Das Jahr 1904 - Die Vergewaltigung des Twerer Semstwo

. . . Die Revision der Landschaftsinstitute. Eine Erklärung des Ministers des Innern, Fürsten Swiatopolk-Mirski. Die Aufnahme derselben durch die Landschaften. Die Semstwokonferenz vom 6. — 9. November. Die letzte Session der Gouvernementssemstwoversammlungen.

Das Jahr 1904 ist im Leben des Semstwo wohl das schwerste und zugleich das bedeutendste. Denn nie vorher hatten die in ihm wirkenden Männer solche Energie gezeigt, nie vorher die völlige Umgestaltung der russischen Rechtsverhältnisse zu einer so kategorischen Frage erhoben.


Im Jahre 1903 waren hartnäckige Gerüchte im Umlauf gewesen, dass die Regierung sich mit der Absicht trage, die Landschaften, namentlich die Gouvernementslandschaften, abzuschaffen. Und diese Gerüchte waren durch die in jenem Jahr vorgenommene Gesamtrevision des Twerer Gouvernementssemstwo, des Nowotorschoker Kreissemstwo und aller Landschaften des Gouvernements Moskau gerechtfertigt. Allein, trotzdem die zu erwartenden Ergebnisse der von der Verwaltung vorgenommenen Revision die Semstwopolitiker bis zu einem gewissen Grade beunruhigten, vermochte doch niemand an solche Dinge zu glauben, wie sie im Jahre 1904 eingetreten sind. Durch Ukas vom 8. Januar wurden der Minister des Innern und der Twerer Gouverneur mit speziellen Vollmachten bezüglich des Twerer Gouvernementssemstwo und des Nowotorschoker Kreissemstwo versehen. Der Minister des Inneren erhielt die Befugnis, alle gewählten Beamten der Landschaftsbehörden von Twer und Nowotorschok ihrer Ämter zu entsetzen und statt der wählbaren Vorsitzenden und Mitglieder Leute nach eigenem Ermessen zu ernennen, ferner die projektierten außerordentlichen Versammlungen nicht zuzulassen, dem Twerer Gouvernementssemstwo für das Jahr 1904 dasselbe Budget und die gleichen Einzeletats der Ausgaben, wie im vorangegangenen Jahre, vorzuschreiben, die laufenden Geschäfte der Landschaften von Twer und Nowotorschok, die in außerordentlichen Versammlungen beraten werden sollten, Kraft Artikel 95 der Semstwoordnung, d. h. durch Gouverneursverordnungen, zu erledigen. Dem Minister wurde sodann das Recht eingeräumt, Personen, die auf den Gang der Landschaftsverwaltung einen schädlichen Einfluss ausübten, innerhalb des Gouvernements Twer den Aufenthalt zu verbieten, und selbst die Gouverneure bekamen die Befugnis, vom Landschaftsdienst alle diejenigen Elemente fernzuhalten, die für die öffentliche Ruhe und Ordnung verderblich wären. Diese beiden rigorosen Maßnahmen blieben auch nicht auf dem Papier. Der Vorsitzende des Twerer Gouvernementslandschaftsamtes, von Dervis, sowie die Mitglieder Miljukow und Litwinow, sowie einige Gouvernementssemstwo verordnete, z. B. Petrunkewitsch u. a., verfielen der Verbannung, und sehr viele Beamten und Angestellte des Twerer Semstwoamtes und der Nowotorschoker Kreislandschaft, namentlich Lehrer, wurden ihrer Posten enthoben und gleichfalls in die Verbannung geschickt. Empört über diese schnöde Behandlung der Kollegen und ungerechte Willkür, verzichteten darauf viele Beamte freiwillig auf ihren Semstwodienst unter den neuen Verhältnissen. Auf die kurz darauf in den Zeitungen erschienenen Annoncen, in denen Lehrer, Ärzte, Agronomen, Statistiker usw. verlangt wurden, die willens wären, in den Dienst der Semstwos von Twer und Nowotorschok zu treten, meldeten sich nur sehr wenige gefügige Aspiranten. So waren denn die genannten Landschaften fast gesprengt. Eine solche Hetze auf die "inneren Feinde“ wurde beinahe am Vorabende des Abbruches der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Russland und des Überfalles unserer Schiffe durch die Japaner vom 27. Januar (9. Februar n. St.) inszeniert. Auf einzelne Landschaften, die mit ihrer ordentlichen Sessionsarbeit sich verspätet hatten und noch tagten, übten beide Überfälle eine äußerst deprimierende Wirkung aus.

Der Krieg mit den Japanern schien anfangs alle anderen Angelegenheiten zu verdrängen. Innere Fragen erweckten nur noch ein untergeordnetes Interesse. Selbst die Semstwos waren vom allgemeinen patriotischen Strudel fortgerissen. Die noch tagenden drückten kurz vor Sessionsschluß, die anderen in außerordentlichen Tagungen dem kämpfenden Vaterlande, sei es durch alleruntertänigste Adressen, sei es durch Spenden für verschiedene Kriegszwecke, ihre Sympathien aus. Neben der Betonung patriotischer Gefühle und zuversichtlicher Siegesgewißheit äußerten viele von ihnen die Hoffnung, dass Russland aus dieser Prüfung gestärkt und verjüngt hervorgehen würde. Was allerdings die Geldunterstützungen der Semstwos für die Bedürfnisse, welche der Krieg hervorruft, anbetrifft, so herrschte in dieser Hinsicht keineswegs Einstimmigkeit.

Ein Teil der Gelder wurde dem Roten Kreuz für seine den Kranken und Verwundeten gewidmete Hilfstätigkeit zur Verfügung gestellt, ein anderer Teil — und zwar der allergrößte — war zur Sicherstellung der Familien der Einberufenen, Getöteten und Verwundeten (darin sind noch die durch die späteren Mobilisierungen hervorgerufenen Ausgaben nicht mitgerechnet), sodann zur Organisation einiger Sanitätskolonnen, für die gemeinschaftliche Hilfsorganisation der Landschaften im fernen Osten und schließlich für sonstige Bedürfnisse der Armee, hauptsächlich der Flotte, bestimmt. Die Gewährung von Geldern für die gemeinschaftliche Hilfssorganisation und für die Flotte erregte scharfen Widerspruch, allerdings auf recht entgegengesetzten Seiten. Während einerseits die höchste Verwaltung, unsere "Stützen“, in ihrer Presse und die falschen Patrioten unter den Semstwomitgliedern die Sondertätigkeit der Landschaften hinsichtlich der Hilfsaktion verdammten, protestierten die fortgeschrittenen Gesellschaftskreise und progressiven Semstwomitglieder gegen die Geldunterstützungen für die Flotte. In der Gouvernementssemstwoversammlung von Kaluga, z. B. erhob der Landschaftsverordnete Obninski gegen eine derartige Verwendung von Landschaftsmitteln lebhaften Widerspruch und stützte sich dabei auf die von Admiral Tschichatschow in der Kalugaer Adelsversammlung geäußerte Auffassung von der Nutzlosigkeit von Privatsammlungen für die Flotte. Das Kreislandschaftsamt von Ustjug (Gouvernement Nischni-Nowgorod) sprach sich in seinem Bericht an das Plenum kategorisch gegen die Gaben zu Flotten- und Kriegszwecken aus, da alle diese Bedürfnisse den Staat, keineswegs jedoch die Lokalverwaltungen angehen. Immerhin gewährten von den 27 Gouvernementssemstwos, von denen uns Daten zur Verfügung stehen, 12 Unterstützungen zugunsten der Flotte. Außerdem übermittelten die Landschaften von Charkow, Kaluga, Jekatineroslaw sehr bedeutende Summen für den Krieg überhaupt, darunter also auch für die Flotte. Die Gesamtsumme der Semstwobeiträge für alle Arten von Bedürfnissen, welche zum Krieg in irgend einer Beziehung stehen, beläuft sich unseres Wissens auf über 6 1/2 Mill. R., von denen etwa 1 Million der Flotte zugute kam.

Besondere Beachtung verdient die von den Landschaften organisierte Hilfsaktion zugunsten der Kranken und Verwundedeten im fernen Osten. Bei dieser Gelegenheit konnte man wie in einem Spiegel die ganze Verwirrung und Unbeständigkeit der gegenwärtigen russischen Staatspolitik sehen, eben jener Politik, die ein Teil der russischen Presse und zahlreiche öffentliche Versammlungen am Ende des verflossenen Jahres nach gar vielen Richtungen hin, auch was ihre ursächliche Grundlage betrifft, so unheimlich bloßgestellt hat.

Die Initiative zur vereinigten Semstmoorganisation zwecks gemeinsamer Hilfstätigkeit für die Verwundeten und Kranken im fernen Osten ging vom „aktiven Ausschuss des Moskauer Gouvernementssemstwo zur Befriedigung von durch den Krieg bewirkten Bedürfnissen“, an dessen Spitze Schipow stand, aus. Diese sowohl von Landschaftsvertretern als auch von Adligen und Städten ins Leben gerufene unabhängige Hilfsorganisation war vor allem eine Folge des Mißtrauens, das die Gesellschaft dem speziell zu diesem Zwecke bestehenden Roten Kreuze entgegenbrachte, wozu die klare Empfindung und Erkenntnis von der Notwendigkeit einer unmittelbaren, selbsttätigen Mitarbeit an allen Werken, die Russland im großen Unglück irgend eine Erleichterung schaffen können, sich hinzugesellte. Die Idee der vereinigten Semstwohilfsaktion erweckte großen Beifall bei vielen Landschaften, die dafür in ihren außerordentlichen Februartagungen recht bedeutende Summen aussetzten. Sofort erblickte die höhere Verwaltung in diesem Schritte verräterische politische Zwecke, und die rückschrittlichen „Moskowskija Wjedomosti“ begannen ihr altes Lied von den „Intriguen“ Schipows. Er scheue nicht davor zurück, klagte das Blatt, selbst in eine so heilige Sache, wie Erweisung von Hilfe an kranke und verwundete Krieger, Politik hineinzutragen. Der ausführende Ausschuß des Roten Kreuzes geriet ebenfalls in Aufregung, und schon begann man davon zu reden, dass das Semstwo unter das Rote Kreuz unterzuordnen sei. Da überreichten am 7. März die Vertreter von acht Gouvernementslandschaften, die sich in Petersburg versammelt hatten, dem Grafen Woronzow-Daschkow, dem Vorsitzenden des aktiven Ausschusses des Roten Kreuzes, ein Memorandum, in dem sie die für die gemeinschaftliche Semstwohilfsaktion angenommenen Beschlüsse und die Beziehungen, in welche sie zum Roten Kreuz zu treten geneigt seien, auseinandersetzten. Gemäß diesem Memorandum besitzt die Hilfsorganisation der vereinigten Landschaften in Moskau ihr vollziehendes Organ, bestehend aus Vertretern der beteiligten Landschaften, und außerdem ihre Bevollmächtigten auf dem Kriegsschauplatze. Diese Organisation stellte sich die Aufgabe, im fernen Osten durch eigene Abordnungen sanitäre Hilfe zu erteilen und am Verpflegungswerk mitzuarbeiten. Die Semstwobevollmächtigten sollten für den Bedarf ihrer Einrichtungen aus den Lagern des Roten Kreuzes Produkte entnehmen können, wie andererseits dem Roten Kreuze auf die Semstwolager das gleiche Recht zustehen sollte; ferner sollte am ausführenden Ausschuß ein Semstwovertreter teilnehmen. Diese Erklärung wurde im allgemeinen vom Ausschusse des Roten Kreuzes angenommen. Als ihren Vertreter designierten darauf die Landschaften A. P. von Rutzen. Der ausführende Ausschuss des Roten Kreuzes bedang sich dagegen u. a. aus, dass ihm die Listen aller von den Landschaften zum Dienste in den Abordnungen herangezogenen Personen zur Genehmigung vorliegen sollten; allerdings sollten dabei die Listen nicht etwa mit Informationen der Polizei und der Verwaltung versehen sein. So trat denn die Semstwoorganisation in den ersten Tagen des März an den Beginn ihrer Tätigkeit heran. Zu jener Zeit hatten sich ihr bereits 11 Landschaften angeschlossen. Ihnen folgten kurz darauf noch andere, so dass deren Zahl im April auf 15 Weg, die insgesamt über mehr als 1.100.000 Rubel verfügten. Außerdem hatten die Gouvernementslandschaften von Perm und Olonetz ebenfalls die Absicht kundgegeben, sich dem gemeinschaftlichen Werke anzuschließen.

Da berichtete völlig unerwartet in der Sitzung des ausführenden Ausschusses der Semstwos Fürst G. E. Lwow, dass er sich dem Kaiser als Bevollmächtigter der allgemeinen Semstwohilfsorganisation vorgestellt habe. Der Zar habe seine Sympathien für das ganze Unternehmen und die beteiligten Semstwokreise ausgedrückt und dem Personal der Landschaftsabordnungen "seinen Reisesegen und seine Wünsche für einen Erfolg der heiligen Sache der Menschenliebe zu übermitteln“ befohlen. *)

*) Siehe ,,Saratower Serastwowoche“, H. 3, 1904, S. 62.

Andererseits aber teilte der Landschaftsverordnete D. N. Schipow der beratenden Versammlung den Vorschlag des Ministers des Innern vom 17. April mit, wonach erstens die vereinigte Semstwoorganisation angewiesen wurde, über alle ihre Absichten vor ihrer Verwirklichung dem Ministerium des Innern einen Bericht zugehen zu lassen, wonach zweitens „in keinem Fall weitere Vereinbarungen zwischen der Konferenz und den der Organisation zurzeit noch nicht angehörenden Landschaften zuzulassen seien,“ und wonach drittens die Listen der an den Semstwodetachements beteiligten Personen zur Bestätigung eingereicht werden sollten. Man! denke sich nun die Lage der vereinigten Semstwoorganisation und der Landschaften, die im Begriffe waren, sich ihr anzuschließen! Die Folgen der ministeriellen Verfügung ließen auch nicht auf sich warten. Die Beschlüsse der Versammlungen betreffs Gewährung von Mitteln an die vereinigte Organisation wurden von den Gouverneuren häufig beanstandet, und die üblichen Erschwerungen in der Bestätigung der Ärzte, ärztlichen Gehilfinnen usw. hemmten das Hilfswerk. In vielen Fällen warnten die Gouverneure die Vorsitzenden der Landschaftsbehörden persönlich davor, bezüglich des Anschlusses an die vereinigte Organisation in den Landschaftsversammlungen Bericht zu erstatten oder Vorschläge zu machen, wobei sie sich auf das Rundschreiben des Ministers des Innern beriefen, ohne jedoch seinen Wortlaut selbst anzugeben. Gegen diese Scherereien wehrten sich die Semstwokreise durch Berufung auf die Legalität ihrer Handlungsweise. So wandte sich der stellvertretende Vorsitzende der Gouvernementslandschaftsbehörde von Saratow, P. P. Podjapolski, gegen einen auch von der genannten Behörde gebilligten Protest des Gouverneurs, worin dieser dem Semstwobeschluß vom 27. Mai betreffs Aussetzung. von 15.000 Rubel für das Semstwohilfswerk beanstandet hatte, u. a. mit etwa folgenden Gründen:

1. Die Semstwoorganisation existiert nun einmal, nachdem sie durch die Macht der Ereignisse ins Leben gerufen worden sei;

2. sie ist im vollen Einklang mit dem Art. 3 der "Semstwoordnung“, welcher dem Semstwo die Fürsorge für das Wohl und die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung überläßt, da die Beteiligung jeder Landschaft durch die Verwundeten gerechtfertigt ist, die auf ihre Unterstützung berechtigten Anspruch haben;

3. ist sie der allerhöchsten, gegenüber dem Fürsten Lwow geäußerten Billigung gewürdigt worden, die in letzter Zeit auch dem Semstwo von Bessarabien, trotz des Protestes des betreffenden Gouverneurs, zuteil geworden ist, als es sich der Organisation angeschlossen hatte.“ *) Diese schiefe Situation des Semstwo bei seinen Hilfsaktionen dauerte bis in den Oktober hinein, als das Verbot des verstorbenen Ministers des Innern v. Plehwe inoffiziell aufgehoben und die Tätigkeit der vereinigten Semstwoorganisation von dem oberkommandierenden Feldherrn Gen.-Ad. Kuropatkin gebilligt wurde. In der Tat erwies sich, nach dem Zeugnisse sowohl verschiedener Heeresführer als auch der Zeitungskorrespondenten, die Arbeit der Landschaftsabordnungen auf dem Kriegsschauplatz höchst wertvoll.

*) „Saratower Semstwowoche“, H. 5, S. 8.

Der Anteil des Semstwo an den Lasten des Krieges beschränkte sich jedoch bei weitem nicht auf die Gewährung von Unterstützungen und die Hilfsaktion auf dem Schauplatz der Ereignisse. Als eine ungemein schwere Bürde legte sich auf viele Landschaften die Fürsorge für die Familien der nach dem Kriegsplatz Berufenen, da es sich nicht nur um recht bedeutende Geldausgaben, sondern auch um Inanspruchnahme der Kräfte des Semstwo für diesen Zweck handelte. Die Ausgaben der Landschaften erwiesen sich als so groß (laut Berechnung kann als durchschnittliche Mindestausgabe eines Gouvernements, eine halbe Million, in einzelnen, so z. B. im Charkower, sogar der Betrag von ca. 2 Millionen Rubeln gelten), dass sie diesen ungeheuren Lasten absolut nicht gewachsen waren. Sehr viele Landschaften wandten sich denn auch an die Regierung mit dem Ersuchen, die drückenden Spezialausgaben in das Staatsbudget zu übernehmen. Die Verteilung der Unterstützungen lag den Kreislandschaftsbehörden ob, die auf dem Lande durch die Vermittlung der Wolostverwaltungen, in den Städten durch die Polizei über die Bedürftigkeit der notleidenden Familien der in den Krieg Berufenen Ermittlungen anstellen und die angegangenen Angaben durch die Landschaftsbehörden noch überprüfen ließen.

So waren denn die Pflichten, die für die Landschaften, namentlich zu Beginn des Krieges, entstanden waren, ungemein drückende. Aber noch stärkere Verluste erwuchsen für sie infolge der Entsendung vieler Semstwoangestellter, insbesondere von Ärzten und Tierärzten, nach dem Kriegsschauplatz. Mehrere von ihnen sahen sich sogar genötigt, ihre Krankenhäuser und Ambulatorien längere Zeit ohne Ärzte zu belassen, und die Zeitungen waren von Annoncen über freie Ärztestellen überfüllt. Selbst Vorsteher von speziellen Abteilungen, so Vorsteher des Sanitätsbureaus an den Gouvernementslandschaftsbehörden, Oberveterinärärzte usw., wurden in den Krieg berufen, und die Bemühungen der Landschaften, für solche Personen Befreiung von dem Kriegsdienst zu erwirken, blieben in den meisten Fällen ohne Erfolg.

Das allgemeine Verhalten des Semstwo dem Kriege gegenüber, das anfangs in patriotischen Kundgebungen und Spenden zutage getreten war, wurde allmählich, entsprechend der in der ganzen Gesellschaft eingetretenen Wendung, ein ganz anderes. Dieser Wechsel in den Ansichten des Semstwo änderte auch seine Haltung in der Frage der Gewährung von Unterstützungen für die Familien der zum Kriegsdienst berufenen Personen. Die Landschaften betrachteten nunmehr den Krieg als eine allgemeine, von der friedlichen lokalen Kulturarbeit weit abliegende reichspolitische Angelegenheit, von der sie sich sagen mussten, dass sie deren Entstehung ebensowenig, wie die gesamte Politik, durch welche das schreckliche Unglück heraufbeschworen war, in irgend einer Weise mitbestimmt hätten.

Oben wurde bereits betont, welch schwere Folgen die im vorangegangenen Jahr vorgenommene Revision des Hofmeisters Stürmer für das Gouvernementssemstwo von Twer und das Kreissemstwo von Nowotorschok hatte. Diese Revision konnte indes den Landschaften als vereinzelte Tatsache erscheinen. Aber die darauf folgenden Ereignisse des Jahres 1904 im inneren Leben Russlands bewiesen, dass die Politik des Mißtrauens nicht nur nicht gewichen war, sondern sogar einen besonders schroffen Charakter annahm. Abgesehen von den bereits erwähnten ,,Taten“ der Regierung ist besonders beachtenswert die Nichtbestätigung der Wahlen von einigen bekannten Semstwo verordneten zu Vorsitzenden der Landschaftsbehörden und die Publikationen über die vom Geheimrat Sinowjew vorgenommene Revision der Semstwos des Gouvernements Moskau, sowie dessen weitere Betätigung in derselben Richtung bei der Revision der Landschaften der Gouvernements Wjatka und Kursk. Lebhafte Sensation rief die Nichtbestätigung des zum Vorsitzenden der Moskauer Gouvernementslandschaftsbehörde gewählten bekannten D. N. Schipow hervor. Infolgedessen reichte das Mitglied der Landschaftsbehörde, M. W. Tschelnokow, seinen Abschied ein, ja es war sogar der Abschied der ganzen Behörde geplant; schließlich einigte man sich jedoch dahin, an Stelle Schipows die Kandidatur des Mitgliedes der Landschaftsbehörde F. A. Golowin aufzustellen. In der außerordentlichen Landschafts Versammlung im Mai wurde denn auch Golowin, nachdem er in einer glänzenden Ansprache seine völlige Übereinstimmung mit Schipow und seine Absicht, falls er der Wahl für würdig befunden werde, die Politik Schipows fortzusetzen, kundgegeben hatte, wirklich gewählt. Zu den unbestätigten bekannten Semstwoverordneten gehört noch der frühere Vorsitzende der Gouvernementslandschaftsbehörde von Wologda, W. A. Kudrjawi. Das Verlassen des Semstwodienstes seitens Schipow und Kudrjawi rief in der gesamten fortschrittlichen Presse und in der Gesellschaft das stärkste Bedauern hervor, während die Semstwobeamten den ihren Dienst aufgebenden Männern Sympathieadressen überreichten.

Der Gipfelpunkt dieser Misstrauenspolitik ist jedoch zweifellos der alleruntertänigste, des kaiserlichen Danks gewürdigte Bericht des Geheimrats Sinowjew über die Revision der Landschaften des Gouvernements Moskau. Das im höchsten Grade tendenziöse Memorandum erblickt in der Politik des Moskauer Gouvernementssemstwo das Bestreben, sich die Kreislandschaften unterzuordnen und durch die Vermittlung der Semstwoangestellten, die sich eine ungebührliche Einmischung in alle Landschaftsangelegenheiten zuschulden kommen ließen, seinen Einfluss überall zur Geltung zu bringen; zugleich fällt es ein herbes Urteil über die Organisation vieler Zweige der wirtschaftlichen Tätigkeit der Landschaften, vor allem der medizinischen Hilfsarbeit, Behauptungen, die er durch sehr knappes tatsächliches Material zu erhärten in der Lage ist. Angriffe auf die Semstwoangestellten, verbunden mit dem Bestreben, unter die Gouvernementsund Kreislandschaften Zwietracht zu säen — solcher Art sind die Hauptpunkte dieses in seiner Art denkwürdigen Dokuments. Über diesen Bericht äußerten sich im ablehnenden Sinne sowohl der größte Teil der Presse als auch die Landschaften, ferner medizinische Gesellschaften, zwar schüchtern, aber ziemlich einmütig; und überall kam in den Kritiken der Wunsch zum Ausdruck, dass außer dem Bericht auch die ihm zugrunde liegenden Materialien veröffentlicht werden möchten. Desgleichen zeigten die in die Öffentlichkeit gedrungenen kurzen Mitteilungen über die Revision der Landschaften der Gouvernements Wjatka und Kursk, dass der Zweck und die Methoden dieselben, wenn nicht noch schlimmere als bei der Revision des Moskauer Semstwo waren. Ein ganzer Schwärm von revidierenden Tschinowniks durchwühlte die Akten der Landschaftsbehörden und wandte hauptsächlich Dokumenten über kollegiale Beratungen der Semstwobehörden mit den besoldeten Semstwoangestellten seine Aufmerksamkeit zu, um auszuspüren, ob nicht gegen die Regierung gerichtete Bestrebungen darin zu finden wären. Dagegen begnügten sich die Revisoren mit gelegentlichen Besuchen und ganz oberflächlicher Besichtigung der Schulen, Krankenhäuser usw., um kategorische und allgemeine Urteile zu fällen. Die Landschaftsbehörden zitterten förmlich vor jedem dieser Überfälle, bei denen sich der ganze Hochmut der Bureaukratiediener gegenüber den Semstwoämtern und ihren Leitern breit machte.

Ein Widerhall des eben beliebten Systems waren einige Revisionen, welche die Gouverneure aus eigener, privater Initiative vornahmen, so die Revisionen der Kreissemstwo von Sudtscha, von Slavianoserbsk (durch General Tomitsch), von Ufa und Taurien. Dazu kamen die zahlreichen Entlassungen und Nichtbestätigungen von Semstwobeamten, wie sie kaum eine andere Epoche früher aufzuweisen gehabt hatte.

Da nahm diese ganze Taktik mit einem Male ein Ende, die Politik des Vertrauens wurde inauguriert, und alle rigorosen Maßregeln schienen überflüssig, als mit der Ernennung des Fürsten Swiatopolk-Mirski zum Minister des Innern ein neuer Zeitabschnitt im Leben der russischen Gesellschaft überhaupt und in den Semstwoaktionen insbesondere begann. Wenn aber die Stimmung der Gesellschaft einen so unerhörten Aufschwung genommen hat, so ist es sicherlich zum größten Teile das Verdienst der Landschaften. Das vom Minister angekündigte Vertrauen rief in den Kreislandschaftsversammlungen ein lebhaftes Echo hervor, die meisten von ihnen richteten Dankschreiben an die Regierung und betonten zugleich die Notwendigkeit, zu schöpferischer Arbeit an der Wiederbelebung Russlands überzugehen und dem Volke sozusagen B?rgschaften des Vertrauens zu gewähren. In einigen Versammlungen erschollen energische Reden, die ein entschlossenes und kühnes Vorgehen im gegebenen Moment für notwendig erachteten; es müsse fortan ohne die übliche Vorsicht erklärt werden, dass eine radikale Reform der Staatsordnung unter bestimmten Bedingungen eine absolute Notwendigkeit sei. Die Tagung der Kreislandschaftsversammlungen bildete nur den Anfang der allgemeinen Bewegung im Semstwo. Jene Semstwoorganisation,*) die schon früher Zusammenkünfte ins Werk gesetzt hatte, fasste nunmehr den Beschluss, zum 6. November eine große Konferenz zwecks Beratung einiger prinzipieller Fragen, die man in der nächsten Tagung der Gouvernementslandschaftsversammlungen zu erörtern gedachte, einzuberufen. Im gesellschaftlichen Leben ging unterdes die Entwicklung der Ereignisse mit außerordentlicher Schnelligkeit vor sich und erreichte einen hohen Grad von Spannung; die gesellschaftliche Atmosphäre war von politischen Fragen überaus gesättigt, so dass die Konferenz der Semstwo Vertreter außerordentliches Aufsehen und große Hoffnungen erweckte. Und die Zusammenkunft hat die Hoffnungen auch vollauf erfüllt. Ganz Russland begann von dem bevorstehenden Ereignis zu sprechen, aber die Regierung besann sich sehr bald, verbot, irgendwelche Mitteilungen über die geplante Zusammenkunft in der Presse zu veröffentlichen, ja sie hegte sogar den Plan, das ganze Vorhaben zu untersagen. Die Konferenz kam trotzdem in Petersburg, allerdings nicht in voller Öffentlichkeit, sondern in geheimen Sitzungen in Privatwohnungen zustande. An der Zusammenkunft nahmen 104 Personen aus den Semstwokreisen, darunter 54 Vorsitzende und Mitglieder der Gouvernementsund Kreislandschaftsbehörden, also offzielle Amtspersonen, ferner Kreisadelsmarschälle und Semstwo verordnete, teil. Die Konferenz tagte vom 6. bis zum 9. November und fasste eine Reihe von Resolutionen, die seither zur Losung der konstitutionellen Bewegung in Russland wurden:

1. Die Abnormität der in unserem Leben herrschenden Ordnung der Staatsverwaltung, die seit den achtziger Jahren besonders stark zutage trat, besteht in der völligen Geschiedenheit der Regierung und der Gesellschaft und in dem den beiden Faktoren mangelnden gegenseitigen Vertrauen, das für ein geordnetes Staatsleben unentbehrlich ist.

2. Das Verhältnis der Regierung zur Gesellschaft wurde von der Befürchtung, dass die Gesellschaft zur Selbsttätigkeit sich entwickeln könnte, und vom beständigen Bestreben, die Gesellschaft von der inneren Verwaltung im Staate gänzlich fernzuhalten, geleitet. Von diesen Grundsätzen ausgehend, suchte die Regierung, die Zentralisation in allen lokalen Verwaltungszweigen und die Bevormundung aller Äußerungen des gesellschaftlichen Lebens durchzuführen. Die gegenseitigen Beziehungen mit der Gesellschaft hat die Regierung stets ausschließlich im Sinne einer Anpassung der gesellschaftlichen Institutionen an die Absichten der Regierung anerkennen wollen.

3. Die bureaukratische Ordnung, die die höchste Staatsgewalt von der Bevölkerung trennt, schafft den Boden für die weitgehendste Äußerung der administrativen Willkür und des persönlichen Regiments. Eine solche Ordnung beraubt die Gesellschaft der nötigen Sicherheit, dass die der Gesamtheit und einem jeden zustehenden gesetzlichen Rechte gewahrt werden, und untergräbt das Vertrauen zur Regierung.

4. Eine regelmäßige Entwicklung und ein Vorwärtsschreiten des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens setzt die lebendige und innige Wechselwirkung und Einigung der Staatsgewalt mit dem Volke voraus.

5. Zur Beseitigung jeglicher administrativen Willkür ist die Festigung und folgerichtige Durchführung des Grundsatzes der Unantastbarkeit der Person und des Heims unentbehrlich. Niemand darf ohne Beschluß eines unabhängigen Gerichtes Strafen unterzogen, bezw. in seinen Rechten beschränkt werden. Zur Erreichung des oben angegebenen Zweckes soll außerdem für Amtspersonen, wenn sie ziviloder kriminalgerichtlich wegen Gesetzesübertretungen zur Verantwortung gezogen werden müssen, eine Ordnung statuiert werden, die die praktische Durchführung der Grundsätze der Gesetzlichkeit in der Verwaltungspraxis sicherstellen würde.

6. Damit die geistigen Kräfte des Volkes sich voll entfalten können, die gesellschaftlichen Bedürfnisse allseitig aufgeklärt werden und die Äußerungen der öffentlichen Meinung auf keine Hindernisse stoßen, sind unbedingt Garantien für Gewissens-, Konfessions-, Rede- und Presse-, sowie Versammlungs- und Koalitionsfreiheit zu gewähren.

7. Alle Bürger des russischen Reiches müssen in ihren persönlichen, bürgerlichen und politischen Rechten gleichgestellt sein.

8. Die Selbsttätigkeit der Gesellschaft ist die Hauptbedingung für eine regelmäßige und gedeihliche Entwicklung des politischen und wirtschaftlichen Lebens im Lande. Da die Mehrheit der russischen Bevölkerung dem Bauernstande angehört, so müssen vor allem für die Entwicklung der Selbsttätigkeit und der Energie dieses Standes günstige Bedingungen geschaffen werden, was nur durch radikale Umgestaltung der gegenwärtigen rechtlosen und erniedrigenden Verhältnisse der Bauernschaft zu erreichen ist. Zu diesem Zweck muss der russische Staat
a) die Bauern in ihren persönlichen Rechten den anderen Ständen gleichstellen;
b) die Dorfbevölkerung von der administrativen Bevormundung aller Äußerungen ihres privaten und öffentlichen Lebens befreien;
c) ihr den Schutz einer regelmäßigen Gerichtsform zuteil werden lassen.

9. Die landschaftlichen und städtischen Institutionen, die den Mittelpunkt des lokalen öffentlichen Lebens bilden, müssen durch Neuregelung ihrer Verhältnisse in die Lage versetzt werden, jenen Pflichten mit Erfolg nachkommen zu können, die den auf weitgehenden und richtig aufgefaßten Grundsätzen der Selbstverwaltung beruhenden Organen eigen sind. Dazu ist erforderlich:

a) dass die Semstwo Vertretung nicht auf einer ständischen Grundlage fußen soll, und dass zur Beteiligung an der städtischen und landschaftlichen Selbstverwaltung nach Möglichkeit alle vorhandenen Kräfte der lokalen Bevölkerung herangezogen werden;
b) dass die Semstwoinstitutionen durch Schaffung einer kleineren Semstwoeinheit auf einer ihre Selbständigkeit verbürgenden Grundlage der Bevölkerung näher gebracht werden;
c) dass die Zuständigkeit der städtischen und Semstwoinstitutionen sich auf das ganze Gebiet der lokalen Bedürfnisse erstrecken soll;
d) dass den genannten Institutionen die ihnen gebührende Festigkeit und Selbsttätigkeit verliehen werde, weil sonst die notwendigen Voraussetzungen für den Fortschritt in ihren Arbeiten und die gewünschte Wechselwirkung zwischen den gesellschaftlichen und Regierungsinstitutionen fehlen würde. Die Lokal-Verwaltung soll sich auf alle Teile des russischen Reiches erstrecken.

10. Ansicht der Mehrheit (71 Stimmen). Aber zur Herbeiführung und Aufrechterhaltung steter lebendiger und enger Beziehungen zwischen der Staatsgewalt und der Gesellschaft auf der Grundlage der obenbezeichneten Prinzipien und zur Sicherstellung einer normalen Entwicklung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens ist die durch regelmäßige Beteiligung von Volksvertretern in Form eines besonderen wählbaren Instituts an der Durchführung der Gesetzgebungsgewalt *), an der Festsetzung des Staatsetats der Ausgaben und Einnahmen **) und an der Kontrolle der gesetzlichen und der administrativen Praxis ***) unbedingt notwendig.

*) Der Satz „in der Verwirklichung der Gesetzgebungsgewalt“ ist mit einer Mehrheit von 60 gegen 38 Stimmen angenommen worden.

**) Die Worte „in der Festsetzung des Staatsbudgets“ von 91 gegen 7.

***) Mit einer Mehrheit von 95 gegen 3 Stimmen.


Die Meinung der Minderheit (27 Stimmen). Aber zur Herbeiführung und Aufrechterhaltung steter lebendiger und enger Beziehungen und einer Einigung zwischen der staatlichen Gewalt und der Gesellschaft auf der Grundlage der obenbezeichneten Prinzipien und zur Sicherstellung einer regelmäßigen Entwicklung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens ist die regelmäßige Beteiligung an der Gesetzgebung unbedingt notwendig.

11. Angesichts der Bedeutung des Momentes, den Russland zurzeit durchmacht, und der Verwicklung der äußeren und inneren Verhältnisse gibt sich die Privatkonferenz der Hoffnung hin, dass die oberste Staatsgewalt frei gewählte Vertreter berufen wird, um mit ihrer Mitwirkung unser Vaterland auf eine neue Bahn staatlicher Entwicklung zu führen, Rechtsgrundsätze zu schaffen und innige Beziehungen zwischen der Staatsgewalt und dem Volke herzustellen.

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Die Resolutionen des Semstwokongresses gaben den Anlass zu einer Scheidung der Semstwokreise in zwei Parteien: die Semstwokonstitutionellen und die Semstwoslawophilen mit D. N. Schipow an der Spitze. Die beiden Richtungen kamen allerdings in den Gouvernementslandschaftsversammlungen der letzten Session (im Dezember 1904 bis Januar 1905) noch nicht zum Ausdruck, da damals die Parteiunterschiede sich noch nicht zugespitzt hatten, so dass die Konstitutionellen und die Slawophilen auch Hand in Hand gingen und der reaktionären Gruppe, die zu eigenartigen Heldentaten bereit war, ja selbst die Anwendung von Gewaltmaßregeln gegen die Liberalen nicht scheute, gemeinsam entgegentraten; bis zu welcher Gemeinheit übrigens die reaktionären Kreise herabgesunken waren, lehrt das Beispiel der Gouvernementslandschaftsversammlung von Tambow, wo das sogenannte "schwarze Hundert“, das aus käuflich angeworbenem Gesindel bestand und indirekt der Mitv/irkung der Polizei sich erfreute, das Publikum und die Semstwoverordneten zu überfallen sich erdreistet hatte. Die ordnungsmäßige Session der Gouvernementslandschaftsversammlungen ging dann auch sehr stürmisch vonstatten. In allen wurde die Frage der Einreichung alleruntertänigster Adressen an den Zaren, in denen die Semstwo Vertreter ihre geheimen Wünsche betreffs radikaler Umgestaltung der Staatsordnung auf Grund einer Verfassung zum Ausdruck bringen sollten, in Erwägung gezogen. Diese Frage war aber gerade dazu angetan, eine Reihe stürmischer Szenen heraufzubeschwören. Die Semstwo Versammlungen fanden überall in Gegenwart eines massenhaft herbeigeströmten Publikums statt, das für alle erörterten Fragen ein außerordentliches Interesse an den Tag legte und den liberalen, im konstitutionellen Sinne gehaltenen Reden und Adressen tosenden Beifall zollte, dagegen die Erklärungen der Konservativen mit dem Ausdruck schärfster Missbilligung aufnahm. Beachtenswert ist die Haltung der Vorsitzenden in diesen Versammlungen. Nach der geltenden Semstwoordnung sind deren Vorsitzende befugt, die Diskussion zu unterbrechen und aus der Tagesordnung Fragen, die ihres Erachtens über die Zuständigkeit des Semstwo hinausgehen, so insbesondere Fragen allgemein-staatlichen Charakters, zu streichen. Desgleichen steht ihnen das Recht zu, die Öffentlichkeit auszuschließen. In einigen Versammlungen machten auch die Vorsitzenden den weitgehendsten Gebrauch von diesen ihnen zustehenden Rechten, wodurch eine Unmenge unangenehmer Zusammenstöße, sowohl unter den Semstwo verordneten als auch im Publikum hervorgerufen wurden. Es kam sogar mehrfach vor, dass das Publikum auf Befehl des Gouverneurs von Semstwo Versammlungen ausgeschlossen wurde. Aber trotz aller dieser Hindernisse war es der überwiegenden Mehrheit derselben möglich, ihre Erklärungen betreffs Einberufung von Volksvertretern zur Lösung der Frage einer neuen staatlichen Ordnung zum Kaiser gelangen zu lassen. Man muss zugeben, dass der Charakter der Erklärungen nicht hinreichend ausgesprochen war, doch schlössen sich die meisten von ihnen der konstitutionellen Resolution der Mehrheit der Semstwokonferenz vom 6. — 7. November an.

Die Regierung nahm diese Erklärungen sehr schroff entgegen. Aus Anlass einer der alleruntertänigsten Adressen, derjenigen von Tschernigow, war im "Regierungsboten“ folgende Notiz zu lesen: Den 6. November hat der Vorsitzende der Tschernigower Gouvernementslandschaftsversammlung, der Adelsmarschall, ein Ersuchen der betreffenden Versammlung bezüglich einer Reihe von Fragen allgemeinstaatlicher Natur seiner Majestät übermittelt. Auf der Depesche geruhte Se. Majestät der Kaiser folgendes eigenhändig niederzuschreiben: "Ich finde die Handlung des Vorsitzenden der Tschernigower Gouvernementslandschaftsversammlung vermessen und taktlos. Die Beschäftigung mit der Frage der allgemeinen Staatsverwaltung ist nicht Sache der Landschaftsversammlungen, deren Wirkungskreis und Befugnisse durch die Gesetze klar gezogen sind.“

Dessenungeachtet fuhren diese fort, die Notwendigkeit der Einberufung von Volksvertretern laut zu betonen. Als gar die Ereignisse vom 9. Januar kamen, als gewaltige Arbeitermassen durch ihre friedliche Prozession zum Winterpalais und durch ihre Petition betreffend ihre Bedürfnisse und politischen Forderungen mit solcher Klarheit und solcher Wucht den Willen des Volkes kundgegeben hatten, dass auch das Volk die Umgestaltung der Staatsordnung und die Einberufung von Volksvertretern ersehne, da nahmen die konstitutionellen Resolutionen des Semstwo einen noch bestimmteren Charakter an, und die Landschaften von Twer und Saratow sprachen sich bereits unumwunden für das allgemeine Wahlrecht aus.

Der allerhöchste Erlass vom 18. Februar d. J. an den jetzigen Minister des Innern A. Bulygin ist selbstverständlich eine Konzession an die Forderungen der Gesellschaft und des Volkes. Darin wurde die Bildung einer besonderen Kommission unter dem Vorsitz von Bulygin zur Beratung der Frage der Einberufung von Volksvertretern angekündigt, worauf viele Semstwos unverzüglich mit der Erklärung antworteten, dass in diese Konferenz unbedingt Vertreter der Landschaften und Städte geladen werden müssen. Einige Landschaftsversammlungen wählten auch spezielle Ausschüsse, die sich mit der Frage der Volksvertretung aufs eingehendste zu befassen hätten; diese Ausschüsse sollten aber das Problem nicht nur von der prinzipiellen Seite, sondern auch mit Rücksicht auf die realen Bedingungen, unter denen die große politische Reform in die Wirklichkeit umzusetzen sei, behandeln.

Mit der Veröffentlichung des kaiserlichen Erlasses vom 18. Februar beginnt in der Gesellschaft eine erhöhte Tätigkeit, die der Gruppierung und Organisierung der politischen Parteien gilt. Was man nämlich in Westeuropa unter einer politischen Partei versteht, hat es naturgemäß im russischen Reiche, das unter den bekannten Bedingungen ein wirkliches, sozial-politisches Leben nicht zu entwickeln vermochte, bis in die neueste Zeit nicht gegeben. Man kannte wohl verschiedene Richtungen, aber nicht starke, organisierte Parteien. Es gab wohl revolutionäre Kreise, die seit langer Zeit einen erbitterten Kampf gegen die russische Regierung führten, aber diese Vereinigungen, die sich hauptsächlich aus den Gebildeten und der studierenden Jugend zusammensetzten, hatten keine hinreichende Verbreitung und konnten sich nicht auf der festen Grundlage organisierter Volksmassen stützen. Erst neuerdings hat eine weitgehende Organisierung der gesellschaftlichen Elemente und der Arbeitermassen begonnen.

Die im Semstwo tätigen Kräfte werden auch von jetzt an am öffentlichen Leben einen hervorragenden Anteil nehmen, aber sie werden mit dem Wachsen der Bewegung nicht mehr als isolierte Gruppe dastehen, sondern in größere Parteien hineinwachsen und bestimmteren Programmen sich anschließen, da in einer auf Volksvertretung gegründeten Staatsordnung der lokalen Selbstverwaltung nicht mehr die oppositionelle Stellung, wie sie das Semstwo unter der Selbstherrschaft eingenommen hatte, zufallen wird.

Zurzeit aber sind in den Semstwosphären, wie bereits angedeutet, zwei Hauptströmungen, die konstitutionelle und die slawophile, klar hervorgetreten. Dieselbe Scheidung ist auch in den weiteren gesellschaftlichen Schichten wahrzunehmen. Die konstitutionelle Richtung will als Grundlage der Staatsordnung eine mit gesetzgeberischer Gewalt ausgestattete Volksvertretung und zerfällt auch ihrerseits in zwei Strömungen: die konstitutionell-demokratische, welche das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht verlangt, und die konstitutionell-liberale, die grundsätzlich zwar ebenfalls die Forderung des allgemeinen Wahlrechts anerkennt, die sich jedoch von der praktischen Erwägung, dass diese Forderung bei der äußerst schwachen politischen Schulung der Volksmassen und wegen vieler anderer ungünstiger Bedingungen des russischen Lebens kaum durchführbar sei, leiten läßt. Diese Gruppe zieht das indirekte zweiteilige System der Wahlen durch Vermittlung der bestehenden Semstwound städtischen Institute.

Die schärfere Tonart der Konstitutionellen hat den überwiegenden Teil der gebildeten Schichten und Angehörigen der liberalen Berufe (Rechtsanwälte, Journalisten, Ärzte, Professoren, Lehrer usw.), aber auch, soweit es sich um das politische Programm handelt, viele Arbeiter herangezogen. Der anderen Gruppe hat sich die Mehrheit der Semstwomänner angeschlossen.

Was die Slawophilen, zu denen, wie uns dünkt, ein ziemlich bedeutender Teil der Semstwomänner und der Adligen gehört, anbetrifft, so ist auch ihre Grundforderung die Gewährung einer Volksvertretung, aber sie beschränken sich hierbei auf das Mitberatungsrecht und die Aufsicht über die Staatsfinanzen, wollen aber alle Entscheidungen dem Zaren überlassen. Sie proponieren auch ein recht kompliziertes und charakteristisches Wahlsystem. Die Wahlen sollen vermittelst der Semstwo und städtischen Institute geschehen und, wo es solche nicht gebe, seien sie vor den Wahlen direkt zu errichten. Die Urwahl solle den weitesten Kreisen, wenn auch unter Zugrundelegung eines geringen Steuerzensus, zugänglich sein. Der ganze Vorgang spielt sich dann also ab. Aus der Urwahl geht die Semstwozelle, aus dieser die Kreissemstwo Versammlung, aus der letzteren die Gouvernementsversammlung, in die auch -die Städte hineinwählen; nur besonders große Städte haben spezielle Vertretung. Nach Ansicht der Slawophilen wurzeln sowohl das Mitberatungsrecht als auch die Wahl durch die Semstwoinstitutionen in den Vorstellungen des Volkes und in der Vergangenheit des russischen gesellschaftlichen und politischen Lebens. Von Dauer können aber nur die Werke sein, welche zur Vergangenheit in enger organischer Beziehung stehen, während die westeuropäischen Vertretungsformen für Russland ein fremdartiger Körper seien.

Allein die Gestaltung der politischen Parteien in Russland wird keineswegs nur durch dies oder jenes politische Programm bestimmt. Kaum haben die Parteien sich zu gruppieren begonnen, und schon sind die sozialen Punkte der Parteiprogramme, die Agrarund die Arbeiterfrage, an der Tagesordnung. Wie vor dem Ausbruch der französischen Revolution neben der ungewöhnlichen Zuspitzung des politischen Problems auch die hochentwickelten gegensätzlichen Klasseninteressen in ihrer ganzen wirtschaftlichen Bedeutung hervortraten und auch auf der politischen Arena machtgebietend waren, so löst sich im gegenwärtigen Moment in Russland in entsprechender Weise die drückende Situation der Arbeitermassen in großen Spannungen, in Massenstreiks und Bauernunruhen aus. Das künftige russische Staatsregiment wird aber, sowie es an seine Aufgaben herangehen wird, der Agrar- und Arbeiterfrage seine sofortige Aufmerksamkeit zuwenden; ebenso würde jede Partei, die in Russland dem Volkswohl dienen und Erfolg haben will, ohne Einschließung dieser Probleme in ihr Programm kaum existenzfähig sein. Deshalb haben sich denn auch schon während der privaten Moskauer Konferenz verschiedene Semstwo Vertreter veranlasst gesehen, ein Agrarprogramm aufzustellen, welches wesentlich darauf hinauslief, dass der Grundbesitz der Bauern nicht nur aus Staatsländereien, sondern aus privatem, von der Regierung losgekauftem Boden zu vergrößern sei.

Und wie unmittelbar vor der französischen Revolution die Klassengegensätze in der einzigen Hauptforderung einer politischen Umwälzung aufgingen, so hat auch in Russland die Idee einer gründlichen verfassungsmäßigen Umgestaltung der Staatsordnung alle vorhandenen Differenzen schwinden lassen, die mannigfaltigsten fortschrittlichen Gruppen konsolidiert und sie alle zur Aufstellung der Forderung einer Verfassung als ersten und wichtigsten Punktes ihres Programms veranlasst.

Das Semstwo ist für die Verfassungsbewegung bereits in seinen bisherigen Leistungen von gewaltiger politischer Bedeutung gewesen und arbeitet auch gegenwärtig an der politischen Befreiung des russischen Staates fort. Mit dem Eintritt anderer Verhältnisse wird sich allerdings die Situation des Semstwo ändern. Dann wird sein Wirkungskreis nur durch jene friedliche kulturelle Arbeit, die für den weiteren Fortschritt des russischen Volkes so notwendig ist, begrenzt sein.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Semstwo