Vierte Fortsetzung

Um mit Sicherheit zu bestimmen, wie es sich mit der ganzen Sache verhält, müsste man die Archive des französischen Ministeriums der äußeren Angelegenheiten und das in Moskau befindliche russische Reichsarchiv eingehend durchforschen können. Da uns das versagt war, so ist es schwer, das eventuelle Resultat einer solchen Untersuchung näher zu bezeichnen, jedenfalls können wir aber mit Bestimmtheit behaupten, dass sich keine Bestätigung des Gaillardet’schen Romans daraus ergeben würde. Das stellt unsere Untersuchung der gedruckten Materialien als ein unwiderlegbares Faktum in absoluter Weise fest.

Kehren wir vom Ritter d'Eon wieder zu unsern Dokument zurück, welches er aus Russland heimgebracht haben soll. In mehreren Punkten stimmt es nicht mit dem von Lesur veröffentlichten überein.


Letzterer bringt nur ein „Resumé“, ohne selbst die Quelle anzugeben, während Gaillardet im Besitz des originalen Textes zu sein behauptet und aus diesem Grunde auch viel umständlicher sein muss. In der Tat versucht er den Styl eines offiziellen Aktenstückes zu kopieren und beginnt mit den üblichen Worten: „Im Namen der allerheiligsten und unteilbaren Dreieinigkeit, Wir, Peter, Kaiser und Selbstherrscher aller Reussen, allen Unseren Nachkommen und Nachfolgern auf dem Throne und in der Regierung der russischen Nation u. s. w.“ Daran schließt sich eine Seite einleitender Betrachtungen, welche Lesur unbekannt waren, worauf seine 14 Artikel, mit einzelnen Varianten, sowohl in Bezug auf Inhalt als Form, folgen.

Diese Varianten sind übrigens nur in den ersten 12 Artikeln bemerkenswert, in den beiden letzten, wo von der Europa drohenden Katastrophe einer russischen Weltherrschaft gesprochen wird, ist fast nichts geändert worden. Sowohl in dem Text- welchen Gaillardet zu veröffentlichen behauptet, als auch in dem Résumé, welches Lesur gibt, findet sich der Ausdruck „hordes asiatiques“, dessen sich Peter der Große zur Bezeichnung der zukünftigen Heere seines Landes bedient haben soll. Was die Varianten betrifft, welche Gaillardet in den ersten Artikeln angebracht hat, so sind sie nicht so wichtig, als dass eine eingehende Analyse derselben von Interesse sein dürfte; unsere Leser können sich darüber durch den Vergleich der beiden Lesarten, welche wir als Beilagen abdrucken, selbst ein Urteil bilden. Was uns in den von Gaillardet vorgenommenen Erweiterungen besonders ungeschickt erscheint, ist die seinem angeblichen „Dokument“ an die Spitze gestellte Behauptung: es sei in den Archiven des Schlosses Peterhof, in der Nähe von St. Petersburgs niedergelegt worden. Niemals hat es in dieser Kaiserlichen Sommerresidenz politische Archive gegeben. Dieses eine Faktum genügt, um das ganze Gewebe des kühnen Romanschreibers zu zerreißen.

Um mit Gaillardet zu Ende zu kommen, erübrigt uns nur noch eine Erklärung darüber, wie er überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, das angebliche Lesur’sche Dokument in den Memoiren des Ritters d’Eon figurieren zu lassen.

In der schon zitierten, von de la Fortelle veröffentlichten Biographie jener Persönlichkeit wird erwähnt, Ritter d'Eon hätte, nach seiner Rückkehr aus Russland, im Jahre 1757, dem Kriegsminister, Marschall de Belle-Isle, und dem Minister der äußeren Angelegenheiten, Abbé de Bernis, sehr instruktive Memoiren über Russland vorgelegt, „Diese Memoiren“, fügt de la Fortelle hinzu, „gaben ein vorzügliches Bild von dem gegenwärtigen Zustande Russlands und ließen dasjenige seiner Zukunft wie in einer Perspektive erkennen.“

Es ist wohl anzunehmen, dass man auf Grund dieses Umstandes dem Ritter d'Eon die Ehre zuerkannt hat, jenen Plan einer Weltherrschaft kopiert und nach Frankreich gebracht zu haben — einen Plan, welchen man seit Lesur schon kannte, der aber indessen nichts gemein hat mit den „mémoires instructifs“, deren in der zeitgenössischen Biographie des bekannten Ritters Erwähnung geschieht.

Was de la Fortelle selbst unter denjenigen Dingen verstand, deren einstmalige Verwirklichung Ritter d'Eon hätte „in der Perspektive erkennen lassen“, das ergibt sich aus einer Stelle seines Buches, welche dartut, dass die politischen Prophezeiungen des Ritters sich auf die Teilung Polens bezogen. Auch hier fühlt man sich versucht, an ein vaticiniuni post cventum zu glauben, indem die erste Teilung Polens schon 1772 stattfand, das Werk de la Fortelles aber erst aus dem Jahre 1779 datiert. Übrigens beabsichtigen wir keineswegs die Scharfsichtigkeit des Ritters d'Eon irgendwie anzuzweifeln; es liegt herzlich wenig daran, ob er die Teilung Polens vorhergesehen oder nicht; wir haben nur zu konstatieren, dass Gaillardet der Prophezeiung einer Zerstückelung Polens die von einer künftigen Eroberung Europas substituiert, eine Version, welche dem ersten Panegyriker des Ritters d'Eon absolut fern lag.

Wir fürchten fast, dass die Details, auf welche einzugehen unsere Abschweifung uns nötigte, etwas zu lang und kleinlich erschienen sein mögen; wir hatten aber der Analyse eines so unbedeutenden literarischen Machwerks, als es das Buch Gaillardets ist, gewiss nicht so viel Raum zugestanden, wenn nicht jener Ausgeburt der Phantasie mit so unglaublichem Leichtsinn eine gewisse historische Bedeutung beigemessen worden wäre. Anstatt jenes Buch als einen Roman zu betrachten, welcher den Erfolg einer Kuriosität oder gar eines Skandals beabsichtigte, hat man sich durch Vorspiegelungen über Forschungen in Archiven und in Familienpapieren des Ritters d'Eon so weit täuschen lassen, dass die Vorfälle und Erzählungen, welche Gaillardet über den Helden seines Romans bringt, als eben so viel wahrhafte Tatsachen angenommen worden zu sein scheinen. So wird, um nur ein Beispiel anzuführen, in der unter Dr. Hoefers Leitung von Firmin Didot veröffentlichten „Nouvelle biographie générale“ die Fabel von der Vorleserin-Rolle, welche d'Eon an dem russischen Hofe gespielt hätte, mit dem besten Glauben von der Welt wiederholt. Die Leichtgläubigkeit, mit welcher die Landsleute Gaillardets in die von ihm gestellte Falle gingen, ist so groß, dass unseres Wissens nur Loménie sich nicht hat dupieren lassen, und wir stützen uns daher mit großer Genugtuung auf das Urteil dieses hervorragenden Schriftstellers.