Zweite Fortsetzung

Einige Details mögen die Erweiterungen, welche die ursprüngliche Erzählung Lesurs erfahren hat, illustrieren.

Diejenigen unserer Leser, deren Gedächtnis bis zur Epoche der Juli-Revolution hinaufreicht, werden sich noch vielleicht des ungewöhnlichen Erfolges erinnern, welchen das Drama „la Tour de Nesle“ im Theater de la Porte Saint-Martin erzielte; der ersten Aufführung folgten in ununterbrochener Reihenfolge hundert Wiederholungen. Das Stück hatte zwei Verfasser: den schon damals berühmten Alexander Dumas und einen obskuren Literaten, Gaillardet, welcher, bis dahin unbekannt, bald nach dem Erscheinen der „Tour de Nesle“ schon wieder vergessen wurde. Die Frage nach der Autorschaft des Dramas veranlasste lebhafte Debatten, einen Prozess, ja sogar ein Duell zwischen den beiden genannten Personen, jedoch ist es wohl als erwiesen zu betrachten, dass von Dumas die Ausarbeitung des Stückes herrührte und dass Gaillardet die Fabel desselben erfunden hat.


Derselbe Gaillardet ist es, welcher es zuerst unternahm, die historische Mythe, die uns beschäftigt, weiter zu entwickeln und zu erweitern.

Ritter d'Eon, diese am Schlusse ihrer diplomatischen und militärischen Karriere in ein Frauenzimmer verwandelte problematische Persönlichkeit — welch' ein verlockender Gegenstand für einen Schriftsteller, der für seine Erfolge so Grausen erregenden Bilder gebrauchte, wie sie die „Tour de Nesle“ aufweist!

Trotz ihres Titels, und trotz Allem, was Gaillardet in der Vorrede zu seinen „Mémoires du Chevalier d'Eon“ sagt, sind sie doch nichts weiter als ein mit ebenso kühnen, als unwahrscheinlichen Erfindungen angefüllter Roman, und um diesen Ausspruch zu begründen, führen wir hier den Ausspruch eines kompetenten Richters, eines echten Historikers, des Hrn. Loménie an. „In diesem Buche“, sagt Loménie, „lässt sich Alles auf sehr gewagte Behauptungen und sehr zweifelhafte Folgerungen zurückführen, und die Begleitung, in welcher sie auftreten, die Erzählungen, Bilder und Dialoge, deren Ursprung in der Phantasie zu suchen ist, geben diesem Werke den Charakter eines Romans und entkleiden es einer jeden Autorität“.

Sehen wir nun zu, welche Rolle das Testament Peters des Großen in einem so beschaffenen Buche spielt.

Es ist bekannt, dass Ritter d'Eon als junger Mann einige Jahre als Gesandtschafts-Sekretär in Russland zubrachte; Gaillardet lässt ihn daher auch am Hofe Elisabeths als Helden zahlreicher galanter Abenteuer auftreten, welche von aufregenden und romanhaften Vorfällen begleitet sind. Für einen Roman wäre damit des Guten genug geschehen; aber da Gaillardets Buch auf die Bedeutung von historischen Memoiren Anspruch machte, so mussten einige neue und pikante Details über die diplomatische Karriere des Helden gegeben werden, und es war ein glücklicher Griff des Verfassers, wenn er ihn das Testament Peters des Großen nach Frankreich bringen lässt.

Gaillardet erzählt das so: „Gleichzeitig mit dem Akt über den Beitritt Elisabeths zum Versailler Traktat überbrachte Ritter d'Eon ein kostbares Dokument, welches er, Dank dem unbegrenzten Zutrauen, dessen er sich erfreute, und Dank seinen durch nichts behinderten Forschungen in den geheimsten Archiven der Zaren aufgefunden hatte. Dieses Dokument, von welchem seit der Zeit die ganze Welt gesprochen hat, dessen Existenz wohl bekannt war, ohne dass irgend Jemand es besessen oder mitgeteilt hätte, wurde 1757 vom Ritter d'Eon, nebst einer speziellen Arbeit über Russland, konfidentiell in die Hände des Ministers für äußere Angelegenheiten, Abbé de Bernis, und in die Louis XV selbst gelegt. Es enthält eine wörtliche und treue Kopie des von Peter dem Großen seinen Nachkommen und Nachfolgern auf dem Moskowischen Throne hinterlassenen Testaments.“

Hier findet sich zum ersten Mal die charakteristische Bezeichnung: „Testament du Pierre le Grand“, und seitdem hat man sie für jenes sogenannte Dokument beibehalten, welches zuerst in der Marginal-Note des Lesur'schen Buches auftauchte. Übrigens gibt sich Gaillardet den Anschein, das Buch nicht zu kennen.

Wenn man sich des Umstandes erinnert, dass zu jener Zeit schon eine ganze Menge von Pamphleten unter dem Namen politischer Testamente existierten, wie das Testament Richelieus, die Testamente Colberts, Louvois, Vaubans, Alberonis, des Herzogs von Belle-Isle u. A., so ist es begreiflich, dass Gaillardet eine Bezeichnung zu finden bestrebt war, welche Lesur dem von ihm publizierten Schriftstücke nicht gegeben, die aber doch in Etwas durch Lesurs Worte gestützt werden kann, wenn dieser von „Projekten Peters des Großen“ spricht, „welche derselbe der besonderen Aufmerksamkeit seiner Nachfolger empfohlen hätte“.

Die Bezeichnung „testament“ war eine schlimme Vorbedeutung für die Publikation Gaillardets, denn alle andern sogenannten politischen Testamente hatten sich bereits als apokryph erwiesen. Doch lassen wir den neuen Titel, welchen Gaillardet der Lesur'schen Arbeit verliehen hatte und wenden wir uns lieber der Untersuchung der Frage zu, in wie weit jenes „unbegrenzte Zutrauen“ (intimité sans bornes), welches Ritter d’Eon am russischen Hofe genossen haben soll, und die „durch nichts behinderten Forschungen“ (investigations sans contrôle), welche derselbe in den geheimsten Archiven auszuführen Gelegenheit gehabt habe, — als glaubwürdig erscheinen.

Selbst auf die Gefahr hin, von dem Hauptgegenstand unserer Arbeit weit abzuschweifen, halten wir es doch für geboten, etwas näher auf die Rolle einzugehen, welche Ritter d'Eon in Russland gespielt, und sie mit der ihm von Gaillardet zuerteilten zu vergleichen*).

Bekanntlich entstanden im Jahre 1743 zwischen dem französischen Gesandten Marquis de la Chétardie und der Kaiserin Elisabeth so bedeutende Misshelligkeiten, dass ihm seine Pässe übersandt und die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich abgebrochen wurden. Erst 13 Jahre später, im Jahre 1756, dachte man am Hofe zu Versailles ernstlich daran, das verlorene Terrain wieder zu gewinnen und gegenüber dem in St. Petersburg mächtig gewordenen englischen Einfluss den eigenen geltend zu machen. Die Sache war nicht so leicht, denn man wollte keine formellen Schritte riskieren, ohne sich den Erfolg im Voraus gesichert zu haben. Um zu rekognoszieren und die alten Beziehungen wieder anzuknüpfen, war man genötigt, nicht-offizielle Persönlichkeiten, geheime Agenten als einfache Reisende nach Russland zu entsenden.

*) Als Quellen sind folgende Werke benutzt worden:
1) La vie militaire, politique et privée de Mademoiselle Charles-Genevieve-Louise- Auguste-Andrée-Timothée d’ Eon de Beaumont, connue jusqu’en 1777 sous le nom du Chevalier d’Eon, par M. de la Fortelle. Paris. 1779. — Diese Biographie, an welcher Ritter d’Eon selbst mitgearbeitet hat und auf welcher der Roman Gaillardet's hauptsächlich basiert, hat gleichfalls etwas Romanhaftes an sich, insofern, als bis zum Schluss die Behauptung von dem weiblichen Geschlecht des Helden aufrecht erhalten wird. Abgesehen von diesem Umstande und einer gewissen Ruhmredigkeit, welche sich in Bezug auf die Verdienste der „chevalière“ breit macht, ist das Buch doch eine historische Quelle, aus welcher wir einige Beweise gegen die Behauptungen Gaillardets zu schöpfen nicht Anstand nehmen.
2) Lettres, mémoires et négociations particulières du Chevalier d’Eon, Londres, 1764. (Ein Prachthand in 4°, welcher 1765 aufs Neue in 12° gedruckt wurde.) — Dieses Pamphlet Ritter d'Eons, heftig und erregt niedergeschrieben bei Gelegenheit seines Streites mit dem Grafen de Guerchy, welcher mit der verhängnisvollen Katastrophe eines Geschlechtswechsels sein Ende erreichte, enthält im dritten Teil eine kurze Selbstbiographie und eine Anzahl von ihm selbst an seine eigene Person gerichteter Briefe, deren mehrere sich auf den Aufenthalt in Russland beziehen.
3) Voyage à Petersbourg, ou nouveaux mémoires sur la Russie, par M. de la Messelière; Paris, 1803. — Der achtungswerte und glaubwürdige Autor dieser Memoiren befand sich bei der Gesandtschaft, welche 1757, mit dem Marquis de l’Hôpital an der Spitze, nach St. Petersburg geschickt wurde. De la Messelière traf hier den Ritter d’Eon und brachte mit ihm noch zwei Jahre in Russland zu. Eine neue Auflage dieses Werkes ist in Poitiers, im Jahre 1857, erschienen.