Erste Fortsetzung

Von der englischen Regierung der russischen Armee attachiert, sah Sir Robert Wilson, am 26. Dezember 1812, unter den, von den Franzosen zurückgelassenen Effekten eine bedeutende Anzahl von Exemplaren des Lesur'schen Buches. Sie wurden in der Wohnung des Herzogs von Bassano, Minister der äußeren Angelegenheiten gefunden, und Sir Robert Wilson bemerkt ausdrücklich, dieses Werk sei unter direkter Aufsicht der französischen Regierung veröffentlicht worden (under the immediate süperintendence of French governement). Auch fügt er hinzu, es sei diese Publikation eine nicht mehr zu verbessernde Ungeschicklichkeit gewesen, indem sie die von Frankreich Russland gegenüber befolgte Politik enthüllt hätte. Seiner Ansicht nach wäre darin eine letzte Ausdrucksform „des erreurs russes“ Napoleons zu sehen.

In diesem Lesur'schen Buche tritt uns nun (pag, 176— 179) das Testament Peters des Großen, zum erbten Mal entgegen; dass es die editio princeps dieses Schriftstücks ist, ist nicht zu bezweifeln, und wir fordern einen Jeden, welcher etwa zu Gunsten der Authentizität des angeblichen Dokuments seine Stimme erheben wollte, auf, uns eine ältere Ausgabe desselben namhaft zu machen.


Zur Bekräftigung dieser Behauptung erwähnen wir noch, dass die französische Regierung auch schon vor 1812 verschiedene Publikationen veranlasst hatte, deren alleiniger Zweck die Beeinflussung der öffentlichen Meinung und die Erweckung von Misstrauen in Bezug auf Russland waren. Im Jahre 1807 erschien ein Werk, betitelt: „De la politique et des progrès de la puissance russe“, welches André d'Arbelles zugeschrieben wird, Historiograph des Ministeriums des Äußeren und Verfasser von mehreren politischen Broschüren, welche als Probeballons dienen oder gewisse Maßregeln der Regierung erklären mussten. Wenn man dem Autor eines Artikels in der „Biographie universelle“ von Michaud Glauben schenken darf, so hat Lesur vielleicht schon bei der Abfassung des Pamphlets von 1807 eine Rolle gespielt; es ist nämlich in dieser Schrift, welche gewisser maßen als die Skizze der von Lesur 1812 gelieferten Arbeit anzusehen ist, noch gar keine Rede von dem „Testament Peters des Großen“, woraus dann folgt, dass es zu jener Zeit noch Nicht bekannt war*). Nachdem wir dieses, für den uns beschäftigenden Gegenstand so wichtige Faktum konstatiert, kehren wir nun zu dem Werke Lesurs zurück.

*) Diese Bemerkung bezieht sich ebenso gut auf den Erstling jener Schriften, welche Europa durch die Darlegung russischer Eroberungsprojekte allarmieren. Diese Erstlings Broschüre ist im Jahre 1789 in London unter dem Titel; „Du péril de la politique de l’Europe“ veröffentlicht worden, und wurde, da sie sich hauptsächlich mit den Interessen Schwedens beschäftigte, dem König Gustav III. zugeschrieben. Nachdem sie mehrere Auflagen erlebt, und in verschiedene Sprachen übersetzt worden war, diente sie die dem Pamphlet von 1807 als Modell.

In der Einleitung, welche Lesur dem Schriftstück vorausschickt sagt er: „Man versichert, dass in den Privatarchiven der Kaiser von Russland geheime, von Peter dem Großen selbst niedergeschriebene Memoiren existieren, in welchen die Projekte dieses Fürsten ohne Umschweife auseinandergesetzt seien, Projekte, auf welche er die besondere Aufmerksamkeit seiner Nachfolger gerichtet hätte, von denen Einige auch wirklich mit geradezu religiöser Beharrlichkeit beflissen gewesen wären, sie auszuführen. Wir geben in Folgendem ein Résumé dieses Plans.“

Es handelt sich also nicht um einen originalen Text; was Lesur gibt, ist nur ein „Résumé“. Und wirklich wird von Peter dem Großen nur in der dritten Person gesprochen: — ein vortreffliches Mittel des Verfassers, sich allen minutiösen Angriffen der Kritik zu entziehen, welche es liebt, sich an Details zu halten und selbst die einzelnen Ausdrücke, welche man der Feder einer historischen Persönlichkeit zuschreibt, eingehender Betrachtung zu unterwerfen.

Das „Résumé“ Lesurs enthält 14 Artikel, von welchen die zwölf ersten wiederum nichts weiter als eine allgemeine Darstellung der von Russland, seit Peter dem Großen bis zum Jahre 1812, erreichten Erfolge sind. Eine Analyse des Lesur'schen Textes (s. Beilage A.) zeigt bald, dass diese ersten 12 Artikel, ihrer vorliegenden Form nach, nur nachträglich abgefasst sein können.

Sie sind augenscheinlich einfache vaticinia post eventum, indem der Autor der Erzählung von Tatsachen, welche im Moment, wo er schrieb, sich schon vollzogen hatten, die Form von Ratschlägen und Vorschriften gab, welche von Peter dem Großen herrühren sollten.

Es bleiben uns demnach nur die Art 13 und 14. Hier verlässt Lesur den Boden historischer Ereignisse vor 18 12 und begibt sich in das Reich der Phantasie, indem er als das Endziel, welches Peter der Große im Auge gehabt hätte, die Eroberung des gesamten Europa durch Russland und eine von ihm auszuübende Weltherrschaft bezeichnet. In diesen, an die russischen Herrscher gerichteten Ratschlägen ist unter Anderem von einem „Schwärm asiatischer Horden“ die Rede, welche den regulären Truppen nachziehen sollten, von wilden, beutedurstigen Nomadenvölkern, welche man in Italien, Frankreich und Spanien einbrechen lassen müsse, „um deren Einwohner teils niederzumetzeln, teils in die Sklaverei zu schleppen und die sibirischen Wüsten zu bevölkern usw.“

Diese Ausdrücke dürften wohl kaum einem von Peter dem Großen selbst herrührenden Schriftstück entnommen sein; andererseits kontrastiert der ihnen eigene schwülstige und pomphafte Styl seltsam mit dem ernsten Ton, der sonst in dem Werke Lesurs vorherrscht, so dass wohl ein Zweifel darüber sich erheben kann, ob wirklich Lesur die Erfindung des in Rede stehenden Passus zuzuschreiben ist. Man möchte eher annehmen, dass eine dreistere Hand, als die seine, hier entschieden eingegriffen, Lesur aber das „Résumé“ schon fix und fertig erhalten habe, mit dem Befehl, sich desselben bei der ihm aufgetragenen Arbeit zu bedienen.

Eine derartige Hypothese gewinnt noch dadurch an Wahrscheinlichkeit, dass sie im Stande ist, einen anderen sonderbaren Umstand zu erklären.

In Anbetracht des Gegenstandes und des eingestandenen Zwecks des Lesur'schen Werkes mussten die „geheimen Memoiren Peters I.“ das wichtigste Dokument, den Mittelpunkt seines Buches bilden, um den sich alle Behauptungen und alle seine Argumente hätten gruppieren müssen. Indessen ist es gerade umgekehrt. Anstatt dieses Schriftstück an die Spitze seines Werkes zu stellen, räumt ihm Lesur nur den bescheidenen Platz einer Marginal-Note ein, welche er zudem vorsorglich mit den Worten einleitet: Man versichert, dass in den Privatarchiven usw.“ Gesteht Lesur damit nicht geradezu selbst ein, dass er, obschon die „geheimen Memoiren“ in seinem Buche veröffentlicht worden, nur wenig oder gar nicht von ihrer Echtheit überzeugt ist? Es ist klar, dass Lesur sich als Historiker zu kompromittieren fürchtete, wenn er der Fabel, welche er genötigt war in Umlauf zu bringen, zu große Bedeutung beizulegen schien, und dass er nur das unumgänglich Notwendige tat, nachdem er einmal in ihre Verbreitung eingewilligt hatte.

Doch wir kommen auf diesen Punkt zurück. Es seien uns zunächst einige Worte über das Schicksal der Lesur'schen Schrift, über die fata libelli gestattet.

In dem Vorwort zu seinem Buche sagt Lesur u. A. „Wenn, was nach Allem vorauszusehen ist, der gute Geist Europas dem gefährlichen Aufschwung dieses neuen Reiches ein Ende macht, dann wird dieses Werk, welches zu einer Zeit abgefasst wurde, als sich jenes Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand, wie eines der Monumente da stehen, welche dazu dienen, an den Ufern großer Ströme die Spuren der von ihnen verursachten Überschwemmungen zu bezeichnen“.

Die Ereignisse haben die Prophezeiungen Lesurs nicht gerechtfertigt. Weit davon entfernt, die Bedeutung eines Monuments erhalten zu haben, ist sein Buch heute so sehr der Vergessenheit anheimgefallen, dass wohl den meisten unserer Leser die Existenz desselben unbekannt ist, obschon es nur wenige geben mag, die nicht von dem „Testament Peters des Großen“ sprechen gehört, von diesem Titel, mit dem man die wenigen Seiten bezeichnet hat, welche allein das Werk, in dem sie zum ersten Mal auftraten, überlebt haben. Was der Autor in einer einfachen Note und, allem Anschein nach, nicht einmal aus eigenem Antriebe, mitteilte, ist Alles, was von seinem Werke übrig geblieben ist und einen Platz in der Literatur behauptet hat. Gleich wie die Mythen der alten und neuen Zeit wurde auch die Fabel vom „Testament Peters des Großen“ von anderen Publizisten ausgebeutet, welche sich beeilten, dieselbe, „neu durchgesehen“, in einer nach eigenem Gutdünken zugestutzten Form wieder auf den Markt zu bringen.