Von dem Seebade, dessen Wirkungsweise, Nutzen und Anwendungsart im Allgemeinen

Die vortrefflichen Wirkungen der Bäder überhaupt und der kalten Bäder insbesondere, ja selbst der Nutzen des Eintauchens in das Meer bei gewissen Krankheiten war schon den Ärzten des Altertums bekannt, und es wurden also schon von ihnen die Seebäder als Heilmittel in Anwendung gebracht. Dennoch würde man aus Überschätzung der Heilkünstler jener Zeiten eine offenbare Unbilligkeit gegen unsere nächsten Vorfahren und Zeitgenossen begehen, wollte man diesen deswegen das Verdienst streitig machen, den Gebrauch der Seebäder, als eines vortrefflichen Heil- und Stärkungsmittels ganz eigentümlicher Art, kennen gelehrt und eingeführt zu haben.

Die Alten machten die vielleicht zufällige Erfahrung, dass das plötzliche Eintauchen oder Fallen wahnsinniger, epileptischer und anderer nervenkranken Personen in kaltes Wasser von vorteilhaften Folgen für deren Gesundheitszustand war *). Einzelnen Beobachtungen der Art folgten absichtlich mit solchen Kranken angestellte Versuche, welche die Richtigkeit jener Beobachtungen in vielen Fällen bestätigten, in einigen unbestätigt ließen. Aus diesen Beobachtungen und Versuchen folgerten die Ärzte den Satz, dass das öfters wiederholte plötzliche Eintauchen in kaltes Wasser sich in vielen Fällen von Nervenkrankheiten heilkräftig beweise, und führten es in der Reihe der gegen Nervenkrankheiten zu empfehlenden Heilmittel im Allgemeinen mit auf. Sie ließen sich jedoch auf eine besondere Erklärung der Wirkungsweise dieses Heilmittels, auf genaue Bestimmung der Methoden, auf die es anzuwenden, oder der Krankheitszustände, die dem Mittel entsprechen und derer, die es verbieten, nicht weiter ein. Mit einem Worte, es ward nur in wenigen Fällen und auch dann nur ganz empirisch angewendet. Auf die eigentümlichen Kräfte des Seebades als solches aber, d. h. auf den Wellenschlag, die Bestandteile des Meerwassers, die Seeluft und das Verhältnis der Temperatur der Luft zu der der See insbesondere u. s. w. nahmen sie weiter keine Rücksicht und betrachteten bei der Empfehlung des Mittels nur die Kälte des Wassers überhaupt und den mit dem plötzlichen Eintauchen verbundenen Schreck, wie sie es nannten, und sie würden dem Bade in der See keine besonderen Vorzüge vor dem Bade im Fluss zugeschrieben haben und sprechen wohl nur deswegen von dem Eintauchen ins Meer, weil ihnen dieses überhaupt näher war und bequemer und sicherer erschien, als hinreichend tiefe Flüsse.


*) Der Arzt, welcher zuerst kalte Bäder, verbunden mit dem innerlichen Gebrauch des Eisenrostes, in Anwendung gezogen haben soll, war der Grieche Melampus, der 150 Jahre vor dem Argonautenzuge lebte. Er heilte durch Gebrauch der genannten Mittel die Töchter des Prötus, des Königs von Argos, von einer Krankheit, die bisher keinem Mittel gewichen war, und erhielt von ihm zum Lohne dieser Kur die Hand der einen Tochter und die Hälfte des Königsreichs. (L’histoire de la Médecine, par Daniel le Clerc.)

Bei den ärztlichen Schriftstellern des Mittelalters, die den Gebrauch der Bäder überhaupt fast ganz vernachlässigten, finden wir keine Erwähnung von dem besonderen Nutzen der Seebäder, und Marteaus gelehrte und ausführliche Abhandlung über die Bäder *) beweist, dass der Gebrauch der Seebäder, als eines Heilmittels ganz eigentümlicher und ausgezeichneter Art, den Ärzten, mit Ausnahme der englischen, die aber ihre Erfahrungen darüber damals nur sparsam mitgeteilt haben, bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts noch ganz unbekannt war. Es bedurfte der Aufforderung eines Nichtarztes, des durch seine Gelehrsamkeit wie durch seinen Witz gleich berühmten Lichtenbergs, um Deutschlands Ärzte auf die vortrefflichen Wirkungen des Seebades aufmerksam zu machen. Nach der Rückkehr von seiner zweiten Reise nach England, wo er die Vorteile des dort bereits sehr allgemeinen Gebrauchs der Seebäder kennen gelernt hatte, gab er einen Aufsatz mit der Überschrift heraus: „Warum hat Deutschland noch kein öffentliches Seebad?“ und schlug die Anlegung einer Seebadeanstalt zu Cuxhaven vor. Sein Vorschlag blieb damals zwar nicht unbeachtet, doch unausgeführt; denn die Einrichtung der Seebadeanstalt zu Cuxhaven datiert sich erst vom Jahr 1816. Aber seine lebendige Schilderung des englischen Seebadewesens zu Margate und Deal, und seine Aufforderung, die Anwendung dieses trefflichen Heilmittels auch in Deutschland einzuführen, blieb nicht ohne Eindruck und Erfolg.

*) Aus dem Französischen von Dr. Heid übersetzt, Gera 1777.

Durch Lichtenbergs Schrift aufmerksam gemacht und erwärmt für den Gedanken, dass auch die Leidenden und Schwachen seines Vaterlandes in den Wellen des Meeres Heilung und Stärkung finden möchten, vermochte, der würdige und durch seine Verdienste um das Seebadewesen unsterbliche Leibarzt des Großherzogs von Mecklenburg, Dr. Vogel zu Rostock, seinen Souverän zu dem Entschlusse, am heiligen Damme bei Doberan eine Seebadeanstalt anlegen zu lassen. Die Freigebigkeit und Herablassung dieses Fürsten, der unermüdliche Eifer und ärztliche Ruf Vogels, die glückliche Heilung vieler Kranken, die sonst nirgends Hilfe gefunden hatten, vermehrte alljährlich die anfangs geringe Zahl der Badegäste, so dass Doberan sehr bald zu den besuchtesten Badeorten Deutschlands gezählt werden konnte, und das Seebad überhaupt zu dem ihm gebührenden Range eines der vorzüglichsten Heilmittel in vielen ganz verschiedenen Krankheiten gelangte. Man suchte und fand in dem Seebade, zu dessen Gebrauch sich nun allmählich auch anderwärts *) mehr oder weniger zweckmäßige Anstalten bildeten, Genesung von den hartnäckigsten Nervenkrankheiten von Epilepsie und St. Veitstanz, hysterischen Krämpfen und nervösem Kopfweh, Gesichtsschwäche und Lähmung der Glieder, der Verdauungsschwäche und ihrer traurigen Folge, der Hypochondrie. Man sah nach dem Gebrauche der Seebäder die Drüsenkrankheiten mit ihren fürchterlichen Folgen, den scrophulösen Geschwüren und Knochenkrankheiten verschwinden, man sah, wie hartnäckige Hautausschläge geheilt und die Wiederkehr rheumatischer Übel verhütet wurde. Kenntnisreiche und wahrheitsliebende, bei Seebadeanstalten beschäftigte Ärzte, unter ihnen besonders Vogel, Danzmann, v. Halem, Neumeister, Ruge, Pfaff, haben eine große Menge der interessantesten und wichtigsten Beobachtungen von durch den Gebrauch des Seebades geheilten Krankheiten in ihren diesen Gegenstand betreffenden Schriften dem ärztlichen und nichtärztlichen Publikum mitgeteilt. Der Staatsrat Hufeland hat in seiner praktischen Übersicht der vorzüglichsten Heilquellen Deutschlands den Vorzügen der Seebäder und der Unterscheidung der Krankheitszustände, für welche dieselben sich eignen, eine ausführliche Abhandlung gewidmet *).
Alle mit dem Geiste der Zeit fortgehende Ärzte Deutschlands wissen die vortrefflichen Wirkungen des Seebades zu schätzen, und sein Ruf ist unter den gebildeten Nichtärzten Deutschlands, wenigstens des nördlichen, so verbreitet, dass die Empfehlung dieses Heilmittels und der Beweis seiner Wirksamkeit durch Mitteilung einzelner Fälle ganz überflüssig geworden ist.

*) Namentlich zu Travemünde, Norderney, Wangerode, Kolberg, Putbus, Crantz, Zopten, Cuxhaven, Kiel.
**) Hufelands praktische Übersicht der vorzüglichsten Heilquellen Deutschlands noch eigenen Erfahrungen, p. 250.

Dies wird durch den zahlreichen Besuch von Fremden, die auf und ohne Verordnung sachkundiger Ärzte, — welches letztere jedoch gar sehr zu missbilligen und für die Gesundheit vieler Individuen von eben so nachteiligen Folgen als für den Ruf des Heilmittels selbst ist, — alljährlich in den Seebädern Hilfe suchen und finden, bewiesen. Jedermann weiß, dass Nervenleiden aller Art, Drüsenkrankheiten, Rheumatismen und Hautausschläge durch das Seebad geheilt werden; aber es erscheint dem Nichtarzte der Nutzen der Seebäder gegen so verschiedenartige Krankheiten wunderbar, unbegreiflich, Manchem vielleicht gar — eben der Verschiedenheit der Übel wegen — unglaublich. Und das Misstrauen in die Wirksamkeit eines Mittels gesetzt, das so verschiedenartige Übel heilen soll, ist bei dem, der nicht eine nähere Kenntnis von dem Verhältnisse des Mittels zu dem Übel hat, so natürlich, als das Misstrauen, das ein kluger Mann mit Recht gegen die Fähigkeiten und die Tüchtigkeit eines Dieners hegt, der eine Menge der verschiedenartigsten Geschäfte zu übernehmen verspricht.

Ich darf hoffen, dass das Vertrauen Mancher, die aus dem ebengenannten Grunde, das zwar nahe liegende, doch übereilte nachteilige Urteil über die Wirkung der Seebäder fällten, durch die nachstehende Auseinandersetzung der Wirkungsart dieses Heilmittels, diesem gewonnen werden dürfte. Doch ist die Bekämpfung dieses Misstrauens und die Werbung von Verehrern des Seebades nicht der Zweck der nachstehenden Zeilen; die eigene Erfahrung, die an sich oder ihren Bekannten, die geheilt oder doch gebessert aus den Seebädern zurückkehren, alljährlich sehr viele Menschen zu machen Gelegenheit haben, vermag von der Wahrheit der Behauptung, dass das Seebad in so vielen verschiedenen Fällen heilkräftig wirkt, mehr zu überzeugen, als Beredsamkeit und klare Auseinandersetzung. Meine Absicht geht vielmehr dahin, denjenigen, welche das Seebad zur Wiederherstellung oder Befestigung ihrer Gesundheit gebrauchen wollen, davon einen möglichst anschaulichen Begriff zu machen, wie es zugeht, dass dies Mittel im Stande ist, die verschiedenartigsten Krankheiten zu heilen, und aus welchen Gründen sie mit Wahrscheinlichkeit oder Gewissheit der Erfüllung ihrer Hoffnungen entgegen sehen dürfen.

Die Beantwortung der Frage: „wie geht es zu, dass durch das Seebad so verschiedenartige Krankheiten geheilt werden?“ geht aus der Betrachtung der Wirkungsweise des Seebades auf den menschlichen Körper und aus der seiner ökonomischen Einrichtung überhaupt hervor.
Um denen meiner Leser, die mit der ökonomischen Einrichtung des menschlichen Organismus nicht bekannt sind, ganz verständlich zu werden, will ich in möglichst gedrängter Kurze dieselbe zu schildern suchen. Wer sie kennt und wen diese Materie nicht anspricht, den ersuche ich, den kommenden Abschnitt zu überschlagen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Seebad zu Swinemünde