Hungersnot und Choleraepidemie in den Jahren 1891 und 1892

. . . Die Aktionen der Semstwos zur Behebung der Volksnotstände. Der Aufschwung der Semstwotätigkeit. Die Frage des obligatorischen Volksschulunterrichts. Die an die Semstwos gerichtete Anfrage des Ministeriums der Landwirtschaft. Neue Bedrückungen des Semstwo. Reaktionäre und liberale Strömungen innerhalb des Semstwo. Das Anwachsen der gesellschaftlichen Bewegung in den letzten Jahren.

Die Jahre 1891 und 1892 sind in den Annalen des russischen Reiches mit unauslöschlichen Zügen eingetragen. Europa kennt solche gewaltige Volksmassen treffende Notstände, wie Hungersnot oder Choleraepidemien, seit langer Zeit nicht mehr. In Russland dagegen sind sie auch in der Gegenwart noch möglich. Das außergewöhnlich niedrige Kulturniveau, auf dem sich die Masse der Bevölkerung, namentlich die vom Ackerbau lebende Bauernschaft befindet, die primitiven Methoden der Landwirtschaft, bei der alles fast ausschließlich von den natürlichen Bedingungen abhängig ist, endlich die schwache Entwicklung der Industrie ergeben in ihrer Gesamtheit den Zustand, bei welchem die Grundlage der russischen Volkswirtschaft, der Ackerbau, fortwährend den verschiedensten Zufälligkeiten ausgesetzt ist, und jede Mißernte in größerem oder geringerem Maße eine Aushungerung der Bevölkerung bedeutet. Örtliche Missernten und Mangel an Brot, dem wichtigsten Ernährungsbestandteil für die überwiegende Masse der russischen Bevölkerung, muss als eine ständige Erscheinung betrachtet werden. Dagegen sind auch in Russland allgemeine Mißernten, die das ganze Land oder fast alle seine Landwirtschaftsgebiete träfen, äußerst seltene Fälle. Zu diesen gehört namentlich die Mißernte des Jahres 1891, da in den meisten Ackerbau treibenden Gouvernements die Ernte der wichtigsten Getreidearten (Roggen, Weizen, Hafer, Hirse) so schlecht ausfiel, dass an vielen Orten nicht einmal die Aussaat eingeerntet wurde. Ungeachtet der verschiedenartigsten Hilfeleistungen, mit denen Regierung, Landschaft und Gesellschaft den Bauernmassen aufzuhelfen suchten, litten diese in jener fürchterlichen Zeit buchstäblich Hunger. Im gegebenen Falle zeichneten sich Semstwo und Gesellschaft ganz besonders aus. So stand das Semstwo, dem das Gesetz die Sorge um die Volksverpflegung in den Misserntejahren zur Pflicht machte, naturgemäß an der Spitze der ganzen Hilfstätigkeit, vornehmlich was die Organisation betrifft. Aus den ihm zu Gebote stehenden Verpflegungsgeldern und für die von der Regierung gewährten Darlehen besorgte es den Einkauf des Getreides, es stellte Erkundigungen über die bedürftigen Familien an und führte die Aufsicht über die Verteilung der Unterstützungen. Die Gesellschaft legte ihrerseits ebenfalls große Energie an den Tag, indem sie sowohl Kollekten anstellte, als auch durch Gründung unentgeltlicher Volksküchen und Verteilung von Brot unmittelbar an der Organisation der Volksverpflegung partizipierte. Ein Teil der studierenden Jugend, viele Journalisten, Schriftsteller, darunter der große Dichter in russischen Landen, Leo Tolstoi, Männer, die sich durch öffentliche Tätigkeit verdient gemacht haben, Damen aus der Gesellschaft usw. suchten durch persönliches Eingreifen die schreckliche Volksnot zu lindern. Diese wurde jedoch immer größer, und zur Hungersnot von 1891 gesellte sich die Cholera des Jahres 1892. Das Volk, namentlich dessen einfache und arme Schichten, wurden täglich in der Stadt wie auf dem platten Lande zu Hunderten und Tausenden hingerafft. Vom Hunger entkräftet, vom Schrecken vor der Cholera betäubt, begann das Volk in einigen Gegenden zu rebellieren, Meutereien zu veranstalten. Dies waren indes keine richtigen Volksaufstände, sondern nur sogenannte Choleraexesse, wild und sinnlos in ihren Äußerungen wie in ihren Absichten. Das Volk ließ seine Verzweiflung und Erbitterung an den Gebildeten, namentlich an den Ärzten, die es der Volksvergiftung beschuldigte, aus. Es kam selbst zu Ermordungen von Ärzten und untergeordnetem medizinischen Personal.


Die Choleraepidemie, die ja unmittelbar auf die Hungersnot folgte, erheischte nicht minder als die Volksverpflegung ernste Abhilfe seitens des Semstwo, das die medizinische Hilfstätigkeit zu organisieren hatte. Auch in diesem Falle konzentrierte sich alles um das Semstwo, als die einzig legale gesellschaftliche Organisation. Wie bei der Organisation der Volksverpflegung, so zog es auch hier die lebendigsten und tätigsten Elemente der Gesellschaft und der literarischen Welt an seine Arbeiten heran.

Es kamen natürlich auch unzweckmäßige Anordnungen, Verzögerungen und Unterlassungen, ja hie und da sogar Unterschlagungen von öffentlichen Geldern und gewissenlose Getreideoperationen u. dergl. vor. Dies waren jedoch nur ganz vereinzelte, meist belanglose Fälle, und völlig ungerechtfertigt sind die Vorwürfe, welche später die Reaktionäre samt der Bureaukratie gegen das Semstwo erhoben haben. Die Arbeit des Semstwo vollzog sich vor aller Augen, in voller Öffentlichkeit, und die Gesellschaft brachte ihm absolutes Vertrauen entgegen: allmögliche Spendungen flossen hauptsächlich durch dasselbe zusammen, und sofern in dieser schweren Zeit dem Volke wirklich Hilfe erwiesen ward, ist es vor allem das Werk des Semstwo.

Kein Wunder, dass solch schwere Volksprüfungen, wie die allgemeine Hungersnot oder die Choleraepidemie, den stärksten Anstoß zur Belebung der gesellschaftlichen und staatlichen Lebens gegeben und dieses aus der Apathie, in die es in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts versunken war, erweckt haben. So nahm auch die Tätigkeit der Landschaften einen großen Aufschwung. In ihnen gelangten nunmehr jene sozialen Grundsätze wiederum zur Herrschaft, die in den sechziger und siebziger Jahren ihre besten Elemente begeistert hatten. Aber dieser Aufschwung rief, wie immer, eine Verstärkung des administrativen Druckes und neue Beschränkungen der Semstwoselbständigkeit hervor.

Als die Schrecken des Hungers und der Epidemie sich ein wenig gelegt und verhältnismäßig ruhige Zustände sich eingestellt hatten, begannen die fortschrittliche russische Presse und die meisten Landschaften unausgesetzt und in aller Schärfe klarzulegen, wie unumgänglich notwendig es sei, der Aufklärung der Volksmassen die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Gebildeten in Russland waren damals zur Einsicht gelangt, in welcher Unwissenheit das Volk verkommt, und überzeugten sich durch eigene Erfahrung, dass jede fruchtbare Tätigkeit unter dem Volke durch diesen Zustand hintangehalten werde.

So begann denn im gesamten fortschrittlichen Leben in erster Reihe die Erörterung der Frage des ,,allgemeinen Volksschulunterrichts“. Durch höchst eingehende und sorgfältige Studien wurde in der Literatur und in öffentlichen Versammlungen für das neue Problem Stimmung gemacht. Sowohl was die Spezialfrage, als auch was die allgemeine Volksaufklärung anbetrifft, machte sich besonders das St. Petersburger Komitee um die Verbreitung der Elementarbildung verdient, jenes Komitee, welches später von der Regierung nur deswegen geschlossen wurde, weil es in der Förderung der Aufklärung der Volksmassen vermittelst Ausgabe billiger Bücher, Organisierung von unentgeltlichen Volksbibliotheken und durch theoretische Erforschung der Frage des allgemeinen Unterrichts besondere Energie an den Tag legte. Im Semstwo nahm diese Frage rein praktische Formen an. Viele Gouvernements- und Kreislandschaften entwarfen Projekte von ganzen Schulnetzen und begannen demgemäß allmählich ihre Beiträge für die Gründung von Schulen, Errichtung von Schulgebäuden, Anstellung von Lehrpersonal zu erhöhen. Jetzt, nach den Jahren 1891 und 1892, fiel es niemand mehr ein, wie es in den achtziger Jahren üblich gewesen war, den Nutzen der Volksbildung zu leugnen, und niemand vertrat mehr die damals verbreitete Sparsamskeitstheorie bezüglich dieses Zweiges der Semstwotätigkeit und anderer ähnlicher. Im Gegenteil beginnt von nun an der Ausgabenetat des Semstwo, soweit es sich namentlich um Volksbildungszwecke handelt, schnell anzuwachsen. Sehr bezeichnend und beachtenswert ist unter anderem folgender Vorgang. Im Jahre 1894, kurz nach seiner Begründung, ersuchte das Ministerium der Landwirtschaft alle Gouvernementlandschaften um ihre Gutachten betreffs der nach ihrer Ansicht erforderlichen Maßnahmen zur Hebung der Landwirtschaft. Die Landschaften kamen dieser Aufforderung wie immer in ausführlichster Weise nach und erklärten als erste Maßregel zur Erreichung dieses Zweckes die weitgehendste Mitarbeit an einer möglichst schnellen Durchführung allgemeiner Schulbildung unter den Bauern. Sie erkannten somit einstimmig an, dass die Armut der Bauernmasse in direktem Zusammenhange mit ihrer niedrigen Kulturentwicklung und dem Mangel an elementarstem Wissen stehe

Allein, wie es stets in Russland zu geschehen pflegt, sobald das Semstwo sich mit ungewöhnlicher Energie der Sache der Volksaufklärung angenommen hatte, kam auch schleunigst die Regierung mit ihren Beschränkungen herbeigeeilt. Die Arbeiten der Landschaften auf diesem Gebiete verfielen besonderem Drucke, wogegen die Aufklärungstätigkeit der Geistlichkeit außerordentlicher Gunst sich erfreute. Auf diese Weise hatte das Semstwo einen Kampf nach zwei Fronten, einerseits mit dem Ministerium für Volksaufklärung, andererseits mit dem Ressort für geistliche Angelegenheiten auszufechten. Das Ministerium war ja, wie oben gezeigt, von jeher dem Semstwo übelgesinnt. Diese üble Gesinnung durchkreuzte auch alle Aufklärungsbestrebungen des Semstwo, das einzig und allein auf Erschwerungen und Hindernisse seitens der maßgebenden Ministerialgewalt stieß.

Die von der Regierung eingesetzten Volksschuldirektoren und -Inspektoren gewannen eine größere Machtsphäre, die Gründung und Herrichtung von Volksbibliotheken wurde wesentlich gehemmt, desgleichen die Eröffnung von pädagogischen und allgemein bildenden Kursen für Volkslehrer, Lehrerkonferenzen verfielen einem allgemeinem Verbot, bis zum Erlaß vom Jahre 1898, welcher jedoch durch seine Bestimmungen für Lehrerzusammenkünfte diese zu einer Fiktion machte; die Abhaltung von öffentlichen Vorträgen und Verbreitung billiger Volksausgaben unterlagen Beschränkungen usw.

Schließlich wurde im Jahre 1900 im Ministerium eine „Instruktion für die Schulkollegien“ ausgearbeitet, welche die Gewalt der Regierungsinspektoren nochmals erweiterte, die der Landschaft bedeutend verringerte. Dieser Entwurf fiel indes glänzend durch. Angesichts des Protestes, der sich in der Gesellschaft, der Presse und im Semstwo gegen die „Instruktion“ erhob, beschloß das Ministerium diese zuerst von einer aus Schulkollegienvorsitzenden, d. h. den Adelsmarschällen, aus zahlreichen Regierungsdirektoren und -Inspektoren der Volksschulen, unter äußerst schwacher Beteiligung der Semstwovertreter, bestehenden Konferenz annehmen zu lassen. Die Zusammensetzung der Konferenz schien die Billigung der vom Ministerium ausgearbeiteten Vorlage zu verbürgen. In Wirklichkeit scheiterte jedoch diese Hoffnung der Regierung, da die Konferenz den Entwurf als einen ungeeigneten verwarf.

Ein größeres Hemmnis noch als die unmittelbaren Beschränkungen seitens des Ministeriums, erwuchs für die Landschaften in der Begünstigung der Geistlichkeit. Im Jahre 1891 erschienen die ,,Bestimmungen für die Abc-Schulen“, welche diese Schulen kategorisch der Geistlichkeit unterordneten, was übrigens schon früher durch die Bestimmungen vom Jahre 1884 geschehen war.

Unter der bäuerlichen Bevölkerung existierten nämlich schon seit lange außer den staatlichen, den kirchlichen und den Landschaftsschulen noch von des Lesens und Schreibens kundigen Dorfbewohnern veranstaltete kleine Privatschulen, die gewöhnlich in einer einfachen Bauernhütte untergebracht zu werden pflegten und den Vorzug großer Billigkeit für sich hatten. Trotzdem die Lehrer jeglicher pädagogischen Vorbildung bar, trotzdem die Lehrbücher die denkbar primitivsten waren, brachten doch diese Miniaturschulen ihren Nutzen. Das Semstwo beabsichtigte nun diese Institutionen auszunutzen, um sie auf einer rationelleren Grundlage zu organisieren. Da stieß es sofort auf eine von der Geistlichkeit ausgehende Gegenströmung. Die bereits erwähnten Bestimmungen versetzten alle diese Schulen, wer auch ihre Begründer sein mochten, in völlige Abhängigkeit vom Ermessen der Geistlichkeit. Der wachsenden Semstwowirksamkeit auf dem Gebiete der Volksbildung suchte die Geistlichkeit durch eine außerordentlich energische gründerische Tätigkeit im Schulwesen entgegenzuarbeiten, was man aus folgenden Zahlen ersehen mag. Im Jahre 1881 gab es in Russland 4.400 mehr oder minder organisierte kirchliche Schulen, im Jahre 1885 5.670; 1891 stieg ihre Zahl bis auf 10.600 und erreichte im Jahre 1893 12.080. Noch schneller wächst die Zahl der Abc-Schulen: im Jahre 1895 gab es ihrer 3.980, 1891 13.400 und 1893 17.865.

Eine solch schnelle Vermehrung der Schulen bei mangelndem Lehrpersonal und die Abhängigkeit des Unterrichts von der ohnehin mit Berufspflichten schwer belasteten Geistlichkeit brachten es dahin, dass die qualitative Seite dieser Schulen arg vernachlässigt wurde. Dieser Umstand verlieh den Gegnern des im Schulwesen überhandnehmenden klerikalen Einflusses einen festen Angriffspunkt, so oft es galt, in den Landschaftsversammlungen zur Frage der Gewährung von Unterstützungen für die Verbreitung und Unterhaltung von Abc-Schulen Stellung zu nehmen. So fand während des ganzen letzten Dezenniums innerhalb des Semstwo ein erbitterter Kampf zwischen den Anhängern und Gegnern einer Unterstützung der Geistlichkeit in ihrer Arbeit auf dem Gebiete des Volksunterrichts. Die Bekämpfung der kirchlichen Schulen war eine Losung der liberalen Semstwomitglieder, während die konservativen Elemente sich um die Verteidigung derselben zusammenscharten. Und nicht selten blieb der Sieg auf Seiten der kirchlich Gesinnten.

Die Volksaufklärung war jedoch nicht das einzige Gebiet, auf dem das Semstwo seine Selbständigkeit zu erkämpfen hatte. Die ganze Periode der neunziger Jahre bis in den Anfang des neuen Jahrhunderts hinein ist durch das sogenannte „System des Mißtrauens“ gegen die gesellschaftlichen Institutionen zu kennzeichnen.

Indes, trotz der so eingreifenden Reform des Semstwoinstituts, wie die durch die Bevorrechtung des Adels in der „Semstwoordnung von 1890“ bewirkte, verschwand der Geist der Opposition gegen den bureaukratischen Druck keineswegs und kam auch jetzt, wie in den früheren Jahrzehnten, in Form von alleruntertänigsten Adressen mit konstitutionellen Forderungen, in Gesuchen betreffs Erweiterung der Semstwozuständigkeit und schließlich in energischer Obstruktion zum Ausdruck.

In dieser Epoche verhielt sich die Regierung dem Semstwo gegenüber ungemein feindselig, behandelte es mit großem Mißtrauen und offenbarte sein ganzes Verhalten in schroffer Nichtbeachtung seiner Gesuche. Mit dem Aufschwung in den Landschaften nach 1891 schwoll naturgemäß auch die Zahl der Petitionen, die, sei es verschiedene Veränderungen in der Semstwoordnung, sei es die Befriedigung praktischer Bedürfnisse berweckten, an. Nun war schon in der Zeit von 1880 bis 1891 die Zahl der abgelehnten Landschaftsgesuche schnell gestiegen, während die Bewilligungen sich vermindert hatten. Immerhin waren noch aus der gesamten Zahl der vom Semstwo in den Jahren 1880 — 1891 eingereichten 277 Gesuche 67 oder 24 % bewilligt worden, wogegen in den Jahren 1892 — 1898 von 114 nur 16, d. h. 14 % dasselbe Schicksal teilten. Hand in Hand damit ging die Beanstandung der Semstwobeschlüsse seitens der lokalen Verwaltung, so dass die Landschaftsversammlungen zur Verteidigung ihres Rechts immer häufiger zu Beschwerden an den Senat greifen mussten.

Am 10. Juni 1893 fand das ,,Statut der Heilanstalten des Zivilressorts“ die allerhöchste Genehmigung, wodurch die Befugnisse der Landschaft in der medizinischen Hilfstätigkeit bedeutend geschmälert und auf die lokale Polizeiverwaltung übertragen wurden. Schon stand das Inkrafttreten des neuen Statuts bevor, als das Semstwo, ganz unerwartet für die Regierung, eine außerordentlich tatkräftige Obstruktion entwickelte. Ein sehr bedeutender Teil der Landschaftsversammlungen petitionierte bei der Regierung um Nichtanwendung des Statuts, wodurch die Regierung zu einer Revision des Gesetzes gezwungen war; so blieb denn das Arbeitsfeld der Landschaften in medizinischer Hilfstätigkeit eigentlich dasselbe, wie vor dem Gesetze.

Zu ähnlicher Obstruktion nahm das Semstwo auch bezüglich anderweitiger neuer Gesetzentwürfe der Regierung in der Folge oft seine Zuflucht. Besonders bezeichnend ist die Obstruktion gegen den das Semstwo in seinem Wirkungskreis beschränkenden Gesetzentwurf betreffs des Rechts zu veterinärpolizeilichen Maßnahmen vom Jahre 1902. Dieses Gesetz, welches die Inspektion und Bekämpfung von Epidemien statt den Semstwos gemischten Ausschüssen mit äußerst komplizierten Kanzleiverschleppungsmethoden übertragen sollte, blieb gleichfalls dank dem Widerstände der Landschaften nur auf dem Papier, nachdem eine Konferenz von Regierungsund Landschaftsveterinären, zu deren Einberufung die herrschenden Kreise sich schließlich veranlaßt sahen, gegen das Projekt Stellung genommen hatte. So bewies denn auch das Scheitern erwähnter Regierungsvorlagen zur Evidenz, wie unfruchtbar und schädlich die bureaukratische Ausarbeitung von Gesetzen, die hauptsächlich dem Lokalleben und den lokalen Interessen gelten sollten, ist.

Der Kampf der Regierung gegen das Semstwo äußerte sich auch noch darin, dass sie dessen Zuständigkeit zu schmälern suchte. Durch das Gesetz von 1893 über die Schätzungen des Immobiliarvermögens beschränkte sich die Selbständigkeit des Semstwo in der Anordnung der Schätzungsarbeiten und der Anordnung der Schätzungsnormen. Diese Befugnisse sollten auf besondere gemischte Kommissionen aus Vertretern der Administration und der Landschaften übergehen. Wenn auch dieses Gesetz eine praktische Bedeutung nicht gehabt hat, so trug es doch prinzipiell zur Beschränkung der Semstwozuständigkeit bei.

Die Bevormundung des Semstwo wurde speziell durch das Gesetz vom 29. Mai 1900 verstärkt. Durch die Zuweisung eines ,,ständigen Mitglieds“ an die Behörden für städtische und Semstwoangelegenheiten schuf sich die Regierung ein neues Aufsichtsorgan. Von da an folgen die Beschränkungen unausgesetzt. Von hervorragender Bedeutung ist das Gesetz vom 12. Juni 1900, durch welches das für die Landschaft so wertvolle Recht der Selbstbesteuerung eine Einschränkung erlitt und die Semstwoetats in Abhängigkeit von der Verwaltungsorganen gerieten. Das Gesetz war angeblich durch das schnelle Anwachsen der Landschaftsausgaben und durch die dadurch bedingte übermäßige Belastung hervorgerufen. In Wirklichkeit jedoch beabsichtigte es wieder nur die Schmälerung der Semstwokompetenz. In der Anwendungspraxis stieß es auf eine Menge Schwierigkeiten, und in vielen Fällen wuchsen auch fernerhin die Semstwobudgets recht schnell, ohne die vom Gesetz vom 12. Juni festgesetzte Norm von 3 % innezuhalten. Noch in demselben Jahr wurde das Verpflegungswesen dem Semstwo genommen und den Landhauptmännern durch Vermittelung der Kreiskonferenzen und der Adelsmarschälle übergeben. Diese Maßnahme traf das Semstwo auf das empfindlichste, weil es auf seine Verpflegungstätigkeit großen Wert legte, und die Erfahrung bewies gar bald, dass die neue Verwaltungsinstanz nicht imstande war, mit dieser komplizierten und für die Bevölkerung, namentlich die bäuerliche, höchst wichtigen Sache fertig zu werden. Als gerade im folgenden Jahre, nämlich 1901, in vielen Gouvernements eine große Missernte ausgebrochen war, sah sich die Regierung genötigt, die Hilfe der Landschaften anzurufen. Sie betraute das Semstwo mit der Verteilung von Viehfutterunterstützungen unter den Bauern und zog es auch zur Organisation der sogenannten „öffentlichen Arbeiten“ *) heran. Das Semstwo war also, wie man sieht, nicht zu umgehen. Die Organisation der Volksverpflegung erwies sich überhaupt als unbefriedigend, so dass man sich 1903 in den Regierungskreisen mit der Frage einer Durchsicht der ,, Verpflegungsgesetze“ befasste und mit dem Gedanken einer Zurückverweisung des Verpflegungswesens in die Hände des Semstwo vertraut zu machen begann.

*) Die „öffentlichen Arbeiten“ sind dazu bestimmt, der notbedürftigen Bevölkerung, die besonders unter einer Mißernte gelitten hat, einen Verdienst zu verschaffen. Da die betreffenden Bevölkerungsschichten zum allergrößten Teil nicht aus gelernten Arbeitern, sondern aus einfachen Bauern bestehen, so werden in den Kreis der öffentlichen Arbeiten hauptsächlich nur ganz einfache Arbeiten einbezogen, wie z. B. Ausbesserung der Chausseen, Errichtung von Gräben und Brunnen, Bau einfacher Brücken, das Anlegen von neuen Wegen u. dgl. Solche öffentliche Arbeiten (übrigens auch komplizierterer Natur) organisierte zuerst in großem Maßstabe die Regierung selbst während der Hungersnot von 1891/92 unter der allgemeinen Leitung des General Annenkow. Sowohl diese Arbeiten als der Name des Generals Annenkow sind zu trauriger Berühmtheit gelangt. Fünfzehn Millionen Rubel waren dafür vom Staate ausgesetzt, allein die Organisation der Arbeiten war dermaßen verfehlt, die Leitung so unredlich, dass aus der kolossalen Summe der hungernden Bevölkerung im ganzen weniger als 6 Millionen oder etwa 39 % als Verdienst zugute kamen. General Annenkow , der beschuldigt wurde, dass er über 3 ½ Millionen Rubel für sich verbraucht, bezw. in ungesetzlicher Weise ausgegeben hätte, blieb einzig und allein dank der Gnade des Kaisers von gerichtlicher Verfolgung verschont und erhielt nur einen allerhöchsten Verweis (siehe die Abhandlung von W. E. ,,öffentliche Arbeiten in den Jahren 1892 — 1893“ in der Zeitschrift „Volkswirtschaft“, 1895, I. Heft). Die vom Semstwo vorgenommenen öffentlichen Arbeiten waren weit besser organisiert, hatten jedoch infolge Einmischung der Verwaltungsbehörden auch keinen wesentlichen Erfolg.

In ihrem Streben, die Einflußphäre der Landschaften möglichst zu schwächen, suchte die Regierung auch das ganze Volksbildungswesen aus dem Bereiche der Semstwotätigkeit auszuschalten. Im Jahre 1901 wurde das Recht der Landschaften auf Herausgabe billiger Bücher für das Volk in erheblichem Maße gekürzt; ein besonderes Rundschreiben des Ministers des Innern vom 23. August 1901 untersagte ihnen ferner jeglichen Verkehr untereinander. Im Jahre 1902 trifft sodann die Landschaften eine eigenartige Maßregel. Aus Furcht vor revolutionärer Propagierung des Volkes durch die Semstwostatistiker erbot die Regierung durch Zirkular vom 30. Mai den Landschaften die Vornahme von statistischen Abschätzungserhebungen.

So waren denn die Landschaften durch die Regierung in eine unmögliche Situation versetzt worden, und immer schärfer wurde der Kampf zwischen beiden Teilen.

Die konstitutionellen Bestrebungen des Semstwo waren auch trotz der achtziger Jahre nicht ganz verschwunden. Nach einer verhältnismäßig langen Pause kamen die Wünsche wieder in den alleruntertänigsten Adressen mehrerer Semstwos bei Gelegenheit der Thronbesteigung des jetzt regierenden Zaren Nikolaus II. zur Geltung. Neun Landschaften (der Gouvernements Twer, Tula, Ufa, Poltawa, Saratow, Tambow, Kursk, Orel und Tschernigow) nahmen in ihren Begrüßungsschreiben an den Kaiser in der einen oder anderen Form gegen die herrschende Staatsordnung Stellung und baten um Zulassung der Semstwos zu der Gesetzgebungsarbeit. Das Twersche Semstwo schrieb u.a.: ,,Wir erwarten, Zar, dass die gesellschaftlichen Institutionen das Recht und die Möglichkeit erhalten werden, über die sie angehenden Fragen ihre Meinungen zu äußern, damit nicht nur die Ansichten und Bedürfnisse der Administration, sondern auch die des russischen Volkes bis zur Höhe des Thrones sollen dringen können.“ Die Landschaftsadressen erfuhren jedoch scharfe Missbilligung, ja die Abgeordneten des Twerschen Semstwo, Roditschew und Golowatschew, empfing der Kaiser nicht einmal. Von da ab wurden alleruntertänigste Adressen, mit Ausnahme derjenigen des Tschernigower Semstwo, überhaupt nicht mehr eingereicht.

Alle genannten Erklärungen und Adressen der Landschaften wiederholten immer wieder den Leitsatz, der vom Semstwo fast seit demMomente seiner Gründung verteidigt wird: seinen Wunsch, sich an der Gesetzgebung des Landes zu beteiligen. Um diese Idee, die eigentlich von bestimmten konstitutionellen Forderungen weit entfernt war, gruppierten sich recht heterogene Elemente: sowohl Slawophilen mit ihren in der Forderung eines beratenden Semski Sobor gipfelnden politischen Überzeugungen, als auch wahre Verfassungsanhänger; beide Fraktionen schlossen nämlich oft in politischen Fragen und bei verschiedenen praktischen Aufgaben Bündnisse untereinander, um mit vereinten Kräften den reaktionären Elementen im Semstwo, die mit der Richtung seiner Arbeiten für das Volkswohl unzufrieden waren, die der Geistlichkeit unterstellten Schulen förderten und die herrschende Staatsordnung vertraten und verteidigten, entgegenzuwirken. Denn wiewohl diese Reaktionäre im Semstwo nie zu einer herrschenden Stellung gelangten, so vermochten sie doch, namentlich soweit es sich um praktische Fragen handelte, nicht selten Siege zu erringen, so dass ihre Bekämpfung eine Notwendigkeit war. Die für die Landschaften so schwere Zeit der neunziger und der folgenden Jahre hat zweifellos dazu beigetragen, dass im Semstwoleben die negativen Momente zur Geltung kamen und dass die reaktionären Elemente in bedeutender Anzahl auf der Bildfläche erschienen. Der Wähler der Landschaftsverordneten hatte sich während dieser Zeit fast überall ein außerordentlicher Indifferentismus bemächtigt. Auf Schritt und Tritt waren die Wahlversammlungen von so wenigen Wählern besucht, dass ihre Zahl diejenige der zu wählenden Verordneten kaum überstieg, und der ganze Wahl Vorgang sich zur Selbstwahl gestaltete. Derselbe Indifferentismus war auch in den Semstwo Versammlungen zu konstatieren: Sehr oft war die Zahl der erschienenen Verordneten in diesen so gering, dass sie kaum beschlußfähig waren.*) Diese Gleichgültigkeit dem gesamten Semstwoleben gegenüber trat auch in unmittelbar praktischen Arbeiten zutage. Ein um so festeres Band umschlang jetzt die Männer, die für die Semstwotätigkeit wirkliches Interesse besaßen; allmählich bildeten sich mehr oder weniger ausgeprägte Gruppen mit entsprechenden politischen und kulturellen Forderungen. Es stellte sich nunmehr für die Vertreter dieser fortschrittlichen Parteien immer mehr heraus, wie notwendig für sie spezielle Zusammenkünfte zur Wahrung ihrer Selbständigkeit und zur Bekämpfung der Beamtenwillkür seien, aber die ständigen und immer von neuem wiederholten Versuche, von der Regierung dazu die Erlaubnis zu bekommen, fruchteten nichts. Da also der legale Weg versperrt war, begannen die Semstwomitglieder privatim, ohne die offizielle Erlaubnis nachzusuchen, solche Konferenzen zu veranstalten. Oben war schon von der Organisation solcher Zusammenkünfte und vom politischen Semstwobunde der siebziger Jahre die Rede. In den letzten Jahren ist eine ähnliche geheime politische Organisation nicht geschaffen worden; aber dasselbe Streben ist, ohne eine bestimmte Organisationsform angenommen zu haben, in anderer Weise und, über weit größere Kreise sich erstreckend, in mannigfaltigen Privatkonferenzen und -Beratungen zum Ausdruck gelangt. **) Die Organisation dieser Konferenzen ist auf die Iniative des Moskauer Semstwo, insbesondere eines seiner hervorragenden Mitglieder, des Vorsitzenden der Moskauer Gouvernementslandschaftsbehörde, des Slawophilen D. N. Schipow, zurückzuführen.

*) Zur Gültigkeit der Beschlussfassung ist nach Art. 74 der „Semstwoordnung vom Jahre 1890“ die Anwesenheit von mindestens der Hälfte der durch eine spezielle Bestimmung für jede Landschaft festgesetzten Abgeordnetenzahl erforderlich.

**) In den letzten Jahren haben allerdings mehrere der konstitutionellen Semstwomitglieder sich der konstitutionell-demokratischen Organisation des „Bundes der Befreiung“, Sojus Osswoboschdenja, angeschlossen.


Es ist bemerkenswert, dass die Semstwokonferenzen in den letzten Jahren überhaupt ziemlich häufig waren und dass sie meistens die Erörterung rein praktischer Aufgaben bezweckten, so die Fragen der besten Organisation des Verwaltungswesens, der Veterinären und medizinischen Hilfstätigkeit usw. An diesen Zusammenkünften beteiligten sich in der Regel nicht nur gewählte Landschaftsvertreter, sondern auch besoldete Angestellte und Fachmänner auf verschiedenen Gebieten des Semstwowesens. Die Wirtschaft der Landschaft und die Aufgabe, die deren Selbstverwaltung stellt, sind so kompliziert, dass für die richtige Lösung der lokalen Wohlstandsfragen der gegenseitige Verkehr unter ihren Mitgliedern behufs Einsicht in die Einrichtungen der verschiedenen Semstwos unentbehrlich ist. Aber auch abgesehen von den rein praktischen Aufgaben, erheischte die allgemeine politische Atmosphäre der letzten Jahre eine Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte, was bei der in Russland mangelnden Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit nur auf dem Wege solcher illegalen Beratungen und Vereinigungen zu erreichen ist.

Die allgemeine Lage und die dringende Notwendigkeit der politischen Befreiung Russlands brachten es dahin, dass jede selbst von der Regierung genehmigte Konferenz, die zu wissenschaftlichen oder praktischen Sonderzwecken einberufen wurde, am letzten Ende doch auf die Erörterung politischer Fragen hinauslief. Wir wollen nur folgende Konferenzen dieser Art besonders hervorheben: die Konferenz der Agronomen und der Semstwovertreter im Jahre 1901, die der Adelsmarschälle, Volksschuldirektoren und -Inspektoren und Semstwo Vertreter vom selben Jahr; die Konferenz der Vertreter und Förderer der Hausindustrie im Jahre 1902 und schließlich die Konferenz von Vertretern technischer Bildung im Jahre 1903. Alle diese von der Regierung genehmigten Konferenzen hatten spezielle Aufgaben, griffen jedoch unvermeidlich auf das Gebiet der allgemein-politischen Verhältnisse in Russland hinüber, die in Verbindung mit dem. niedrigen Kulturniveau der Bevölkerung einer gedeihlichen Entwicklung der Wissenschaft und einer fruchtbaren Anwendung derselben im Leben sowie dem Fortschritt der Industrie und der Bildung die schwersten Hindernisse in den Weg stellen. So verwandelten sich gewöhnliche Zusammenkünfte von Fachmännern in politische Konferenzen.

Die komplizierten innerpolitischen Zustände des Landes, zu denen noch die äußerst schwache Entwicklung, ja sogar ein Rückgang des wirtschaftlichen Wohlstandes hinzukommt, haben in den letzten Jahren eine außerordentlich starke Bewegung in der Gesellschaft hervorgerufen. Die Regierung war nun selbst gezwungen, die Bahn sozialer und ökonomischer Reformen zu beschreiten. Zugleich bemühte sie sich, für die angesammelte gesellschaftliche Unzufriedenheit irgend einen Abfluss zu schaffen. Unter dem Vorsitz des früheren Finanzministers S. J. Witte organisierte daher die Regierung eine ,,Besondere Konferenz zur Beratung der landwirtschaftlichen Bedürfnisse“ aus höheren Beamten, denen in der Provinz landwirtschaftliche Komitees zur Seite standen. Wesentlich an dieser Neuerung war die Tatsache, dass zur Aufklärung einer so wichtigen allgemein staatlichen Frage, wie die Bedürfnisse der Landwirtschaft es sind, die Lokalbevölkerung herangezogen wurde, dass das allmächtige Beamtentum die Stimme der öffentlichen Meinung anzuhören für nötig befunden hat. Die Bureaukratie blieb sich jedoch treu und organisierte die Enquete bei den Vertretern der öffentlichen Meinung auf rein bureaukratischer Grundlage. Vor allem überging man die Landschaften vollständig, während man doch im Gegenteil erwarten durfte, dass die Stimme des Semstwo, dieses einzigen legalen Vertreters der öffentlichen Meinung, zuerst angehört werden würde. Die Regierung beschränkte sich auf die Organisation von Komitees, die einen halb gesellschaftlichen, halb amtlichen Charakter hatten. So bestanden in den Kreisen die Komitees unter dem Vorsitz der Kreisadelsmarschälle aus einigen Semstwoverordneten, dem Vorsitzenden und den Mitgliedern der Kreislandschaftsbehörden, ferner aus den Landhauptmännern und anderen nach dem Gutdünken des Vorsitzenden dieses Komitees eingeladenen Personen; entsprechend war die Organisation der Gouvernementskomitees unter dem Vorsitz des Gouverneurs.

Die Umgehung der Landschafts Versammlungen rief sofort in den Semstwokreisen lebhaften Protest hervor. Auf Initiative des Semstwoverordneten D. N. Schipow wurde der Entschluss gefaßt, in Moskau eine Konferenz von Semstwo Vertretern einzuberufen, die sich mit der Erörterung der Frage befassen sollte, wie das Semstwo sich der ,,Besonderen Konferenz“ gegenüber zu verhalten habe und ob die Vorsitzenden der Landschaftsbehörden sich an den Arbeiten der lokalen Kreis- und Gouvernementskomitees beteiligen dürfen. Diese Zusammenkunft war eigentlich die erste politische Semstwokonferenz nach den achtziger Jahren. Ihre Bedeutung und ihr Wert liegen hauptsächlich darin, dass sie den Anstoß zu den folgenden Konferenzen gegeben hat; allein auch an und für sich ist sie ungemein interessant. Sie stellte vor allem fest, dass die landwirtschaftliche Frage in Russland mit der Bauernfrage, richtiger noch mit der Frage der Rechtlosigkeit, in welcher die Bauernschaft schmachtet, sich deckt. Hatten die Semstwos acht Jahre früher einstimmig erklärt, dass der ökonomische Rückgang der Landwirtschaft in Russland eine Folge der Unwissenheit des Volkes sei, so stellten die Semstwo Vertreter jetzt die Frage der Rechtlosigkeit des Volkes auf. In Wirklichkeit hindern beide Umstände in gleicher Weise die Hebung der wirtschaftlichen Lage, aber schon die Stellung der Frage nach der Rechtlosigkeit ist bezeichnend für die Stimmung der Gesellschaft und der Semstwos.

Die Maikonferenz des Jahres 1902 war illegal, die Polizei war aber darüber gut unterrichtet, und auf Veranlassung des Ministers des Innern von Plehwe wurde allen Teilnehmern ein allerhöchster Verweis erteilt.

Die Einsicht indes, dass Reformen sich nicht mehr vermeiden lassen, dass die beharrlichen Forderungen der Gesellschaft nach eigener Meinungsäußerung nicht mehr verstummen werden, veranlasste die Regierung, in verschiedene ihrer Kommissionen aus der Gesellschaft überhaupt und dem Semstwo insbesondere, und zwar nicht etwa nach Wahl der betreffenden Körperschaften, sondern nach eigenem Gutdünken Personen heranzuziehen.

In den Jahren 1902 und 1903 zog die Regierung sehr oft Vertreter der öffentlichen Meinung zur Mitberatung verschiedener Probleme hinzu. Solche Fragen waren die Reform des Verpflegungswesens, ein neues Gesetz über veterinär-polizeiliche Maßnahmen, die projektierte neue Straßenordnung, schließlich das Problem, wie der Rückgang einiger ackerbautreibender Gouvernements aufzuhalten sei. Die Semstwopolitiker lehnten nicht jede Mitwirkung an den Beratungen ab und bewiesen bei dieser Gelegenheit, dank einer gewissen Organisation und solidarischem Zusammenhalten, einen hohen Grad politischen Taktes. Selber nur nach Gutdünken der Regierung eingeladen, vertraten sie den Grundsatz, dass bloß von den Semstwo Versammlungen gewählte Personen an den gesetzgeberischen Akten der Regierung mitzuarbeiten hätten, und sprachen es klipp und klar aus, dass sie an diesen Beratungen nicht als Vertreter der Landschaften, sondern als Private sich beteiligten. Diese Stellungnahme sollte die herrschenden Kreise verhindern, durch Hinweise auf die Tatsache, dass an der Abfassung dieses oder jenes Gesetzes Vertreter der Gesellschaft teilgenommen hätten, die öffentliche Meinung zu fälschen. Auch während dieser Beratungen brachten die Semstwomänner immer wieder ihre Grundgedanken zu scharfem Ausdruck, dass die Rechtlosigkeit der bäuerlichen Masse unbedingt ein Ende nehmen müßte, dass ferner die gesellschaftlichen Institute größerer Selbständigkeit bedürfen und dass die gesellschaftlichen Kräfte zur Anteilnahme an der Landesgesetzgebung heranzuziehen seien. Die Regierung setzte ihrerseits ihre Methode fort, sie begann neben der Zuziehung von Semstwomitgliedern in ihre Kommissionen immer häufiger die Landschaften nach der Zweckmäßigkeit projektierter partieller Reformen zu befragen. So tauchten denn von neuem im Semstwoleben die Fragen auf, welche in den siebziger und achtziger Jahren die Landschaftsmitglieder bewegt hatten, nämlich das Verlangen nach einer kleineren Semstwozelle und einer allständischen Wolost, nach Änderung des Semstwozusammensetzungsmodus, nach Erweiterung der Landschaftskompetenz und endlich die alte Forderung einer Beteiligung von Vertretern der Gesellschaftsinstitute an der Gesetzgebung.

Das große Interesse, welches diese Probleme in den achtziger Jahren im Leben zu erwecken vermocht hatten, trat zu Beginn dieses Jahrhunderts in bedeutend gesteigertem Maße hervor. Man muss jedoch dessen eingedenk sein, dass während der verstrichenen zwei Dezennien das gesellschaftlich-politische Leben Russlands kompliziertere Formen angenommen hatte, dass der politische Sinn nicht nur bei den Gebildeten, sondern selbst bei den Volksmassen bis zu einem gewissen Grade erwacht, während andererseits die bureaukratische Knebelung der Bauernschaft und der lokalen Selbstverwaltung bis auf die Spitze getrieben war. Kein Wunder darum, dass unter den geänderten Verhältnissen Spezialfragen, wie kleinere Semstwoeinheit, Umgestaltung der Semstwo Vertretung, wesentlich anders erörtert wurden. Bei weitem die meisten Semstwopolitiker sprachen sich für eine Annäherung der Landschaft an die Masse der Bevölkeung aus. Hierbei gab es zwei differierende Gruppen. Die einen, darunter auch Liberale, wie namentlich Prof. Kusmin-Karawajew (ein Twerer Landschaftsverordneter), sowie Slawophilen (hauptsächlich durch D. N. Schipow repräsentiert), meinten, dass vor der Umgestaltung des bäuerlichen Rechtszustandes und Abschaffung des gegenüber der Masse geübten Bevormundungssystems an die Festsetzung einer kleineren Semstwozelle nicht zu denken sei. Da das Volk zur Mitarbeit an den Semstwoangelegenheiten völlig unvorbereitet sei, würde das geistige und sozialpolitische Niveau der Landschaft mit Einführung der verkleinerten Einheit tief herabsinken, so dass in den Sachen der Landschaften eine völlig unkultivierte und rechtlose Masse ans Ruder kommen würde. Die anderen Semstwomitglieder, welche die Mehrheit bildeten, teilten diese Befürchtungen nicht; sie vertraten die Ansicht, dass die kleinere Semstwozelle im Volke eine Stütze für die Landschaft bilden und ein ausgezeichnetes Erziehungsmittel zur Gewöhnung der Bauernschaft an ein ausgeprägtes Selbstverwaltungssystem sein würde. Dementsprechend sprach sich auch die überwiegende Majorität der Semstwos für Aufhebung der durch Ordnung von 1890 verliehenen ständischen Vorrechte und gegen jegliche Beschränkung der Bauern Vertretung aus.

Die positiven Vorschläge der Landschaften liefen darauf hinaus, dass das Semstwo in Form einer Interessenvertretung, etwa wie sie in der Ordnung von 1864 verkörpert sei, gebildet werden sollte, mit anderen Worten, die Wähler sollten nach den Eigentumsarten in Kollegien zerfallen. Diese von einem sehr bedeutenden Teil der Semstwoverordneten verfochtene Ansicht spiegelt die Bourgeoisietendenz deutlich wider und ist ein richtiger Maßstab für die auch in Russland bereits hinreichend entwickelten Klassenunterschiede. Nur sehr wenige Semstwomitglieder verlangten eine etwas demokratischere Vertretungsform, die Einführung eines besonderen, ergänzenden Wahlmodus für ansässige Intellektuelle. Nicht nur allen denen, die über irgend eine Art Immobilienbesitz verfügen, sondern auch solchen, die kein unbewegliches Eigentum besitzen, aber eine gewisse Bildung (zumindest einer Mittelschule) aufzuweisen imstande und am Orte wenigstens 2 — 3 Jahre ansässig seien, sollte das Wahlrecht zustehen. Dadurch sollte nicht nur der Intelligenzgrad der Semstwovertreter gehoben werden, sondern es galt auch, der zahlreichen Kategorie der im Solde der Landschaft arbeitenden Personen, den angestellten Ärzten, Lehrern, Agronomen usw., jenen eifrigsten Mitarbeitern an den Semstwowerken und treuesten Förderern des Volkswohls, durch Gewährung einer einigermaßen gleichberechtigten Stellung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Eine recht bescheidene Lösung fand die wichtigste Frage, welche die Semstwokreise in jenen Jahren interessierte, nämlich das Problem einer Beteiligung von Semstwo Vertretern an der Gesetzgebungsarbeit der Regierung. Das bureaukratisch-reaktionäre System, welches v. Plehwe nach allen Seiten hin durchzuführen sich bemühte, war um diese Zeit so mächtig, dass die Erlangung irgend welcher grundlegenden Änderungen in der Staatsordnung mit kaum überwindlichen Schwierigkeiten verbunden zu sein schien. Es ist darum sehr erklärlich, dass die liberalen Semstwopolitiker als Männer des praktischen Lebens nur sehr bescheidene Forderungen erhoben, indem sie sich der Hoffnung hingaben, dass es den gesellschaftlichen Kräften auch durch allmähliches Streben gelingen würde, in die legislative Arbeit einzudringen. Denn erst Dank den Misserfolgen der russischen Regierung im Kampf gegen Japan trat die erschreckende innere Schwäche der Bureaukratie und die gewaltige Stärke der Gesellschaftsund Volkskräfte zutage. Von da ab wachsen die Ziele und Bestrebungen der Semstwomänner und spitzen sich zur bestimmten Forderung einer Verfassung zu.

Die gesellschaftliche Bewegung der allerletzten Zeit vermag man indes nur dann richtig zu beurteilen, wenn man die Regierungspolitik von Jahre 1904 in Sachen des Semstwo und den Kampf des letzteren gegen diese Politik in Betracht zieht. Wir gehen darum zu dem neuesten schmerzlichen Blatte in der Semstwogeschichte über.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Semstwo