellos ist der Abschnitt von den Versicherten in sozialpolitischer Hinsicht der wichtigste von Friedensburgs gesamten Ausführungen. Denn er zeigt die Wirkung der Versicherungsgesetzgebung auf das Volk. Diesem oder der Masse der Wählerschaft einen Spiegel vor das Gesicht zu halten, wagen natürlich nur mutige und unabhängige Männer. Um so verdienstlicher ist aber das unbekümmerte Vorgehen des Verfassers, dessen Aktivlegitimation zu seiner Behandlung dieses heiklen Themas mit Fug und Recht niemand wird bestreiten können. Man muss jedenfalls aus seiner eindrucksvollen Schilderung den Schluss ziehen, dass der Volkscharakter auch in bezug auf Treu und Redlichkeit durch die Arbeiterversicherung sicherlich keine Verbesserung und Stärkung erfahren hat, sondern dass auch in dieser Hinsicht die Kehrseite der Medaille ein recht unerfreuliches Bild zeigt.