Sechste Fortsetzung
Wir sind zu Ende mit den Autoren, deren schöpferische Einbildungskraft tätig war, um die historische Fabel, welche uns hier beschäftigt, mit neuen Details auszuschmücken. Was die Menge Derjenigen betrifft, welche diese Fabel wirklich in gutem Glauben oder wenigstens unter dem Schein desselben, einfach reproduziert haben, so ist ihre Zahl zu groß, als dass wir beabsichtigen könnten, ein Bild der verschiedenen Textausgaben, oder ein Aperçu über die sie begleitenden mannigfaltigen Betrachtungen zu geben.
Für uns genügt es zu konstatieren, dass diese ganze große Menge nur das wiederholte, was die von uns genannten Autoren sagten, indem sie bald das Résumé Lesurs, bald den Text Gaillardets, mit oder ohne Chodzko'schen und Corréard'schen Kommentar, veröffentlichten. Auf diese Weise hat man es nun mit vier Lesarten zu tun, welche sich wiederum, nach gewissenhafter Analyse, alle auf eine einzige zurückführen lassen. Der Ursprung dieser einen muss dann bestimmt werden.
Und wirklich hat ja, abgesehen von einigen ganz willkürlichen Zusätzen, Corréard nur Chodzko abdrucken lassen, dieser Gaillardet kopiert und letzterer endlich, wie wir es nachgewiesen, hat Lesur reproduziert. Lesur aber schiebt alle Verantwortlichkeit für eine historische Fälschung, um die es sich handelt, von sich, denn er deckt sich gleich am Eingange durch die Phrase: „on assure qu’il existe etc.“ Das beweist zur Evidenz, dass Lesur das Original eines Dokuments, „von dessen Existenz man ihm gesprochen“, nicht gekannt haben kann. Demnach muss es also irgendein Anderer gewesen sein, welcher dieses Schriftstück gesehen, oder, wenn ein solches gar nicht existierte, ein gewichtiges Interesse gehabt hat, nach seinem Gutdünken ein solches zu komponieren, und der gleichzeitig einen mächtigen Einfluss auf Lesur auszuüben vermochte, um ihn veranlassen zu können, mit seinem Namen als Historiker für eine Fabel einzutreten, deren Unwahrscheinlichkeit ihm von vornherein einleuchten musste.
Das ist der Punkt, welcher aufgeklärt werden muss. Wer ist nun dieser Andere, von welchem Lesur die veröffentlichten Schriftstücke erhielt, der das in Rede stehende Dokument gesehen, oder vielmehr — da er es ja, seinem Interesse entgegen, nicht ans Tageslicht gezogen — erfunden hat?
Die Antwort, welche wir auf diese Frage zu geben gedenken, stützt sich vielleicht nur auf eine Vermutung, aber diese hat so viel Wahrscheinlichkeit für sich, dass wir keinen Anstand nahmen, sie gleich an der Spitze unserer Arbeit in dem Titel „Das Testament Peters des Großen“ eine Erfindung Napoleons I. auszusprechen.
Da wir nämlich wissen, dass Napoleon I oft Gelegenheitsschriften zur Unterstützung seiner Politik veranlasste, da wir ferner wissen, dass er persönlich den „Moniteur“ mit Notizen versorgte, so ist in der Tat die Vermutung gar nicht so unwahrscheinlich: dass das Dokument, welches Lesur, und augenscheinlich sehr wider Willen, veröffentlichte, ihm von derselben höheren Macht aufoktroyiert wurde, welche bei ihm das Buch von 1814 bestellte.
Wer war aber diese höhere Macht, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten oder der Kaiser? — Für uns waltet hier kein Zweifel ob.
Verdankte das betreffende Schriftstück seinen Ursprung dem Ministerium, so wäre es gewiss sorgfältig redigiert worden, während, schon ein Blick auf den ersten Artikel des von Lesur veröffentlichten Résumés genügt, um den saloppen Styl des Schriftstückes erkennen und die Überzeugung gewinnen zu lassen, dass weder der Minister selbst, noch irgend einer der Bureau-Chefs des Ministeriums das Schriftstück in solcher Weise abfassen konnten.
Es ist augenscheinlich das mündlich gegebene Exposé für den Inhalt der abzufassenden Schrift; der Plan für die Arbeit, welche man von der Gefälligkeit Lesurs erwartete; eine Reihe von Phrasen, welche ohne Rücksicht auf den Styl, ohne systematische Klassifikation ausgesprochen und in eilender Hast von der schnellen Feder eines Schreibers aufs Papier geworfen wurden, es ist, mit einem Wort, ein Diktat des Kaisers Napoleon I.
Um diese Behauptung, welche gewagt erscheinen könnte, zu rechtfertigen, wollen wir die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die Übereinstimmung richten, die zwischen dem Inhalt des angeblichen „Testaments Peters des Großen“ und einer, Napoleon I. beständig beschäftigenden Idee besteht und zitieren zur Unterstützung des Gesagten zunächst einen Passus aus den „Souvenirs Contemporains“ des Hrn. de Villemain.
Nachdem Villemain von der Rivalität zwischen dem Westen und Russland gesprochen, deren Entstehung der Kaiser als eine notwendige vorausgesehen, welcher er aber auch noch bei seinen Lebzeiten hätte verhindern wollen, „weil er sie für zu gefährlich für seinen Nachfolger hielt, wer es immer sein möge“ fährt Hr. de Villemain in folgender Weise fort: „diese Furcht lebte schon in Napoleon vor Tilsit, vor dem Tage von Austerlitz, vor der Gründung des Kaiserreichs und von dem ersten Tage an, wo er die Russen in Italien gesehen und die Grenzen Frankreichs durch die Schlacht von Zürich vor ihnen geschützt hatte. Seit der Zeit hatten sich seine, von der Geschichte befruchteten und vom Studium des römischen Kaiserreiches erfüllten Gedanken wieder auf jenes alte Gesetz der Invasionen des Nordens in den Süden, der großen Barbaren-Überschwemmungen gerichtet, welche sich von den Plateaus Hochasiens über den Westen Europas ergießen. Er hatte sich gesagt, dass die vorschnelle Zivilisation dieser selben tartarischen Raçen heute weder jene Beziehungen des Klimas ändere, noch jenen natürlichen Eroberungstrieb vernichte, dass, im Gegenteil dieser Drang doppelte Kraft erlangt hätte, seitdem der rohen Gewalt und der Begehrlichkeit eines dürftigen Klimas eine vervollkommnete Kriegskunst und Siegeswerkzeuge, wie sie die Wissenschaft gewährt, zu Gebote ständen, dass man sich darum beeilen müsse, bevor die Erziehung der räuberischen Eindringlinge beendigt wäre, um die riesige Tatkraft, welche das Jahr 1789 geboren, benutzend, die Barbarei durch die Revolution, die Völker des Nordens durch das Volk der südlichen Nationen (les peuples septentrionaux par le peuple des nations du Midi) zu besiegen. Das waren die Gedanken, von denen in den häufigen Konversationen, deren bevorzugter Teilnehmer Narbonne war, die Seele des Kaisers überfloss.“
Ähnliche Auslassungen finden sich noch bei vielen anderen Gelegenheiten, sowohl in Gesprächen Napoleons I., als auch in von ihm stammenden Schriften. So sagt der Kaiser in seiner Botschaft an den Senat (message au Sénat conservateur) vom 29. Januar 1807:
Sobald die griechische Tiara wieder erstanden ist und vom Baltischen bis zum Mittelländischen Meere triumphiert, würden wir, noch zu unserer Zeit, unsere Länder von einem Schwärm von Fanatikern und Barbaren angegriffen sehen; und wenn dann in diesem verspäteten Kampfe das zivilisierte Europa unterliegen müsste, so würde unsere verbrecherische Indifferenz gerechterweise Anklagen unserer Nachkommen hervorrufen und ein Schandfleck in der Geschichte sein“.
Auch die „Mémoires du Comte Mollien. unterstützen unsere Behauptung; es finden sich hier folgende Napoleon I. zugeschriebene Worte verzeichnet:
„Man müsste recht blind sein, wenn man die Tendenz und die Bedürfnisse der russischen Politik seit einem Jahrhundert nicht erkennte. Man könnte nicht anders, als diesen Strom von den schönsten Teilen Europas abzulenken; ich habe es versucht . . . “.*)
Was das „Mémorial de Sainte-Hélène“ betrifft, so ließe sich aus demselben eine ganze Sammlung analoger Aussprüche zusammenstellen. Wir zitieren nur eine Stelle, aber eine derjenigen, welche am meisten charakteristisch und überzeugend sind: „Den Kaiser exaltierte das, was er die „Situation admirable“ Russlands im Verhältnis zum übrigen Europa nannte, die Unermesslichkeit seiner Invasionsmasse. Er malte es unter dem Pole ruhend, den Rücken an ewiges Eis gelehnt, wodurch es im Notfalle unzugänglich gemacht würde. Russland sei nur während einer Zeit von drei oder vier Monaten angreifbar, während es gegen uns das ganze Jahr hindurch oder zwölf Monate lang operieren könne; selbst böte es den Angreifenden nur die Rauhheit, die Leiden und Entbehrungen einer Wüstenei, einer toten oder erstarrten Natur dar, während seine eigenen Völker mit Freuden sich in die Wonnen unseres Südens stürzen würden.
*) Wir ersuchen unsere Leser, die hervorgehobenen Worte in diesem offiziellen Schriftstück zu beachten. Dieser Schwärm von Fanatikern und Barbaren (nuée de fanaticques et de barbares), mit denen der Kaiser Europa bedroht sieht, erinnert nicht Inhalt, sondern selbst an die Form des Art. XIV des Testaments Peters des Großen.
„Außer diesen physischen Verhältnissen, setzte der Kaiser hinzu, verbinden sich mit der zahlreichen sesshaften, tapferen, ergebenen, abgehärteten und passiven Bevölkerung noch unermessliche Völkerschäften, deren natürlicher Zustand das Umherschwärmen und Vagabundieren ist. Man kann sich eines Schauderns nicht erwehren, sagte er, wenn man an eine solche Masse denkt, welche weder in den Flanken, noch im Rücken anzugreifen ist; die sich ungestraft über Euch ergießt. Alles überschwemmend, wenn sie triumphiert, sich mitten ins Eis, in den Schoß der Trostlosigkeit, des Todes — ihren Rückhalt — zurückziehend, wenn sie geschlagen ist; und das Alles ohne die Leichtigkeit einzubüßen, mit der sie wieder erscheint, sobald die Umstände es erheischen. Ist das nicht der Kopf der Hydra, der Antäus der Mythe, welchen man nicht anders bewältigen kann, als indem man ihn umfasst und in seinen Armen erstickt? Aber wo den Herkules finden? Nun, es stand nur uns zu, das Wagnis zu unternehmen, wir müssen es eingestehen, wir haben es ungeschickt versucht.
„Der Kaiser sagte, dass bei der neuen politischen Gestaltung Europas das Schicksal dieses Erdteiles von der Fähigkeit und den Absichten eines einzigen Menschen abhängig sei. Lasset sich nur einen tapferen, ungestümen, fähigen Kaiser von Russland finden, mit einem Wort, einen Zaren, der Haare auf den Zähnen hat (qui ait de la barbe au menton) — und ganz Europa gehört ihm. Er kann seine Operationen auf deutschem Boden selbst beginnen, hundert Meilen von den beiden Residenzen Berlin und Wien, deren Souveräne allein ihm im Wege stehen.
„Er erzwingt die Allianz des Einen mit Gewalt und schlägt mit dessen Hilfe in einer Wendung den Andern zu Boden, und von dem Moment an befindet er sich im Herzen Deutschlands, mitten unter Fürsten zweiten Ranges, deren Mehrzahl Verwandte von ihm sind, oder die Alles von ihm erwarten. Im Notfall schleudert er dann im Vorbeigehen einige Feuerbrände über die Alpen auf italienischen Boden, wo sie jeden Augenblick zünden können und marschiert triumphierend gegen Frankreich, als dessen Befreier er sich aufs Neue proklamiert. Wahrlich, ich würde unter solchen Verhältnissen zur festgesetzten Zeit und in Etappenmärschen in Calais ankommen und der Herr und Gebieter von Europa sein.“
Diese Zitate, welche wir nach Belieben fortsetzen könnten, scheinen uns genügend, um die frappante Ähnlichkeit zwischen der Anschauungsweise Napoleon I. und dem Dokumente Lesurs darzutun. Es sind dieselben allgemeinen Aperçu's, dieselben Schlussfolgerungen und, wo die Biographen des Kaisers seine eigenen Worte anführen, dieselben Bilder, dieselben Wendungen, welchen wir in den Reden und Diktaten Napoleon I. begegnen. Und unter die Zahl dieser letzteren setzen wir ohne alles Bedenken das „Testament de Pierre le Grand“, dessen Sinn und dessen Form einem Jeden, der nicht absichtlich seine Augen verschließt, den Beweis liefern, dass es keinen andern Autor hat — als Napoleon I.
Für uns genügt es zu konstatieren, dass diese ganze große Menge nur das wiederholte, was die von uns genannten Autoren sagten, indem sie bald das Résumé Lesurs, bald den Text Gaillardets, mit oder ohne Chodzko'schen und Corréard'schen Kommentar, veröffentlichten. Auf diese Weise hat man es nun mit vier Lesarten zu tun, welche sich wiederum, nach gewissenhafter Analyse, alle auf eine einzige zurückführen lassen. Der Ursprung dieser einen muss dann bestimmt werden.
Und wirklich hat ja, abgesehen von einigen ganz willkürlichen Zusätzen, Corréard nur Chodzko abdrucken lassen, dieser Gaillardet kopiert und letzterer endlich, wie wir es nachgewiesen, hat Lesur reproduziert. Lesur aber schiebt alle Verantwortlichkeit für eine historische Fälschung, um die es sich handelt, von sich, denn er deckt sich gleich am Eingange durch die Phrase: „on assure qu’il existe etc.“ Das beweist zur Evidenz, dass Lesur das Original eines Dokuments, „von dessen Existenz man ihm gesprochen“, nicht gekannt haben kann. Demnach muss es also irgendein Anderer gewesen sein, welcher dieses Schriftstück gesehen, oder, wenn ein solches gar nicht existierte, ein gewichtiges Interesse gehabt hat, nach seinem Gutdünken ein solches zu komponieren, und der gleichzeitig einen mächtigen Einfluss auf Lesur auszuüben vermochte, um ihn veranlassen zu können, mit seinem Namen als Historiker für eine Fabel einzutreten, deren Unwahrscheinlichkeit ihm von vornherein einleuchten musste.
Das ist der Punkt, welcher aufgeklärt werden muss. Wer ist nun dieser Andere, von welchem Lesur die veröffentlichten Schriftstücke erhielt, der das in Rede stehende Dokument gesehen, oder vielmehr — da er es ja, seinem Interesse entgegen, nicht ans Tageslicht gezogen — erfunden hat?
Die Antwort, welche wir auf diese Frage zu geben gedenken, stützt sich vielleicht nur auf eine Vermutung, aber diese hat so viel Wahrscheinlichkeit für sich, dass wir keinen Anstand nahmen, sie gleich an der Spitze unserer Arbeit in dem Titel „Das Testament Peters des Großen“ eine Erfindung Napoleons I. auszusprechen.
Da wir nämlich wissen, dass Napoleon I oft Gelegenheitsschriften zur Unterstützung seiner Politik veranlasste, da wir ferner wissen, dass er persönlich den „Moniteur“ mit Notizen versorgte, so ist in der Tat die Vermutung gar nicht so unwahrscheinlich: dass das Dokument, welches Lesur, und augenscheinlich sehr wider Willen, veröffentlichte, ihm von derselben höheren Macht aufoktroyiert wurde, welche bei ihm das Buch von 1814 bestellte.
Wer war aber diese höhere Macht, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten oder der Kaiser? — Für uns waltet hier kein Zweifel ob.
Verdankte das betreffende Schriftstück seinen Ursprung dem Ministerium, so wäre es gewiss sorgfältig redigiert worden, während, schon ein Blick auf den ersten Artikel des von Lesur veröffentlichten Résumés genügt, um den saloppen Styl des Schriftstückes erkennen und die Überzeugung gewinnen zu lassen, dass weder der Minister selbst, noch irgend einer der Bureau-Chefs des Ministeriums das Schriftstück in solcher Weise abfassen konnten.
Es ist augenscheinlich das mündlich gegebene Exposé für den Inhalt der abzufassenden Schrift; der Plan für die Arbeit, welche man von der Gefälligkeit Lesurs erwartete; eine Reihe von Phrasen, welche ohne Rücksicht auf den Styl, ohne systematische Klassifikation ausgesprochen und in eilender Hast von der schnellen Feder eines Schreibers aufs Papier geworfen wurden, es ist, mit einem Wort, ein Diktat des Kaisers Napoleon I.
Um diese Behauptung, welche gewagt erscheinen könnte, zu rechtfertigen, wollen wir die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die Übereinstimmung richten, die zwischen dem Inhalt des angeblichen „Testaments Peters des Großen“ und einer, Napoleon I. beständig beschäftigenden Idee besteht und zitieren zur Unterstützung des Gesagten zunächst einen Passus aus den „Souvenirs Contemporains“ des Hrn. de Villemain.
Nachdem Villemain von der Rivalität zwischen dem Westen und Russland gesprochen, deren Entstehung der Kaiser als eine notwendige vorausgesehen, welcher er aber auch noch bei seinen Lebzeiten hätte verhindern wollen, „weil er sie für zu gefährlich für seinen Nachfolger hielt, wer es immer sein möge“ fährt Hr. de Villemain in folgender Weise fort: „diese Furcht lebte schon in Napoleon vor Tilsit, vor dem Tage von Austerlitz, vor der Gründung des Kaiserreichs und von dem ersten Tage an, wo er die Russen in Italien gesehen und die Grenzen Frankreichs durch die Schlacht von Zürich vor ihnen geschützt hatte. Seit der Zeit hatten sich seine, von der Geschichte befruchteten und vom Studium des römischen Kaiserreiches erfüllten Gedanken wieder auf jenes alte Gesetz der Invasionen des Nordens in den Süden, der großen Barbaren-Überschwemmungen gerichtet, welche sich von den Plateaus Hochasiens über den Westen Europas ergießen. Er hatte sich gesagt, dass die vorschnelle Zivilisation dieser selben tartarischen Raçen heute weder jene Beziehungen des Klimas ändere, noch jenen natürlichen Eroberungstrieb vernichte, dass, im Gegenteil dieser Drang doppelte Kraft erlangt hätte, seitdem der rohen Gewalt und der Begehrlichkeit eines dürftigen Klimas eine vervollkommnete Kriegskunst und Siegeswerkzeuge, wie sie die Wissenschaft gewährt, zu Gebote ständen, dass man sich darum beeilen müsse, bevor die Erziehung der räuberischen Eindringlinge beendigt wäre, um die riesige Tatkraft, welche das Jahr 1789 geboren, benutzend, die Barbarei durch die Revolution, die Völker des Nordens durch das Volk der südlichen Nationen (les peuples septentrionaux par le peuple des nations du Midi) zu besiegen. Das waren die Gedanken, von denen in den häufigen Konversationen, deren bevorzugter Teilnehmer Narbonne war, die Seele des Kaisers überfloss.“
Ähnliche Auslassungen finden sich noch bei vielen anderen Gelegenheiten, sowohl in Gesprächen Napoleons I., als auch in von ihm stammenden Schriften. So sagt der Kaiser in seiner Botschaft an den Senat (message au Sénat conservateur) vom 29. Januar 1807:
Sobald die griechische Tiara wieder erstanden ist und vom Baltischen bis zum Mittelländischen Meere triumphiert, würden wir, noch zu unserer Zeit, unsere Länder von einem Schwärm von Fanatikern und Barbaren angegriffen sehen; und wenn dann in diesem verspäteten Kampfe das zivilisierte Europa unterliegen müsste, so würde unsere verbrecherische Indifferenz gerechterweise Anklagen unserer Nachkommen hervorrufen und ein Schandfleck in der Geschichte sein“.
Auch die „Mémoires du Comte Mollien. unterstützen unsere Behauptung; es finden sich hier folgende Napoleon I. zugeschriebene Worte verzeichnet:
„Man müsste recht blind sein, wenn man die Tendenz und die Bedürfnisse der russischen Politik seit einem Jahrhundert nicht erkennte. Man könnte nicht anders, als diesen Strom von den schönsten Teilen Europas abzulenken; ich habe es versucht . . . “.*)
Was das „Mémorial de Sainte-Hélène“ betrifft, so ließe sich aus demselben eine ganze Sammlung analoger Aussprüche zusammenstellen. Wir zitieren nur eine Stelle, aber eine derjenigen, welche am meisten charakteristisch und überzeugend sind: „Den Kaiser exaltierte das, was er die „Situation admirable“ Russlands im Verhältnis zum übrigen Europa nannte, die Unermesslichkeit seiner Invasionsmasse. Er malte es unter dem Pole ruhend, den Rücken an ewiges Eis gelehnt, wodurch es im Notfalle unzugänglich gemacht würde. Russland sei nur während einer Zeit von drei oder vier Monaten angreifbar, während es gegen uns das ganze Jahr hindurch oder zwölf Monate lang operieren könne; selbst böte es den Angreifenden nur die Rauhheit, die Leiden und Entbehrungen einer Wüstenei, einer toten oder erstarrten Natur dar, während seine eigenen Völker mit Freuden sich in die Wonnen unseres Südens stürzen würden.
*) Wir ersuchen unsere Leser, die hervorgehobenen Worte in diesem offiziellen Schriftstück zu beachten. Dieser Schwärm von Fanatikern und Barbaren (nuée de fanaticques et de barbares), mit denen der Kaiser Europa bedroht sieht, erinnert nicht Inhalt, sondern selbst an die Form des Art. XIV des Testaments Peters des Großen.
„Außer diesen physischen Verhältnissen, setzte der Kaiser hinzu, verbinden sich mit der zahlreichen sesshaften, tapferen, ergebenen, abgehärteten und passiven Bevölkerung noch unermessliche Völkerschäften, deren natürlicher Zustand das Umherschwärmen und Vagabundieren ist. Man kann sich eines Schauderns nicht erwehren, sagte er, wenn man an eine solche Masse denkt, welche weder in den Flanken, noch im Rücken anzugreifen ist; die sich ungestraft über Euch ergießt. Alles überschwemmend, wenn sie triumphiert, sich mitten ins Eis, in den Schoß der Trostlosigkeit, des Todes — ihren Rückhalt — zurückziehend, wenn sie geschlagen ist; und das Alles ohne die Leichtigkeit einzubüßen, mit der sie wieder erscheint, sobald die Umstände es erheischen. Ist das nicht der Kopf der Hydra, der Antäus der Mythe, welchen man nicht anders bewältigen kann, als indem man ihn umfasst und in seinen Armen erstickt? Aber wo den Herkules finden? Nun, es stand nur uns zu, das Wagnis zu unternehmen, wir müssen es eingestehen, wir haben es ungeschickt versucht.
„Der Kaiser sagte, dass bei der neuen politischen Gestaltung Europas das Schicksal dieses Erdteiles von der Fähigkeit und den Absichten eines einzigen Menschen abhängig sei. Lasset sich nur einen tapferen, ungestümen, fähigen Kaiser von Russland finden, mit einem Wort, einen Zaren, der Haare auf den Zähnen hat (qui ait de la barbe au menton) — und ganz Europa gehört ihm. Er kann seine Operationen auf deutschem Boden selbst beginnen, hundert Meilen von den beiden Residenzen Berlin und Wien, deren Souveräne allein ihm im Wege stehen.
„Er erzwingt die Allianz des Einen mit Gewalt und schlägt mit dessen Hilfe in einer Wendung den Andern zu Boden, und von dem Moment an befindet er sich im Herzen Deutschlands, mitten unter Fürsten zweiten Ranges, deren Mehrzahl Verwandte von ihm sind, oder die Alles von ihm erwarten. Im Notfall schleudert er dann im Vorbeigehen einige Feuerbrände über die Alpen auf italienischen Boden, wo sie jeden Augenblick zünden können und marschiert triumphierend gegen Frankreich, als dessen Befreier er sich aufs Neue proklamiert. Wahrlich, ich würde unter solchen Verhältnissen zur festgesetzten Zeit und in Etappenmärschen in Calais ankommen und der Herr und Gebieter von Europa sein.“
Diese Zitate, welche wir nach Belieben fortsetzen könnten, scheinen uns genügend, um die frappante Ähnlichkeit zwischen der Anschauungsweise Napoleon I. und dem Dokumente Lesurs darzutun. Es sind dieselben allgemeinen Aperçu's, dieselben Schlussfolgerungen und, wo die Biographen des Kaisers seine eigenen Worte anführen, dieselben Bilder, dieselben Wendungen, welchen wir in den Reden und Diktaten Napoleon I. begegnen. Und unter die Zahl dieser letzteren setzen wir ohne alles Bedenken das „Testament de Pierre le Grand“, dessen Sinn und dessen Form einem Jeden, der nicht absichtlich seine Augen verschließt, den Beweis liefern, dass es keinen andern Autor hat — als Napoleon I.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Testament Peters des Großen eine Erfindung Napoleons I.