Von dem menschlichen Organismus und seiner Einrichtung

Der Organismus ist ein solches Produkt der Natur, in welchem Alles Zweck und Mittel zugleich ist, wo alle Teile für einander und für das Ganze, das Ganze aber für die Teile zweckmäßig berechnet sind, wo endlich Alles für einander und durch einander ist. Dies ist die Idee des vollkommensten Organismus. Wir finden ihn aber dieser Idee nirgends gänzlich entsprechend; wo er ihr möglichst entspricht, da ist Gesundheit, wo die Idee ganz aufgehoben ist, hört auch der Organismus auf (Tod), wo sie aber beschränkt wird, da ist Krankheit vorhanden. Der menschliche Organismus hat gewisse Einrichtungen und gehorcht gewissen Gesetzen, die durch lange Beobachtung und Forschung erkannt sind, und welche berücksichtiget werden müssen, wo es sich um Erhaltung der Gesundheit, oder Wiederherstellung derselben handelt.

Wir wollen diese Einrichtungen und Gesetze einzeln betrachten, ohne zu vergessen, dass sie alle im genausten Zusammenhang stehen und gemeinschaftlich zu einem und demselben Zweck, zur Erhaltung des Organismus selbst und aller seiner einzelnen Teile, geschaffen sind.
Die Gehirn- und Rückenmarksnerven, die Nervengeflechte des Unterleibs oder das Nervensystem überhaupt in allen seinen unendlichen Verzweigungen dient teils zur Aufnahme der Eindrücke aus der Sinnenwelt, teils beherrscht und regelt es die Verrichtungen aller übrigen Organe und organischen Systeme. Ohne Unverletztheit der Nerven ist die von dem Willen abhängige Muskelbewegung eben so wohl, als die von dem Willen nicht abhängige Tätigkeit der inneren Organe (die Verdauung, das Atmen, der Blutumlauf usw.) nicht möglich oder doch nicht ihrem Zwecke entsprechend. Das Nervensystem ist in dieser Beziehung der Regent der übrigen Organe und organischen Systeme; aber seine Unverletztheit hängt wiederum nach dem oben ausgesprochenen Satze von der Tüchtigkeit sämtlicher andern Organe mehr oder weniger ab.


Die Assimilations- oder Verdauungsorgane im weitern Sinne des Wortes übernehmen, von den ihnen ungehörigen Nerven beherrscht und geregelt, die Assimilation, d. i. die Bearbeitung der in den Körper gebrachten Stoffe aus der äußern Natur, besonders der Nahrungsmittel und Getränke, bis dieselben in einen zur Ernährung des Körpers geschickten, diesem gewissermaßen ähnlichen Stoff umgewandelt sind, welcher dann dem vorhandenen Blute zugemischt wird und dasselbe immerfort erneuert. Nur wenn sie für ihren Zweck tüchtig sind, geht die Ernährung des Körpers von statten und er erhält sich seine Kraft; jene stockt und diese sinkt, wenn die Assimilationsorgane mehr oder weniger von ihrem naturgemäßen Zustande abweichen.
Das Blutgefäßsystem, ebenfalls unter der Oberherrschaft des Nervensystems stehend, führt als Schlagadersystem das Blut von dem Herzen aus durch den ganzen Körper nach allen Teilen und bringt als Venensystem es von allen Teilen nach dem Herzen zurück, um es von da aus durch die Lunge, wo es eine ihm notwendige chemische Veränderung leidet, zu führen, nach welcher es von der Lunge wieder zum Herzen gelangt, um diesen doppelten Kreislauf von neuem zu beginnen. Auf seinem Wege erhält es aus dem sich in die Schlüsselvene der linken Seite ergießenden Brustgange den durch die Assimilationsorgane bearbeiteten Nahrungsstoff, setzt in allen Teilen die zu ihrer Erhaltung nötigen Stoffe ab, nimmt überall die nicht mehr brauchbaren auf und übergibt diese den Ab- und Ausscheidungs-Organen *) zur weitern Behandlung und Entfernung aus dem Körper.

*) Diese sind vornämlich die Nieren, die Harnleiter, die Blase und Harnröhre, die dicken Därme, die Schleimhäute, die Luftröhre und ihre Verzweigungen, die Nase, die Tränendrüsen, die Geschlechtsorgane und die äußere Haut.

Fehler in den Verrichtungen des Blutgefäßsystems (zu rasche, zu langsame, ungleichmäßige Zirkulation) verursachen große Störungen in allen Verrichtungen des Organismus überhaupt und bringen durch seinen Einfluss auf das Nervensystem mehr oder weniger ein Übelbefinden hervor. Blutandrang nach dem Kopfe erregt Kopfschmerz, Betäubung, Schlafsucht, Schlagfluss; Blutandrang nach den Brustorganen erregt Beängstigung, Kurzatmigkeit, Ohnmacht, Stickfluss; Kongestionen nach den Unterleibsorganen verursachen Hypochondrie und Hysterie. — Die Muskeln und das Muskelsystem überhaupt stehen, von dem Nervensystem beherrscht, der willkürlichen und unwillkürlichen Bewegung vor.
Die Knochen mit den Knorpeln dienen den weichen Teilen zur Stütze und werden unter einander durch die Bänder befestigt.

Die Beschreibung der Verrichtungen eines sehr wichtigen Organs, auf dessen Beschaffenheit und Einrichtung es am meisten ankommt, wenn von der Wirkung der Bäder überhaupt und des Seebades insbesondere die Rede sein soll, ist von mir absichtlich bis hierher verschoben worden, weil sie ausführlicher sein soll und muss, als die der übrigen organischen Systeme. Welches andere könnte ich wohl meinen, als das Hautorgan?
Den Sinnen-, den Ab- und Ausscheidungsorganen eben sowohl, als den Assimilationsorganen in Beziehung auf seine Verrichtungen ähnlich und mit beiden in einer gewissen Wechselbeziehung stehend, auf welche ich später zurückkomme, — empfängt es als Sinnesorgan die Eindrücke der Wärme und Kälte des Druckes der Luft oder anderer Medien. Als Assimilationsorgan nimmt die Haut aus der Luft oder andern Flüssigkeiten (Dämpfen, Bäder) Stoffe in den Körper auf.

Als Ab- und Ausscheidungsorgan setzt die Haut mittelst der Ausdünstung unbrauchbar gewordene und durch Ausschläge schädliche Stoffe ab und entfernt sie aus dem Körper.

Das Hautorgan ist in dieser dreifachen Hinsicht ein höchst wichtiger Teil des Organismus. Seine Wichtigkeit erscheint aber noch besonders erhöht, wenn wir zwei aus der Erfahrung bekannte wichtige Gesetze betrachten, denen der Organismus überhaupt und das Hautorgan insbesondere gehorcht. Ich meine das Gesetz der Erregung und das der Wechselwirkung.
Der Organismus und alle seine einzelnen Teile bedürfen zu ihrer Erhaltung der Tätigkeit oder der Übung. Um tätig zu werden, bedarf der Organismus und jeder einzelne Teil desselben einer Veranlassung, des Reizes, welche, wenn sie einen gewissen Grad von Fähigkeit zum Tätigwerden (Erregbarkeit) vorfindet, die Tätigkeit selbst (Erregung) hervorbringt. Soll diese durch den Konflikt des Reizes mit der Erregbarkeit hervorgerufene Tätigkeit, die Erregung, ihrem Zwecke, der durch Übung zu erhaltenden Tüchtigkeit des Organismus und seiner Teile entsprechen, so muss der Reiz zu der Erregbarkeit m einem angemessenen quantitativen und qualitativen Verhältnisse stehen.
Ist der Reiz in Beziehung auf die eben vorhandene Erregbarkeit zu stark, von unpassender Art, oder zu häufig, so wird das betreffende Organ, indem es durch die nun entstehende zu heftige, unpassende oder zu häufige Erregung über seine Kräfte angestrengt wird, geschwächt, erschöpft oder unterliegt gar dieser Anstrengung gänzlich. Ist der Reiz zu schwach oder zu selten in Beziehung auf die eben vorhandene Erregbarkeit, so wird durch die zu geringe Erregung das betreffende Organ nicht hinlänglich geübt und es verliert nach und nach aus Mangel an Übung seine Kraft und seine Erregbarkeit immer mehr.
Ist hingegen der Reiz dem Zustande der Erregbarkeit an Stärke, Häufigkeit und Dauer angemessen, so wird die nun erfolgende Erregung zur zweckmäßigen Übung und diese stärkt das Organ und vermehrt seine Erregbarkeit immerhin und setzt es nach und nach in den Zustand der größtmöglichen Vollkommenheit.
Zwei Beispiele sollen dies erläutern. Wird der Magen, der sich eben im Zustande mittlerer Kraft und Erregbarkeit befindet, mit einer unverhältnismäßigen Menge schwer verdaulicher Speisen angefüllt, so wird er, sich im höchsten Grade anstrengend, dieselben ganz oder zum Teil durch Erbrechen wieder auswerfen, oder er wird sie mit Anstrengung langsam und unvollkommen verarbeiten und nach dieser Anstrengung unfähig sein, die gewöhnliche Portion, die er vorher mit Leichtigkeit vertrug, gehörig zu verdauen. Wird er nun noch nicht geschont, sondern zu immer neuerer unverhältnismäßigen Anstrengung veranlasst, so sinkt seine Kraft immer mehr, und er wird nun so schwach, dass er auch die kleinste Portion leicht verdaulicher Speisen nur halb zu verdauen im Stande ist. Bekommt hingegen ein zwar schwacher Magen eine seinen Kräften angemessene Beschäftigung, so gewinnt er durch diese Übung immer mehr an Kraft und wird nach und nach in den Stand gesetzt, stärkere Portionen mit Leichtigkeit zu verdauen. Aber auch durch verhältnismäßig zu wenige und zu leicht verdauliche Nahrung verliert der Magen seine Verdauungskraft immer mehr und ist nun nicht mehr im Stande, eine gewöhnliche Portion, deren er vor dieser Verweichlichung Herr ward, zu verarbeiten.
Ein Muskel, längere Zeit nicht gebraucht, wird schwach und nimmt auch an Volumen ab. Ein plötzlich zu heftig angestrengter Muskel erlahmt auf einige Zeit; ein täglich mehr und mehr geübter Muskel erlangt eine ungewöhnliche fast unglaubliche Stärke.
Was von dem Magen, von den Muskeln der Gliedmaßen gilt, gilt auch von allen Organen und organischen Systemen des Körpers. Ja, dies Gesetz bezieht sich auch auf die Seele und ihre einzelnen Vermögen.
Wem ist es nicht bekannt, zu welcher Stärke das Gedächtnis, die Phantasie, die Urteilskraft, ja selbst der Wille durch zweckmäßige Übung zu gelangen vermögen! Wer weiß aber auch nicht, dass unzweckmäßige und zu heftig? Anstrengungen der Geisteskräfte dieselben schwächen und einem unnatürlichen Zustande von Abspannung entgegen führen; so wie umgedreht der Nichtgebrauch derselben ihre Kraft mindert, da sie dann dem nicht gebrauchten Pflugschar gleichen, der sich mit Rost überzieht und seine Schärfe verliert. Das treffendste Sinnbild der Kraft überhaupt und der des Organismus und seiner Teile ist unstreitig die Stahlfeder. Zu lange, zu heftige Anspannung mindert ihre Kraft eben so sehr, als ihre zu seltene und zu geringe Anspannung; während ihre Elastizität durch mäßigen Gebrauch immer zunimmt *),

*) Wenn auch nicht zu leugnen ist, dass die falsche und einseitige Auffassung und die ihr natürlich folgende falsche Anwendung der Grundsätze der Erregungstheorie in früherer Zeit zu ganz fehlerhafter Behandlung Kranker geführt hat und hier und da noch jetzt führt, so würde man doch sehr Unrecht tun, wollte man die daher entstandenen Nacheile ihrem Erfinder, dem geistreichen John Brown und seiner Theorie selbst anrechnen. Die Wahrheit der oben genannten Grundsätze ist unumstößlich und wird täglich von der Erfahrung bestätigt. Browns, seine Theorie falsch auffassenden und einseitig anwendenden Nachbeter tragen allein die Schuld. Dasselbe gilt von der Theorie des Gegenreizes (Contrastimulus). Ihre Grundsätze sind ebenfalls unumstößlich, aber auch ihre einseitige Auffassung und Anwendung kann zu großen Missgriffen führen und hat dazu geführt. Solche Missgriffe sind immer die Schuld der Einseitigkeit der Ärzte, aber nicht die der Lehren geistreicher Beobachter der Natur.

Wie viel auf die gehörige Beachtung dieses Naturgesetzes zur gehörigen Erkenntnis der Wirkungsweise des Seedes ankommt, wird dann deutlich werden, wenn wir zuvor ein zweites Gesetz, dem der der Organismus gehorcht, näher betrachtet haben werden.
Dies Gesetz ist das der Wechselbeziehung, in welcher verschiedene Organe und organische Systeme unter einander stehen.
Die Erfahrung lehrt, dass sich nicht immer die Folgen nachteiliger Einflüsse an den Organen selbst zeigen, auf welche die nachteiligen Einflüsse wirkten, sondern an andern Organen und organischen Systemen, welche mit den betroffenen in Wechselbeziehung stehen.
Es entsteht z. B. Durchfall, eine Krankheit der Därme, nach plötzlich unterdrückter Hautausdünstung; heftige Geistesanstrengung stört den Prozess der Verdauung, Erkältung der Füße macht Blutandrang nach dem Kopfe. Umgedreht benutzt die Natur und der ihrem Winke folgende Arzt dies Gesetz der Wechselbeziehung, um durch erregte vergrößerte Tätigkeit eines Organes die üblen Folgen der gestörten Verrichtungen eines andern Organs, das mit jenem in Wechselbeziehung steht, abzuwenden und das gestörte Gleichgewicht, auf welchem sehr viele Krankheiten beruhen, wieder herzustellen. Bei heftigem Blutandrang nach dem Kopfe oder nach der Lunge erregt man mit Nutzen vermehrte Darmausleerung; bei zu großer und ungeregelter Tätigkeit der Nerven der inneren Teile ruft man durch Bäder, unter gewissen Umständen besonders durch Seebäder, eine größere Tätigkeit der Hautnerven hervor und stellt so das Gleichgewicht zwischen den in Wechselbeziehung stehenden inneren Nerven und äußern Nerven wieder her.
In solcher Wechselbeziehung stehen vornehmlich das Nervensystem mit dem Blutsystem überhaupt, die Verdauungsorgane mit dem Hautsystem, der Magen mit dem Gehirn, das Hautsystem mit dem Harnsystem , die Nerven des Gehirns mit den Nervengeflechten des Unterleibes , die Nerven der inneren Teile mit den Nervenenden an der, Oberfläche der Haut.

Auf die gehörige Würdigung der oben geschilderten ökonomischen Einrichtung des Körpers überhaupt und der beiden Gesetze, des Gesetzes der Erregung und des Gesetzes der Wechselbeziehung insbesondere kommt es hauptsächlich an, wenn die Frage beantwortet werden soll, warum der Gebrauch des Seebades bei so vielen und verschiedenen Krankheitszuständen sich heilsam erweist. Betrachtet man nun, diese Gesetze immer vor Augen behaltend, die Art und Weise, auf welche das Seebad auf den menschlichen Organismus einwirkt und welche Tätigkeiten es in demselben hervorruft, so wird man sehr leicht eine richtige Ansicht davon erhalten, warum und in wie ferne das Seebad ein Heilmittel von so außerordentlicher Wirksamkeit bei so vielen und so verschiedenen Krankheiten genannt zu werden verdient.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Seebad zu Swinemünde