Das Semstwo

Russen über Russland
Autor: Golubew, Wassili (St. Petersburg)., Erscheinungsjahr: 1906
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Semstwo, innere Verwaltung, Bureaukratie, Befreiungsbewegung, Bauernemanizpation, Kulturleben, Russland
„Die Völker, welche in ihrer inneren Verwaltung Selbständigkeitsrechte genießen, gelangen sehr leicht auch zu politischen Rechten; die Macht der Tatsachen und der Gang der Ereignisse mahnen alle Kreise an die Notwendigkeit einer Verständigung und bringen sie an das erstrebte Ziel — an jene Regierungsform, die die einzelnen örtlichen Bedürfnisse mit den Interessen des ganzen Staates in Einklang bringt, d. h. zur Volksvertretung.“ (Fürst A. Wasiltschikow, „Über die Selbstverwaltung“, B. I, S.24.)
Einführung

Das Semstwo mit seiner vierzigjährigen Vergangenheit nimmt in der Geschichte der russischen Gesellschaft und ihrer Kämpfe eine hervorragende Stellung ein, sowohl ob seiner politischen Opposition gegen die reaktionären Bestrebungen der Bureaukratie, als auch durch seine Leistungen für die kulturelle Entwickelung des russischen Volkes. Wer die Geschichte Russlands in der zweiten Hälfte des XIX. und am Beginn des XX. Jahrhunderts erkennen will, dürfte nicht ohne die Kenntnis der Semstwoeinrichtungen die Befreiungsbewegung in unserem Lande, geschweige denn sein Kulturleben nach der im Jahre 1861 erfolgten Bauernemanzipation verstehen können.

In der Freiheitsbewegung bildete das Semstwo den Mittelpunkt der liberalen Strömungen, indem es die Einführung einer konstitutionellen Ordnung auf friedlichem Wege anstrebte; in noch höherem Maße gewann es eine führende Rolle in der kulturellen Hebung des Volkes und im lokalen Leben überhaupt, da es alle wichtigsten Seiten dieses Lebens in seinen Wirkungskreis einbezog: den elementaren Volksunterricht sowohl als die medizinische Hilfstätigkeit, die Landwirtschaft, Feuerversicherung, Wegebauten usw.

Die doppelte Bedeutung des Semstwo in politischer und kultureller Hinsicht ist darauf zurückzuführen, dass es fast die einzige vom Gesetz gestattete organisierte Macht darstellte, die einen recht beträchtlichen Teil der Kultur- und Bildungselemente in sich konzentrierte. Während die in Russland auf dem Prinzip der Selbstherrschaft ruhende Staatsgewalt in immer höherem Maße die bureaukratische Zentralisation der Verwaltung zu entwickeln und die militärische Macht zu entfalten bemüht war, musste das Semstwo, das auf dem Grundsatze der Selbstverwaltung basierte und die Befriedigung der Volksbedürfnisse sich zur Aufgabe stellte, naturgemäß eine oppositionelle Stellung der Regierung gegenüber einnehmen. Die Interessen des Staates, der darauf ausging, in seinen Händen möglichst große Finanzmittel zu bureaukratischen und militärischen Zwecken zu vereinigen, mussten mit denen der Selbstverwaltung, deren Hauptaufgabe die Befriedigung der kulturellen Bedürfnisse des Volkes ist, kollidieren. Indes war das Semstwo keineswegs, wie etwa irrtümlich daraus geschlossen werden könnte, ein immer und in allen seinen Teilen gleichartiger Organismus von derselben Farbe politischer Opposition, der stets nur von uneigennützigen Bestrebungen für das Wohl des Volkes beseelt gewesen wäre. Trotzdem das Semstwo im allgemeinen einen politisch-oppositionellen und wirtschaftlich-kulturellen Faktor darstellte, war es seiner Zusammensetzung nach keineswegs einheitlich, zählte vielmehr in seinen Reihen viele reaktionäre Elemente und hatte in seiner Organisation selbst viele wesentliche Mängel zu verzeichnen. ,,Unter allen staatlichen Einrichtungen eines Landes, meint der gelehrte russische Staatsrechtslehrer Gradowski, stellt das System seiner lokalen Institutionen dasjenige Gebilde dar, das am meisten die Besonderheiten seiner geschichtlichen Entwickelung widerspiegelt.“*) In der Tat spiegeln sich die hauptsächlichsten Besonderheiten der russischen gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, das Ständeprinzip im Zusammenhang mit Vermögensvorrechten, in der Organisation der Semstwo Verwaltung ungemein scharf wider, einerseits im Übergewicht des adeliggutsherrlichen Standes, andererseits in der bureaukratischen Form der inneren Landesverwaltung, die die Abhängigkeit der Selbstverwaltung von den zentralen und lokalen Regierungsorganen bedingte. Der daraus resultierende eher undemokratische Charakter des Semstwo und das ungenügende Hervortreten selbständiger Betätigung ließen zu gewissen Zeiten, namentlich in Perioden verstärkter Reaktion seitens der Regierung, die selbstischen Bestrebungen des privilegierten Standes und der Verteidiger des bureaukratischen Regimes mächtig anschwellen. Nichtsdestoweniger stellt das russische Semstwo im allgemeinen, wie oben betont wurde, schon wegen der Unvereinbarkeit einer wahren lokalen Selbstverwaltung mit dem bureaukratisch-absolutistischen Regime eine oppositionelle Macht dar, die, namentlich in den letzten Jahren, alle liberalen Elemente an sich gezogen und sie sogar konsolidiert hat. Die Geschichte des russischen Semstwo ist ein ununterbrochener Selbsterhaltungskampf, ein Kampf um diejenige Selbständigkeit, die es ursprünglich vom Gesetz erhalten hatte. Die vierzigjährige Existenz der Semstwoinstitutionen in Russland ist durch immerwährende, teils partielle, teils umfassendere Umgestaltungen einschränkender Natur gekennzeichnet. Die Bureaukratie betrachtete das Semstwo als einen ihrer ärgsten Feinde, verfolgte jede, selbst die kleinste Äußerung seiner Selbständigkeit, und war bestrebt, es völlig aufzuheben oder richtiger zu verschlingen. Diese Bedrückung des Semstwo umgab es mit der Aureole eines ungerecht Verfolgten und zog in seinen Wirksamkeitsbereich viele der besten russischen Männer, für welche die Betätigung in den Semstwo Verwaltungen gleichbedeutend mit dem Kampf gegen die bureaukratische Regierung und der Arbeit für das Wohl des Volkes war.

*) Prof. Gradowski, Werke, Bd. IX, S. 418, Aufl. 1904.

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