Fünfte Fortsetzung


Was die Verbreiter des Testaments Peters des Großen in der Form, wie Gaillardet es gegeben, betrifft, so steht unter ihnen in erster Linie ein polnischer Autor, Leonard Chodzko, welcher seinerseits auch nicht ermangelte, dem bewussten Schriftstück einige Erweiterungen angedeihen zu lassen. Im Jahre 1839 begann Chodzko die Veröffentlichung eines in französischer Sprache geschriebenen Werkes unter dem Titel: „La Pologne historique, littéaire, monumentale et illustrtée. Die erste Lieferung dieses Werkes enthielt eine Reproduktion des Gaillardet'schen Dokuments, welches hier vom neuen Herausgeber mit gewissen politischen Betrachtungen aufgetischt wurde. Die Erzählung Chodzko's ist speziell durch folgendes Detail bereichert worden:

„Es war im Jahre 1709, nach der Schlacht von Poltawa, als Peter I. den Plan seines Testaments entwarf, welchen er 1724 ausführte. (Ce fut en 1709, après la bataille de Poltava, que Pierre I traça le plan de son testament, qu'il retoucba en 1724.) Durch einen Zufall, dessen romantische Einzelheiten hier wiederzugeben überflüssig wäre, gelang es dem französischen Gesandten am Hofe der Zarin Elisabeth, dieses merkwürdige Schriftstück zu kopieren, welcher dasselbe mit Betrachtungen und Bemerkungen (reflexions), wie sie ein derartiges Dokument verlangt, sofort an das Kabinett von Versailles einsandte.“ Also ein weiterer Schritt in der Entwicklung dieser historischen Mythe! Nicht allein, dass das Testament Peters des Großen existiert, dass es kopiert und an den Hof zu Versailles geschickt worden ist, nein, man weiß sogar, wann und unter welchen Umständen es entworfen und vollendet wurde!


Da man nun einmal so Vieles weiß, so wäre es sehr interessant zu erfahren, in welchen, selbst einem Gaillardet unbekannten, Archiven denn eigentlich Chodzko seine Entdeckungen gemacht hat. Wenn es sich allem Anscheine nach auch in diesem Falle um ein neues Phantasiestückchen handelt, so war es gewiss nicht geschickt, die Entwerfung eines Planes für eine Weltherrschaft auf einen Zeitpunkt zu verlegen, wo Peter der Große eben die Erfahrung gemacht hatte, wie schwer es ihm gefallen, nur einen einzigen von den Gegnern zu besiegen, welche seine Nachfolger in Massen unterwerfen sollten. Doch das ist ja von keinem Belang! Wenn nur die Erzählung recht umständlich ist, wenn man nur mehr oder weniger genaue Details bringt, Zeit und Ort angibt, wo das Ereignis sich zugetragen — so hat man immer die Chance, dem Publikum zu imponieren und unter den Lesern genug Leichtgläubige zu finden.

Das genannte Werk: „La Pologne illustrée“ erlebte mehrere Auflagen und wurde die Quelle für den bedeutendsten Teil der späteren Ausgaben des „Testament de Pierre-le-Grand“, deren Anzahl während des Krimkrieges eine recht beträchtliche war. Die meisten der neueren Herausgeber begnügen sich damit, den Text einer der akkreditierten Versionen wiederzugeben. Doch findet sich unter ihnen Einer, welcher es nicht verschmäht, seine Einbildungskraft noch anzustrengen, um zu den Details seiner Vorgänger noch ein Übriges hinzuzufügen.

F. Corréard, welcher weder Romanschreiber noch Historiker, sondern ein geachteter Autor auf dem speziellen Gebiet der Kriegswissenschaften ist, veröffentlichte 1854 eine „Karte des Wachstums Russlands von Peter I. bis auf unsere Zeit“ (Carte des agrandissements de la Russie depuis Pierre I jusqu'à nos jours). Unter den Randbemerkungen dieser Karte, die verschiedene Notizen und andere Dokumente enthalten, stößt uns auch das Testament Peters des Großen auf, welches hier durch folgenden Zusatz erweitert ist: „Dieses politische Testament wurde von Peter I. 1710, nach der Schlacht von Poltawa, skizziert, ist dann 1722, nach dem Frieden von Nystadt, verändert und verbessert (retouché) worden und hat seine definitive Form durch den Kanzler Ostermann erhalten. Ludwig XV und seine Minister haben es schon 1757 gekannt. Wir geben seinen Text in extenso und genau so, wie er sich in der „Histoire de Pologne“ (lies Pologne illustrée) von Léonard Chodzko, Paris, 1839, vorfindet“.

Da nun Corrèard selbst das Buch Chodzko's als Quelle bezeichnet, aus welcher er geschöpft, so ist man zu der Frage berechtigt, warum er die Zeitangaben verändert habe: 1710 für 1709 und 1722 für 1724? Sollte es etwa ein Druckfehler sein? Woher aber stammt dann seine, den Kanzler Ostermann betreffende Notiz, welche sich in der „Pologne illustrée“ keineswegs findet? Mag Corréard, der Jüngste unter den Rhapsodisten und Zusätzlern des Testaments Peters des Großen, die Freundlichkeit haben, diese Fragen zu beantworten, denn die durch ihn mit dem zitierten Text vorgenommenen Veränderungen dürften weder unwichtig genannt, noch unter unbeabsichtigte Irrtümer gerechnet werden können.

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