Die Erhöhung der Lebensansprüche durch die Sozialpolitik

In welchem Maße die Sozialpolitik und die dieser zugrunde liegenden sozialpolitischen Anschauungen der jetzigen Zeit auch weitere Kreise des Volkes ergriffen haben und durchsetzen, kann jeder aufmerksame Beobachter auf allen Gebieten des Lebens unschwer beobachten. Die Ansprüche an das Leben sind gewaltig gestiegen, die Genuss- und Vergnügungssucht im Volke ist ungeheuer groß geworden. Hiervon sind die besitzenden Klassen keineswegs ausgeschlossen, ja man muss gewissen Bestandteilen dieser Kreise den Vorwurf machen, dass sie durch prahlerischen und förmlich aufreizenden Luxus zu dieser sehr beklagenswerten Änderung in unserem Volkstum erheblich beigetragen haben. Immerhin ist das keine Entschuldigung für die große Masse, die, wie jeder gesittete Mensch, die Pflicht hat, mit ihren Mitteln hauszuhalten und sich nach der Decke zu strecken. Durch Anspannung aller Kräfte auf den verschiedenen Gebieten des Lebens, durch angestrengte Gütererzeugung, Sparsamkeit, Entsagung und Selbstüberwindung, durch alle solche Bürgertugenden allein kann ein Volk groß, ein Staat stark werden. Leider haben wir in dieser Beziehung unter und mit unserer herrschenden Sozialpolitik seit unserer nationalen Einigung und wirtschaftlichen Entwicklung nur Rückschritte, keine Fortschritte gemacht. Die vermehrte Gütererzeugung hat nicht in dem Maße, wie es sein sollte, zur Vermehrung des Besitzes, sondern in zu hohem Grade zur Vermehrung der Bedürfnisse, zur Steigerung der Lebensansprüche geführt. Dies gilt nicht nur vom Handarbeiter, sondern auch vom kleinen und mittleren Bürgertum, das es den besitzenden Klassen in Nahrung, Kleidung, Wohnung und Vergnügen vielfach gleich tun will, wodurch notwendigerweise Unebenheiten in seinem Wirtschaftsleben, schiefe Ansichten und schließlich Missvergnügen entstehen. Die Zufriedenheit, das höchste Gut des Menschen, wird von den Führern der Arbeiterbewegung grundsätzlich zerstört, um sich eine tatbereite Gefolgschaft zu sichern. In den Kreisen des Bürgertums vollzieht sich ein ähnlicher Vorgang durch die Einflüsse der sozialpolitischen Bestrebungen und der verhetzenden sozialdemokratischen Tätigkeit. Und besonders beklagenswert ist diese Erscheinung in dem unteren Beamtentum, das allerdings, weil auf ein festes Einkommen angewiesen und von einer Fortbildung zu höheren Rang- und Gehaltsstufen, also von einer erheblichen Erhöhung seines Einkommens, ausgeschlossen, von der Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse mit am stärksten betroffen wird, aber auch vielfach seinerseits seine Ansprüche an das Leben öfter ohne Not über Gebühr steigert, zudem durch die allgemeine Gehaltserhöhung der jüngsten Zeit einen Entgelt für die Teuerung erhalten hat.

An einem dem Verfasser aus persönlicher Anschauung und Erfahrung genau bekannten Beispiel möge dargetan werden, wie wenigstens früher und auch heute ein kleiner Beamter mit zahlreicher Familie bei streng wirtschaftlicher Lebensführung bestehen und seine große Kinderschar gut erziehen und angemessenen Berufen zuführen konnte, allerdings unter gänzlicher Verzichtleistung auf diejenigen Lebensgenüsse, die heutzutage jeder Fabrikarbeiter fast für unumgänglich nötig hält.


Ort der Handlung ist ein 4 Meilen von Berlin entferntes Dorf, Gegenstand der Schilderung die Lehrerfamilie, die daselbst lange Zeit, bis Mitte der 80 er Jahre des vorigen Jahrhunderts, ansässig war. Gemäß dem sprichwörtlichen Kinderreichtum der Prediger- und Lehrerfamilien zählte sie im ganzen 14 Kinder, von denen 9 im Alter von 65 Jahren abwärts heute noch am Leben sind. Alle diese Kinder wurden in einer Wohnung geboren und erzogen, die aus zwei größeren und einem kleineren Zimmer — in den ersten 5 — 6 Jahren der Ehe des Elternpaares sogar nur aus einem Zimmer und einem Alkoven — , Küche und Mädchenkammer bestand. Diese selbe Wohnung genügte einem der verschiedenen Amtsnachfolger des 1886 oder 1887 aus dem Dienste geschiedenen Lehrers nicht, obgleich er ledig war und nur seine ebenfalls ledige Schwester bei sich hatte! In dem Maße sind inzwischen die Ansprüche auch in diesem Stande gestiegen, dem man sonst eine große Bescheidenheit in der Lebensführung bei Bekundung einer idealen Gesinnung nachrühmte. Ähnlicherweise sind natürlich auch die Gehaltsansprüche gestiegen, anderseits aber auch — zum Teil gewiss unnötigerweise — die Kosten der Ausbildung der Lehrer. Früher wurden die Seminaristen durch Elementarlehrer in ihrem Heimatort vorbereitet; jetzt müssen sie auf die Präparandenanstalt. Früher diente der Lehrer 6 Wochen mit der Waffe, jetzt kann und will er als Einjährig-Freiwilliger dienen. Dabei hat die Volksschule vor 50 Jahren auch schon das Notwendige für die Unterrichtung und Erziehung der Kinder des Volkes geleistet. Und das Vorbild, der Lebenswandel des Lehrers war für die Dorfbewohner von viel maßgebenderer sittlicher Bedeutung, als die etwaige Erhöhung des schulmäßigen Wissens der Schulkinder es sein kann.

Nun zu der Lehrerfamilie selbst zurück, um zu zeigen, dass diese in ihren beschränkten äußeren Verhältnissen ohne Sozialpolitik, die es damals nach heutigen Begriffen — mindestens für diese Kreise des Volkes — noch nicht gab, glücklich und zufrieden lebte.

Dieses Glück war nun kein solches, wie es sich heute die Mehrzahl der jugendlichen Volksangehörigen, besonders der Städter vorstellt. Es war ganz anderer Art und beruhte in den einfachsten, aber in den edelsten Genüssen des Lebens, in herzlicher Liebe der Eltern zu den Kindern und umgekehrt, in treuer Arbeit und strenger Pflichterfüllung aller Familienmitglieder und in deren Empfänglichkeit für ideale Ziele, die die Eltern als kostbares Erbteil ihren Kindern vermacht hatten. Gute Bücher, Musik, Naturgenuss und angemessene Religionsübung, häufiger und herzlicher Verkehr mit den zahlreichen ortsansässigen Verwandten, Briefwechsel mit den nicht minder zahlreichen auswärtigen Verwandten und gelegentlicher wechselseitiger Besuch bei diesen oder bei der Lehrerfamilie (mittels der landesüblichen Leiterwagen) und die Feier der Hochzeiten, Kindtaufen und hohen kirchlichen Feste bildeten den Schmuck deren einfachen Lebens. Für Putz, Leckereien, Bier- und Weingenuss war in dessen Rahmen natürlich kein Raum, desto mehr für Arbeit innerhalb und außerhalb des Hauses. Und für die Kinder fehlte es dabei nie an der für die Erholung und Betätigung der Jugendfreude nötigen Zeit. Das berufliche Einkommen des Lehrers bestand großenteils in Naturalien, seine baren Einkünfte waren dagegen sehr gering. Die Stelle war zwar als eine der besten mit 300 Talern jährlich veranschlagt, aber, und zwar meist zum Glück und Vorteil des Inhabers, bestand der größte Teil dieses Einkommens aus den erwähnten Naturalleistungen und Naturalnutzungen. Mit der Schulstelle war ein Ackerbesitz von einigen Morgen Land nebst einem richtigen Gehöft verbunden. Da die Schule im Sommer für die „erste Klasse“ (Schüler von 10 — 14 Jahren) nur zwei Stunden von 6 — 8 Uhr dauerte, konnten die größeren Kinder der Lehrerfamilie einen guten Teil des Tages in der Landwirtschaft tätig sein, was ihnen übrigens gar nicht zum Schaden gereichte, obgleich sie tüchtig arbeiten mussten. Für Turnen und Sport brauchte dafür nicht gesorgt zu werden; denn an deren Stelle stand die mannigfaltige Landarbeit. Die Schularbeiten wurden in der Mittagszeit gemacht; nachmittags ging es wieder aufs Feld. Im Winter bot die Zubereitung des Viehfutters und das Zerkleinern des Holzes genügend Gelegenheit zur würdigen Ausfüllung der freien Zeit der älteren Kinder, aber es blieb letzteren immerhin noch Muße zur Erholung und zur Vorbereitung auf ihren späteren Beruf. Auf diese Weise wurde es dem Inhaber der 300-Taler-Stelle möglich, seine große Familie standesgemäß zu unterhalten und die Kinder gut zu erziehen. Allerdings waren die Ausgaben und die Lebensführung nur auf das dringend Nötige beschränkt.

Die Nahrung war äußerst einfach und billig. Die trotz alledem ausreichende und gute Ernährung in diesem Dorflehrerhause, bei der die Kinder gesund, stark und groß wurden, war nur möglich auf Grund der dabei obwaltenden größten Einfachheit und Wirtschaftlichkeit. Aber jede entbehrliche Ausgabe musste selbstverständlich vermieden, jeder Groschen dreimal umgedreht werden. Das hat den Eltern dieser Kinderschar gewiss oft schwere Sorgen gemacht; aber die Kinder haben davon nicht viel gespürt und waren so glücklich und froh, als die bestgenährten und verwöhntesten Kinder es nur sein können. Von sozialdemokratischer Verbitterung, von Staats- und gesellschaftsfeindlicher Gesinnung keine Spur! Vergnügen, das Geld kostete, gab es natürlich nicht. Zum Jahrmarkt erhielt man, wenn es gut ging, einen Sechser (heute 5 Pf.). Den in der Tasche besah man sich alle Herrlichkeiten der verlockenden Schaubuden und kaufte schließlich dafür ein Päckchen gewöhnlicher Pfefferkuchen (Mehlweißchen hießen sie, wenn ich mich nicht irre). Bier war eine große Seltenheit im Hause, Wein kam darin überhaupt nicht vor. Ein Weißbrötchen (Semmel) war ein Ereignis in dem Lehrerhause, obwohl die Semmelfrau wöchentlich einige Male aus dem nahen Städtchen kam. Schaustellungen irgendwelcher Art bekam man nie zu sehen, allenfalls gab's mal ein Karussell. Volksfeste kannte man auch kaum. Nur Königs Geburtstag wurde von der Schule gefeiert. Im übrigen waren die drei großen christlichen Feste die Feiertage des Dorfes.

Und auf diesem sozialen Grund und Boden ist ein glückliches und zufriedenes Geschlecht erwachsen, das dem Staat und der Gesellschaft nicht zur Unehre gereicht, und das im Lebenskampfe früh gestählt und ganz auf die eigene Kraft gestellt worden ist, vom Staat und von der Gesellschaft nichts verlangt hat noch verlangt, wohl aber an seinem Teile durch Gesinnung und berufliche wie auch patriotische und gemeinnützige Tätigkeit dazu beiträgt, dass das Gemeinwesen gesund und kräftig erhalten wird. Nur wenig konnte an höherer Schuldbildung für die Kinder getan werden, aber die damalige Volksschule gab ihnen, was leider die heutige gehobene Bildung des Volks diesem vielfach nicht zu vermitteln imstande ist: Grundsätze, Charakter, Anspruchslosigkeit, Zufriedenheit, Frohsinn.

Zweifellos gibt es solcher Familien in deutschen Landen, besonders im Stande der kleinen Beamten, die es sich oft sehr sauer werden lassen, ihre Kinder vorwärts zu bringen, auch heute noch viele, die mit wenigem sich bescheiden und dabei glücklich sind. Namhafte Staatsmänner, Akademiker, Kaufleute und Fabrikanten sind aus solchen Familien hervorgegangen. Aber die vorherrschende sozialpolitische Richtung macht immer mehr Unzufriedene und ruft immer stärkere Begehrlichkeit hervor, weist den Unbemittelten immer dringlicher auf die Staatsfürsorge hin, so dass tatsächlich große Gefahr besteht, dass unser Volk an seinen bürgerlichen Tugenden eine nicht wieder gut zu machende Einbuße erleidet. „Selbst ist der Mann!“ So hieß es früher. „Selbst sollte er sein,“ muss man heute leider sagen. Auch dieses hier nur kurz gefasste Kapitel gehört zu denjenigen von den Mängeln unserer Sozialpolitik und verdient daher die eingehendste Beachtung jedes wahren Volksfreundes, jedes berufenen Politikers und Staatsmannes!