Das Rockenweiblein bei Schloß Eberstein im Schwarzwald

Autor: Ueberlieferung
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Die hohe Felsenwand im Rücken des Schlosses Eberstein im Murgtale heißt der "Rockenfels". Darin wohnte vorzeiten in einer unterirdischen Kammer ein Bergweiblein. Es war nicht mehr jung, auch nicht schön, aber über die Maßen freundlich und dienstfertig. Oft besuchte es abends die Spinnstuben in der Gegend und erzählte den neugierig Lauschenden seltsame Geschichten, heitere und schaurige. Wo die Alte weilte, ging die Arbeit gut voran.

Der Burgvogt, der damals auf Eberstein lebte, war ein harter und finsterer Mann. Täglich zwang er die Mägde bis in die tiefe Nacht hinein zur Arbeit und gönnte ihnen nur wenig Brot und Ruhe. Unter ihnen war auch eine junge, schmucke Dirne namens Klara, ein sehr frommes und ehrbares Kind. Der Schloßgärtner hatte schon längst die Absicht, sie zu seiner Frau zu machen, und auch die Jungfrau hatte ihm ihre Zuneigung geschenkt. Weil sie aber eine Leibeigene von Eberstein war, durfte sie ohne des Vogts Einwilligung nicht heiraten. Dieser aber wußte jedesmal, wenn ihn das Paar um seine Zustimmung bat, eine andere Ausrede, um ihr Glück zu verzögern.

Eines Tages, als die arme Magd wieder flehend in ihn drang, nahm er sie ans Fenster und sagte höhnisch, indem er nach dem nahen Friedhof im Tale deutete: "Siehst du dort jenes grünbewachsene Grab neben dem großen Grabstein?" Klara seufzte, helle Tränen liefen ihr über die blühenden Wangen: "Ach, das ist ja das Grab meiner armen Eltern."

"Die Nesseln gedeihen prächtig auf diesem Grabe!" fuhr der Vogt lachend fort. "Es ist davon ganz überwuchert! Nun höre mich an!

Ich habe mir sagen lassen, man könne aus diesem Unkraut einen überaus zarten Faden spinnen, und darum mache ich dir jetzt einen Vorschlag: du sollst mir aus jenen Nesseln ein Stück Leinwand verfertigen, das gerade für zwei Hemden reicht, aber nicht größer und nicht kleiner! Das eine wird dann dein Brauthemd sein, in dem andern soll man mich einst begraben."

Nach diesen Worten ging der Vogt, boshaft kichernd, seiner Wege. Das arme Mädchen stand voll Bestürzung da und wußte weder Rat noch Trost. In der Trauer ihres Herzens eilte sie dann hinunter zu dem Grabe ihrer Eltern und weinte. Da stand plötzlich das Bergweiblein neben ihr und fragte nach der Ursache ihres Grams. Als Klärchen der alten Frau alles erzählt hatte, verfinsterte sich das sonst so gutmütige Gesicht des Weibleins, und es sagte: "Sei nur ruhig und getrost, es soll dir schon geholfen werden!" Sprach's und riß einen Arm voll Nesseln vom Grabhügel und verschwand. Klara ging mit erleichtertem Herzen zur Ruhe.

Kurze Zeit nachher jagte der Vogt in dem Forst über der Murg und kam zufällig auch an den Rockenfels. Dort saß das Bergweiblein am Eingang seiner Höhle und schnellte recht wacker die zierliche Spindel.

"Du spinnst dir wohl ein Brauthemd, du graue Schönheit?" lachte der Vogt.

"Ein Brauthemd und ein Totenhemd, Herr Vogt", versetzte das Mütterchen.

"Du hast da einen gar schönen Flachs, der ist gewiß von irgendwo gestohlen?"

"Mit nichten, dort drunten ist er gewachsen auf einem armen Bauerngrab."

Den Vogt überlief es kalt. Die Jagd war ihm verleidet, er kehrte sogleich nach Eberstein zurück, mit sich selbst im Kampf, ob er die Zustimmung zu Klärchens Heirat geben solle oder nicht.

So vergingen einige Tage, ohne daß er zu einem festen Entschluß gelangen konnte. Als er eines Abends eben beim vollen Humpen im Rittersaal seine ängstlichen Gedanken niederzutrinken suchte, erschien Klara, zwei schöne Hemden auf dem Arm tragend. "Herr Vogt", sagte sie, "Eurem Verlangen ist nun entsprochen. Hier sind die zwei Hemden aus den Nesseln von dem Grabe meiner Eltern; das eine für Euch, das andere für mich. Jetzt haltet aber auch Euer gegebenes Wort!"

"Das will ich, gewiß, das will ich", stotterte der Vogt, dem es ganz unheimlich zumute war, "morgen soll deine Hochzeit sein!"

In der Tat gab er auch sogleich dem Schloßgärtner die Erlaubnis zur Trauung und versprach, er werde sich selbst dem Ehrengeleit in die Kirche anschließen.

Doch während am folgenden Morgen das junge Paar glücklich am Altar stand, lag der Burgvogt auf der Bahre, mit dem Leichenhemd aus Nesseln angetan.

Die Strafe des Himmels hatte den Sünder unmittelbar später ereilt.