Die Bedingungen für die Tätigkeit der Semstwoinstitutionen

. . . Das erste Auftreten der Semstwos. Die Reaktion und ihre allgemeinen Ursachen.

Viele Mängel der Ordnung von 1864 kamen mit dem Augenblick, da das Semstwo die Bahn der praktischen Tätigkeit betrat, sofort ans Licht. Schon bei seinen ersten Schritten musste es auf die Frage seines Verhältnisses zur Regierung stoßen. Auf diesem Boden begann ein ununterbrochener Kampf, der zugleich das Semstwo zu seiner politischen Bedeutung erhob.


Unter den wichtigsten Grundsätzen der neuen Semstworeform gab es zwei, die unvermeidlich die Landschaftsinstitutionen in einen Gegensatz zur herrschenden politischen Verfassung des Staates bringen mussten. Erstens war dem Semstwo das Recht nur auf wirtschaftliche Betätigung verliehen; zweitens war die vom Gesetz verkündete Selbständigkeit der Semstwoinstitutionen tatsächlich nicht fixiert worden, sondern im Gegenteil von Anfang an durch die Gesetzgebung selbst eingeschränkt. So stellt Artikel 9 der Ordnung von 1864 dem Gouverneur anheim, die Ausführung jedes Beschlusses der Landschafts Versammlungen der ,,den Gesetzen oder allgemeinen Staatsinteressen zuwiderläuft“, zu untersagen, während die Genehmigung der Gouverneure und des Ministers des Innern überhaupt für alle Beschlüsse der Semstwos erforderlich war. So mussten sie mit der Gewalt der Gouverneure in einen unmittelbaren Konflikt geraten. Diese Kämpfe waren noch aus dem Grunde für die Semstwoselbstständigkeit gefährlich, als das Gesetz keine Definition der ,,allgemein staatlichen Interessen“ gegeben, noch zwischen den wirtschaftlichen Angelegenheiten, die der Landschaft angewiesen sind, und denen, deren Behandlung ihm untersagt ist, die Grenzen abgesteckt hat. Den Semstwoinstitutionen lag nach der Ordnung von 1864 im Gegensatz zum staatlichen Prinzip ein soziales zugrunde, d. h. das Semstwo war kein Regierungsorgan, sondern ähnlich der Individualwirtschaft etwas vom Staate Gesondertes und Unabhängiges, wie dies auch in den ,,Erwägungen zur Semstwo Verfassung“ angedeutet ward.*) Von der Auffassung ausgehend, dass das Semstwo nur ein rein wirtschaftliches Organ sei, entzog man ihm die Zwangsgewalt und das Recht, selbstständig seine Beschlüsse auszuführen. Demgemäß wurden die Landschaftssteuern von der staatlichen Polizei eingezogen; desgleichen, so oft das Semstwo sich vornimmt, die Verbesserung der sanitären Verhältnisse in den Fabriken und Werken herbeizuführen oder die Qualität der auf den lokalen Märkten und Messen feilgebotenen Waren zu heben, oder auf den mangelhaften Unterricht in den Schulen seinen Einfluß auszuüben, vermag es dies nur durch die Vermittelung der Regierungsgewalt zu verwirklichen, die ihre Zustimmung geben, aber auch verweigern und folglich die Beschlüsse der Semstwos zunichte machen kann.

*) Arbeiten der Kommission über Gouvernements- und Kreiseinrichtungen, 2. Buch, Band II.

Selbst in einer so bescheidenen Sache, wie die Ausbesserung der Straßen, besaßen sie nur das Recht, ,,zwecks allgemeiner Verbesserung der Verkehrswege in den Gouvernements und Kreisen bei der örtlichen Polizei sowie der Gouvernementsbehörde ihre Instandsetzung zu veranlassen“, durften aber keine diesbezüglichen unmittelbaren Anordnungen treffen. So lautete eine Erläuterung des Senats vom 20. März 1869. Anfänglich hatte das Semstwo nicht einmal das Recht, obligatorische Bestimmungen für die Bevölkerung zu erlassen, und musste daher vieles durch die Vermittelung der örtlichen Regierungsorgane vollbringen, die ihm nach keiner Richtung unterstanden. Der örtlichen Verwaltungsgewalt der Gouverneure und der ihnen untergeordneten Institute waren auch nach der Einführung der Landschaftsinstitutionen viele Funktionen in bezug auf die lokalen Wohlfahrtsunternehmungen belassen. ,,Das Semstwo trägt die Fürsorge für die Volks Verpflegung; aber der Gouverneur ist ebenfalls verpflichtet, dafür Sorge zu tragen. . . . Dem Semstwo liegt die Fürsorge für die Volksgesundheit ob, aber sie ist auch eine direkte Pflicht der Gouverneure in Verbindung mit den Medizinalabteilungen der Gouvernementsbehörden. Das Semstwo ist berufen, für den Volksunterricht zu sorgen, aber gleichzeitig bildet es die Aufgabe der Direktoren des Volksschulwesens, die Regierungsbeamte sind.“*) In Anbetracht dieser Lage der Lokalverwaltung bemerkt Prof. Gradowski mit Recht, dass die den Landschaftsinstitutionen verliehene Selbständigkeit derjenigen der privaten Gesellschaften und Genossenschaften ähnlich ist, nicht aber der Selbständigkeit, welche Einrichtungen gebührt, die berufen sind, gewisse Angelegenheiten eines Gouvernements zu verwalten. Bedenkt man noch, dass das Semstwo überwacht wurde, dass einerseits die in der Vorreformzeit eingewurzelten Willkürund Kanzleiverschleppungsmethoden weiterherrschten, dass andererseits das Semstwo das natürliche Streben nach weiter Betätigung und möglichst bester Befriedigung der zahlreichen örtlichen Bedürfnisse besaß, an die die Regierungsbehörden nicht einmal dachten, die aber zugleich im engen Zusammenhang mit der allgemein staatlichen Ordnung standen, so wird uns der Antagonismus klar, der von Anbeginn der Semstwotätigkeit an zwischen der neuen Institution und der Regierung unbedingt entstehen musste, der die Landschaft in eine oppositionelle Stellung hineindrängte und die Regierung mit Mißtrauen gegen sie erfüllte.

*) A. D. Gradowski, Werke, B. IX, S. 515.

Zur Kennzeichnung der Bedingungen, unter welchen die Semstwoinstitutionen ihre Tätigkeit in Angriff nehmen mussten, wollen wir einige Tatsachen aus der unlängst (im Jahre 1904) veröffentlichten ,,Geschichtlichen Übersicht der Wirksamkeit des Cherssoner Gouvernementssemstwo“ (1865 — 1899) anführen. So schrieb z. B. das Landschaftsamt des Kreises Elisabethgrad in seinem Berichte über die ersten 1 1/2 Jahre seines Bestehens über die Stellung, welche die lokalen Regierungsorgane ihm gegenüber eingenommen hatten, folgendes: ,,Während das Kreissemstwoamt in der ersten Zeit nach seiner Begründung verhältnismäßig schnelle Erwiderungen auf seine Eingaben erhielt, war es in der Folgezeit nach und nach gezwungen, seine Gesuche immer zu wiederholen, um dann doch keiner Antwort gewürdigt zu werden, oder dieselbe zu spät zu bekommen.“ Als Beleg dafür führt es Fälle an, in denen es auf recht wichtige praktische Anfragen erst nach einem Jahre oder noch später Antwort erhielt. ,,Übrigens ist das Semstwoamt eher geneigt, das Eintreffen der Antworten nach Jahresfrist oder auch ihr völliges Ausbleiben mit in den Kauf zu nehmen, als eine häufige Korrespondenz zu pflegen, die, mit Widerwärtigkeiten und Beschwerden verbunden, keinen wesentlichen Nutzen erzielt. Eine ähnliche Schreiberei hatte es mit der Kreispolizeiverwaltung von Elisabethgrad zu führen.“ Andere Kreissemstwoämter, wie die von Alexandria und Chersson, stießen bei ihren ersten Schritten auf eine Reihe von Hindernissen, Schwierigkeiten und Mißbräuchen seitens der örtlichen Polizei hinsichtlich der Fuhrverpflichtung. Die Polizei verabfolgte ohne jede Scheu ihren zahllosen Kleinagenten Scheine auf den Gebrauch unentgeltlicher Fuhrdienste auf Rechnung des Semstwo. Die an die Gouvernementsbehörden gerichteten Beschwerden führten zu keinem Ergebnis; im Gegenteil, diese belehrten sogar die Polizei, wie das Gesetz zu umgehen sei, um auf Kosten der Landschaft oder der Bauern Wagennutzungen unentgeltlich zu bekommen. Das Kreissemstwo von Alexandria beschwerte sich beim Senat und ersuchte um Auslegung des Gesetzes über die Rechte des Semstwo bezüglich der Fuhrleistungen und um künftige Einschränkung der ungesetzlichen Ansprüche der Administration. Aber alle diese Beschwerden und Gesuche hatten keinen namhaften Erfolg zu verzeichnen.

Desgleichen fanden zwischen dem Gouverneur und der Landschaft von Chersson längere Zeit hindurch Auseinandersetzungen darüber statt, von wem und wann das Verschütten der Sümpfe auszuf?hren sei. Infolge Geldmangels weigerte sich das Semstwo, unverzüglich an diese Arbeiten heranzutreten, während der Gouverneur darauf drang und sogar eigenmächtig die Arbeiten auf Rechnung der Landschaft Dritten übergab. Proteste der Gouverneure gegen Beschlüsse der Semstwo Versammlungen waren in den ersten Jahren ungemein zahlreich. So erhob der bereits erwähnte Gouverneur von Chersson im Jahre 1865 Einspruch gegen 17 Beschlüsse der Kreislandschafts Versammlungen betreffend die allerverschiedensten Fragen, die alle ganz spezieller und lokaler Natur waren, so z. B. gegen den Budgetsatz von 1200 Rubeln für die Anstellung eines Technikers, eines Arztes, einer Hebamme und eines Veterinärs. Ohne sich mit den Protesten gegen die Beschlüsse der Landschaftsversammlungen zu begnügen, erteilte der Gouverneur dem Semstwo Verweise für die nach seiner Ansicht unrichtige Protokollierung der Verhandlungen. Dasselbe wiederholte sich bei vielen anderen Landschaften.

Alle diese Anzapfungen, die durchwegs geringfügige Fragen betrafen, waren natürlich dazu geeignet, das Semstwo zu reizen und mit Unwillen gegen die Regierung zu erfüllen. Besonders unangenehm für dasselbe waren jedoch die Weigerungen der administrativen Behörden, die von den Semstwoversammlungen gewählten Personen, die Vorsitzenden und Mitglieder der Semstwobehörden, in ihren Ämtern zu bestätigen. Der regierende Senat gab durch seine Erläuterung vom 16. Dezember 1866 eine recht weite Auslegung des Art. 69 der Ordnung von 1864, wodurch die Gouverneure das Recht der Nichtbestätigung jeder gewählten Person erhielten, welche als ihnen unzuverlässig in politischer Hinsicht erscheint. Man kann sich wohl denken, welch weiter Spielraum der Willkür der Gouverneure eröffnet wurde, wenn man erwägt, dass die Bestimmung der politischen ,,Unzuverlässigkeit“ nicht dem Gerichte, sondern ebenfalls der Administration überlassen war. Auf diesem Boden erwuchs eine Unmenge von Konflikten, und bei jedem Auflodern der Reaktion in den hohen Regierungssphären suchten die lokalen Behörden einen besonderen Eifer an den Tag zu legen, was dem Semstwo gegenüber in zahlreichen Protesterhebungen, häufiger Nichtbestätigung der gewählten und anderer amtlichen Semstwopersonen zum Ausdruck kam.

Den ersten schroffen und ernsten Kampf mit der Regierung hatte die St, Petersburger Gouvernementslandschaft auszufechten. Gleich nach der Enstehung der Semstwoinstitutionen, schon während der ersten ordentlichen Sitzungsperiode, gelangte die St. Petersburger Gouvernementslandschaftsversammlung zur Einsicht, dass es unumgänglich sei, die Quellen der Semstwoeinnahmen zu erweitern, und unterwarf die Vorschriften des Gesetzes betreffend die Rechte und Pflichten des Semstwo in den Fragen der Semstwobesteuerung einer Kritik. Von der Unbestimmtheit der einschlägigen Gesetzesvorschriften ausgehend, sprach sich die Petersburger Versammlung für die Notwendigkeit aus, die Regierung mit dem Ersuchen um Gründung eines Zentralsemstwoinstituts zwecks Verwaltung der Landschaftsabgaben im Reiche anzugehen. Zugleich faßte sie den Beschluß, die Semstwobesteuerung auch auf den Handel und die Gewerbe auszudehnen und zwar nach derselben Maxime, wie für den Grundbesitz, d. h. nach dem Ertrage der betreffenden Unternehmungen. Ebensolche Bestimmungen bezüglich der Besteuerung der Handels- und Gewerbeunternehmungen trafen viele andere Semstwo Versammlungen. Dies veranlasste die Regierung, zweifellos unter dem Einfluss von Großkapitalisten, zum Schutze der Industrie am 21. November 1866 ein Gesetz zu erlassen, wonach die Veranlagung der Handels- und Gewerbeunternehmungen mit der Landschaftssteuer nicht nach dem Werte oder Ertrage der Unternehmungen, sondern nach dem Werte der Räume, in denen diese Unternehmungen untergebracht sind, sich zu richten habe.

Dieses Gesetz unterband die Semstwotätigkeit, war zudem den Bodenbesitzern gegenüber ungerecht, weswegen es von vornherein auf Opposition stieß. Wieder war es die Petersburger Gouvernementsversammlung, die in der nächstfolgenden Tagung von 1867 das Gesetz einer scharfen Kritik unterzog, sowohl sein Wesen als auch die Unzulänglichkeit seiner bureaukratischen Ausgestaltung, und zuletzt den Beschluss fasste, ihr früheres Gesuch betreffs Heranziehung von Semstwo Vertretern zur Vorbereitung der Gesetze in einem zentralen Reichssemstwoinstitut zu erneuern. Diese Petition wurde von der Regierung mit einer Repressivmaßregel beantwortet, indem sie die Tätigkeit des Petersburger Semstwo inhibierte und einige Verordnete bestrafte. Der Vorsitzende der Petersburger Gouvernementssemstwoamtes, Kruse wurde nach Orenburg verschickt, der Semstwoverordnete Graf Schuwalow musste sich nach dem Auslande (nach Paris) zurückziehen, während ein anderer, der Senator Ljuboschtschniski, angewiesen wurde, seinen Abschied einzureichen.

Der Vorfall mit dem St. Petersburger Gouvernementssemstwo gab den Anlass zu zahlreichen weiteren, seitens der Regierung gegen die Landschaften gerichteten Repressalien. Und wenn auch die Ordnung von 1864 ursprünglich keine bestimmten, die Selbständigkeit der Landschaftsinstitute einschränkenden Vorschriften enthalten hatte, wurde das Semstwo durch die folgenden Repressivmaßregeln, die bald in Form von Gesetzen, bald durch Zirkulare oder Erläuterungen des Ministeriums des Innern vorgenommen wurden, an Händen und Füßen gefesselt. Das Gesetz vom 13. Juni 1867 erteilte den Vorsitzenden der Landschaftsversammlungen das Recht, Fragen, die die Grenzen der lokalen Bedürfnisse und Interessen überschreiten, von der Tagesordnung abzusetzen, sowie Versammlungen als geschlossene, d. h. als nicht öffentliche, zu erklären. Werden jedoch in einer Versammlung, in der die Öffentlichkeit nicht aufgehoben ist, Fragen allgemein staatlicher Natur zur Diskussion gestellt, so unterliegt der Vorsitzende der Bestrafung nach Artikel 64 der Strafordnung. Die Verordnungen des Ministeriums des Innern in Form von Rundschreiben vom 12. Oktober 1866, 28. August 1868 und 20. Oktober 1870, sowie das Gesetz vom 4. Juli 1870 stellten verschiedene Semstwobeamte in Abhängigkeit von Regierungsorganen: die Landschaftsärzte und -Pharmazeuten von der staatlichen Medizinalverwaltung (Medizinalämtern) und vom Gouverneur, die Kuratoren der Elementarschulen von den Schulkollegien, die Lehrer von den Regierungsinspektoren der Volksschulen. Durch Gesetz vom 19. August 1879 wurde den Gouverneuren das Recht eingeräumt, nicht nur die Bestätigung der besoldeten Semstwobeamten zu verweigern, sondern sie direkt ihrer Ämter zu entheben, wenn die Betreffenden ihnen ,,unzuverlässig“ erscheinen sollten. Besonderes Misstrauen brachte die Regierung den Landschaften in Sachen des Volksunterrichts entgegen. Hatte doch das Semstwo in den ersten Jahren seiner Tätigkeit der Volksaufklärung die stärkste Aufmerksamkeit zugewandt. Die Masse der bäuerlichen Bevölkerung bestand damals durchwegs aus Analphabeten und war völlig unkultiviert, wodurch als eine der Hauptursachen alle sonstigen Maßnahmen erschwert wurden.

Allein gerade hierin wurden dem Semstwo die meisten Hindernisse in den Weg gelegt, besonders seit der Ernennung des Grafen D. A. Tolstoi zum Minister für Volksaufklärung. Im Jahre 1869 errichtete die Regierung das Amt der Volksschulinspektoren, welche die Befugnis erhielten, Volkslehrer wegen politischer ,,Unzuverlässigkeit“ aus dem Dienste zu entlassen und Beschlüsse des Schulkollegiums zu annullieren. Im Jahre 1874 wurde ein neues Volksschulgesetz erlassen, welches die Macht der staatlichen Volksschulinspektoren und -Direktoren noch erhöhte, während das Schulkollegium, eine nach dem Gesetz von 1864 aus einem Regierungsvertreter, aus Semstwomitgliedern und Kuratoren zur Verwaltung des Unterrichtswesens in den Volksschulen bestehende kollegiale Einrichtung, das Recht, seinen Vorsitzenden wie früher zu wählen, einbüßte und den Adelsmarschall zum Präsidenten erhielt. So überließ die Regierung dem Semstwo im Schulwesen nur die wenig verlockende Aufgabe, einzig und allein die wirtschaftliche Seite zu leiten, Schulhäuser zu errichten, an das Lehrpersonal das Honorar auszuzahlen, Bücher und Schreibutensilien anzuschaffen. Alles, was über diesen Rahmen hinausging, wurde ihm strengstens untersagt. So oft das Semstwo den Versuch machte, irgend einen Einfluß auf den Unterricht in den Schulen auszuüben, die Interessen des Lehrpersonals wahrzunehmen oder die Auswahl von Lehrund Lesebüchern zu bestimmen, stieß es bei allen solchen Anordnungen auf Einwendungen der Gouverneure und Schwierigkeiten seitens der Schulinspektoren und -Direktoren, und wenn es sich dann schließlich mit Gesuchen an die höheren Regierungsinstanzen wandte, so wurden solche in der Regel abgewiesen. Was die Petitionen des Semstwo anbetrifft, so schenkte ihnen die Regierung überhaupt ein äußerst geringes Maß von Aufmerksamkeit. Von dem durch die Ordnung von 1864 dem Semstwo verliehenen Rechte, die Regierung in Sachen der lokalen Bedürfnisse und Interessen anzugehen, machten die Landschaften von Anfang an den weitgehendsten Gebrauch, zumal da sowohl die Unvollkommenheiten der Semstwoordnung als auch die zahlreichen Bedürfnisse der verschiedenen Zweige der neuen landschaftlichen Wirtschaft Gesetzesänderungen und Regierungshilfe unbedingt erforderlich machten. Indessen wurden über 50% aller eingereichten Gesuche in der Regel abschlägig beschieden, während von den Gesuchen bezüglich der Semstwo-Verfassung (Organisation, Zusammensetzung und Befugnisse der Semstwo Versammlungen und -Behörden) im Laufe der ersten 18 Jahre ein solches Schicksal sogar über 75% traf; desgleichen betrug der Prozentsatz der abgelehnten Gesuche in Sachen der Hebung des Volksunterrichts über 60%.*) Systematisch wurden natürlich alle Gesuche, die keine ausschließlich lokale Bedeutung hatten, abgewiesen, so die Petitionen um Abschaffung der körperlichen Strafen für die Bauern, um die Organisation einer kleineren Semstwozelle als die des Kreises, oder selbst solche Gesuche, wie dasjenige um die Nichtzulassung von rückständigen Semstwozensiten zur Semstwo Vertretung usw.

*) N. Karyschew, Die Semstwopetitionen in den Jahren 1865 — 1884, S. 4.

Noch unversöhnlicher war das Verhalten der Regierung gegenüber den Bestrebungen der Landschaften, sich durch Konferenzen von Vertretern oder Publikation eines allgemeinen Semstwoorganes zu konsolidieren. Die Gesuche dieser Art fanden ausnahmslos bis in die letzten Jahre hinein kein Gehör.

Diese dichte Atmosphäre des Mißtrauens seitens der Regierung, alle Beschränkungen der Selbständigkeit des Semstwo, die bereits die ersten Schritte seiner Tätigkeit begleiteten, sind, abgesehen von den schon erwähnten Ursachen, die im Wesen der Selbstverwaltung und seiner Unvereinbarkeit mit der herrschenden Staatsordnung enthalten sind, durch die damalige Gesamtlage des Landes und durch die allgemeine politische Wirksamkeit der Regierung und der gesellschaftlichen Kräfte zu erklären.

Zwar hatte die russische Regierung anfangs der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sich auf den Weg der Reformen begeben, aber sie verfolgte diesen Weg nicht bis zur endgültigen Durchführung ihrer ursprünglichen Absichten, sondern kehrte sehr bald auf die Bahn der Reaktion zurück. Die Bauernemanzipation war wohl mit der Gewährung von Landanteilen verbunden, aber die Bedingungen, unter denen dies geschah, waren recht schwere: die Bauern waren gehalten, den ihnen zugewiesenen Boden innerhalb einer bestimmten Anzahl Jahre zu einem äußerst hohen, den Marktwert des Bodens beträchtlich übersteigenden Preis abzulösen. Die Semstworeform war ebenfalls recht unvollkommen, die Reform der Preßgesetze entsprach noch viel weniger den Wünschen der Gesellschaft. Die Regierung schreckte vor dem eingetretenen gesellschaftlichen Aufschwung zurück und konnte nicht den neuen Bestrebungen und den sich schnell entwickelnden Bedürfnissen des Landes gerecht werden. Sie wählte den alten, bewährten Weg der bureaukratischen Verwaltung und hintertrieb jede bedeutendere Äußerung der öffentlichen Tätigkeit. Die Schmälerung der Preßfreiheit, die Beengung der lokalen Selbstverwaltung, alle Hindernisse, welche von der Regierung ins Werk gesetzt wurden, um eine Annäherung der Gebildeten an das Volk, um ihre Versuche, es zu belehren, ihm zu helfen und ihm das Verständnis für die umgebende Wirklichkeit, seine Lage und deren Ursachen beizubringen, illusorisch und unmöglich zu machen — alles dies zusammen weckte den Widerspruch der gesellschaftlichen Kräfte sowohl liberaler als revolutionärer Richtung. Die in den früheren Ausführungen gekennzeichneten Verhältnisse jener Zeit brachten es dahin, dass die Revolutionäre es sich zur Hauptaufgabe machten, an der Umgestaltung der ökonomischen Zustände des Volkes, vornehmlich der Bauernschaft, zu arbeiten. Diese Bewegung der ,,Volkstümler“ (Narodniki), die anfangs der sechziger Jahre aufgetaucht war, entwickelte sich ziemlich schnell und gelangte in den siebziger Jahren zu besonderer Blüte, als ein beträchtlicher Teil der studierenden Jugend zwecks Propaganda des Sozialismus ,,in (unter) das Volk“ ging.

Am 4. April 1866 fand der erste Anschlag auf das Leben Alexanders II. statt. Der Attentäter war Karakosow, der gleichfalls dem Kreise der revolutionären Narodniki angehörte. Das Ergebnis war die Stärkung der Reaktion, aber gleichzeitig das Wachstum der revolutionären Bewegung und der allgemeinen oppositionellen Stimmung.

Die revolutionäre Bewegung hatte jedoch bei den Volksmassen keinen Erfolg, und die Befürchtungen der Regierung waren zu übertrieben. Ende der siebziger Jahre ändern die Revolutionäre ihre Taktik und machen zu ihrem Hauptprogrammpunkt den politischen Kampf, als dessen wichtigstes Mittel sie den Terror wählen, um ihn zuerst gegen die hervorragendsten Vertreter der Regierung und dann gegen den Zaren selbst zu richten. War der Schuß Karakosows eine vereinzelte Aktion gewesen, so nimmt der Terror zum Schluß der siebziger Jahre einen systematischen Charakter an. Hand in Hand mit der revolutionären Tätigkeit ging auch die Reaktion in die Höhe. Aber in ihrem Kampfe gegen die Revolutionäre schonte die Regierung auch die Liberalen, namentlich die Semstwokreise, nicht, von der Annahme ausgehend, dass die Liberalen den Nährboden der revolutionären Bewegung abgeben. Das Misstrauen der Regierung war dadurch hervorgerufen, dass das Semstwo gerade in der Bauernschaft, auf die seine Wirksamkeit hauptsächlich gerichtet war, oppositionelle Kräfte erweckte. Es errichtete nicht nur Volksschulen und Krankenhäuser, es ging auch an die Untersuchung der wirtschaftlichen Lage der bäuerlichen Bevölkerung. Für alle diese Arbeitszweige waren gebildete Kräfte am Orte, auf dem platten Lande erforderlich. Dazu fanden sich nicht wenige Personen mit Mitteloder Hochschulbildung, die diese Arbeiten nicht so sehr um des Verdienstes, als um der Idee halber übernahmen und sich ganz und gar dem Volke widmeten. Diese Männer vermochten natürlich nicht, einer Regierung Vertrauen einzuflößen, die den Weg der Reaktion betreten hatte, und das Mißtrauen wurde von diesen Personen auf das Semstwo selbst, das sie in seinem Dienste hielt, übertragen. Besonders gefürchtet waren die Volksschullehrer, die nach Ansicht der Regierung auf das Volk am ehesten einen schädlichen Einfluß ausüben konnten. Am 25. Dezember 1875 erschien ein Allerhöchster Erlaß an das Ministerium der Volksaufklärung, in welchem Alexander II. der Befürchtung Ausdruck gab, dass die Volksschule infolge ungenügender Beaufsichtigung das Volk in schädlichem Geiste beeinflussen könnte; einige Versuche dieser Art seien bereits aufgedeckt. Dem Minister wurde befohlen, ,,sich an die Adelsmarschälle zu wenden, um sie zu veranlassen, durch ihre unmittelbare Betätigung als Kuratoren an den Volksschulen in ihren Gouvernements und Kreisen und auf Grund der Rechte, die ihnen eine besondere Ordnung verleihen werde, zur Sicherung des moralischen Einflusses dieser Schulen, sowie zur guten Einrichtung und Vermehrung derselben das Ihrige zu tun“ (Regierungsbote, 1873, No. 306).

Auf dem Boden solcher Verdächtigungen ersteht die Verfolgung der Landschaften und ihrer tätigen Elemente. Volksschullehrer und mit ihnen andere aktive Kräfte des Semstwo und schließlich das gesamte Semstwo geraten in den Verdacht aufrührerischer Gelüste, die Tätigkeit der Landschaft wird gehemmt, ihre Bewachung, sowohl die spezielle als die allgemein polizeiliche, verschärft. Unzweifelhaft beruhten alle diese Verdächtigungen auf Übertreibungen. ,,Was für eine merkwürdige Vermengung des Nihilismus und der Semstwoinstitutionen! Und doch ist es geschehen, da ja die St. Petersburger Landschafts Versammlung wie irgend eine geheime nihilistische Gesellschaft aufgehoben worden ist,“ schrieb ein Zeitgenosse, der frühere Zensor und Professor A. W. Nikitenko, über die obenerwähnte Schließung des Petersburger Semstwo.*)

*) A. W. Nikitenko: „Eigen-Erlebtes“, Aufzeichnungen und Tagebücher, B. II, S. 323.

Die reaktionäre Regierungspolitik war natürlich nicht nur weit davon entfernt, der Entwicklung der selbsttätigen Kräfte der Gesellschaft förderlich zu sein, sie setzte vielmehr die Verschärfung der bureaukratischen Zentralisation voraus. Die Regierung schenkte nunmehr nur noch ihren Handlangern, den Gouverneuren und der Polizei, Vertrauen, die bei der Entscheidung vieler lokaler Angelegenheiten, namentlich aber bei den Fragen nach der politischen Zuverlässigkeit der im öffentlichen Leben wirksamen Personen zu Hauptrichtern wurden.

Die Semstwos konnten nun ihrerseits ebenfalls nicht passiv bleiben, zumal da die lokale Selbstverwaltung in der Fassung von 1864 bei allen, von uns mehrfach betonten Mängeln gegen die sich entwickelnde administrative Zentralisation eine gegensätzliche Stellung hatte einnehmen müssen. Trotz aller Ungleichartigkeit der Semstwozusammensetzung, bei der es nicht wenige gab, die nicht nur konservativer, sondern sogar reaktionärer Gesinnung huldigten, war die allgemeine Richtung der Semstwowirksamkeit und der Landschafts Versammlungen eine liberale, und in diesen Reihen begann das Streben nach einer Konstitution sich zu regen. Der Semstwoliberalismus kam hauptsächlich in alleruntertänigsten Adressen, die die Landschaft bei Gelegenheit besonders wichtiger Staatsereignisse an den Kaiser richtete, sowie zum Teil auch in einigen allgemeinen Beschlüssen und Gesuchen an die Regierung zum Ausdruck.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Semstwo