Zweite Fortsetzung

Die russische Ukraine umfasst, wie schon erwähnt, etwa ein Fünftel des europäischen Russlands. Sie ist Russlands reichstes Gebiet und umschließt trotz rückständigster Verkehrsverhältnisse die nächst Moskau und St. Petersburg lebhaftesten Handelsbezirke Kijew, Charkow und Odessa.

Die natürlichen Vorbedingungen für eine gute Ausgestaltung der Verkehrswege sind vorhanden. Denkt man sich die Halbinsel der Krim fort, die nur durch eine schmale Landenge mit dem Festland verbunden ist und allein schon für sich mehr als achthundert Kilometer Küste hat, so hat das ukrainische Festland eine Meeresküste von mehr als tausend Kilometern, die mit dem Inland durch drei Stromsysteme (Dnjestr, Dnjepr und Don) und acht Flüsse (Tiligul, Bug, Ingul, Ingulez, Donez, Manytsch, Jega und Kuban) verbunden ist. Ein Mangel dieser Küste ist die Steilheit ihrer Ufer und das Fehlen brauchbarer natürlicher Häfen; vermindert wird ferner der in ihrer Länge liegende weltwirtschaftliche Wert durch den Umstand, dass das Schwarze Meer nur einen schmalen Ausgang (Bosporus) hat, der überdies nicht direkt in das Weltmeer mündet, sondern in das Marmarameer und in das Mittelländische Meer führt.


Die Ukraine ist befähigt, viele wichtige Massenartikel der Wirtschaft selbst zu erzeugen. Sie gehört zu den reichsten Weizenländern des Erdballs; nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von ihr, das Gouvernement Poltawa, kann als übervölkert gelten. Im Übrigen ist die anbaufähige Ackerfläche noch lange nicht erschöpft. Mitten im Zentrum des Gebiets und an den beiden es durchfließenden Hauptströmen liegen Kohlen- und Erzlager mit starken Ansätzen zu einer Eisen- und Maschinenindustrie. Von den in Russland im Jahre 1912 überhaupt geförderten 1,9 Milliarden Pud Kohlen entfielen 1,3 Milliarden auf die Ukraine (Donezbecken), 0,4 Milliarden auf Polen und nur der bescheidene Rest von 0,2 Milliarden Pud auf das übrige eurepäische und asiatische Russland; von den 500 Millionen Pud der russischen Eisenerzproduktion entfielen 1912 352 auf die Ukraine (327 Kriwojrog, 25 Kertsch), 17,9 Millionen Pud auf das Weichselgebiet und der Rest von 130 Millionen Pud auf das übrige europäische und asiatische Russland. Im Nordosten und Norden, wo der Dnjepr und seine zahlreichen Zuflüsse die Verbindung mit dem Süden herstellen, bedecken Urwälder weite Flächen und sichern bei verständiger Wirtschaft die Holzversorgung für alle Zeiten, während die Wälder des Kaukasus das Südostgebiet der Ukraine versorgen können. Die Zuckerrübe, Tabak, Hopfen wachsen überall, besonders am Nord- und Nordwestrand des Gebiets; Wein und Mais im Süden, Südosten und Südwesten.

Im Widerspruch zu diesen scheinbar günstigen natürlichen Vorbedingungen zur Bildung eines unabhängigen Wirtschaftsgebiets, also auch zur Staatenbildung, steht die Tatsache, dass die Ukraine als Ganzes niemals selbständig gewesen ist. Nur in ihrem nordwestlichen Teil haben die Vorfahren der heutigen Kleinrussen vor tausend Jahren ein Staatswesen mit Kijew und Tschernigow als Mittelpunkt gründen können*).

*) Damit will wohl der Verfasser die Forderung der Ukrainer hinsichtlich der Schaffung eines selbständigen Staates nicht in Frage stellen, da es eine in der Geschichte bekannte Tatsache ist, dass sich die Staatsgrenzen nicht immer mit den nationalen decken. (Vergleiche: Die deutsche Nation.) Was das ukrainische Volk anbelangt, so muss hier konstatiert werden, dass der alte Kijewer Staat (das 9. bis 12. Jahrhundert) fast das gesamte ethnographisch ukrainische Territorium umfasst hatte, welches zur Zeit der Entstehung jenes Staates zum großen Teil dem gegenwärtigen Wohngebiet des ukrainischen Volkes entsprach. Das unter dem Anprall der turko-tatarisehen Horden eingebüßte Territorium wird vom ukrainischen Volke im 17. bis 19. Jahrhundert zurückgewonnen.

Nach dem Falle des Kijewer Staates im 12. Jahrhundert (unter dem erwähnten Anprall der Nomaden und infolge der Rivalität des neugebildeten moskowitischen Fürstentums) ist das ukrainische Leben nicht zugrunde gegangen, sondern sein Zentrum wurde vom Dniepr weiter gegen Westen an den Dniestr verschoben, wo ein neuer ukrainischer Staat, das galizisch-wolhynische Fürstentum (12. bis 14. Jahrhundert), auf dem Territorium der jetzigen Gouvernements Wolhynien und Podolien sowie Ostgaliziens entsteht, welcher die alten Traditionen des Kijewer Staates weiter entwickelt. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts fällt dieser ukrainische Staat infolge der inneren Wirren und der Begehrlichkeit der Nachbarn (Polens und Ungarns), wobei Galizien und das Cholmerland unter die Herrschaft Polens gelangen. Allein das Staatsleben findet, wenn auch mit gewissen Störungen und Unterbrechungen, seine Fortsetzung bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts in den ostukrainischen Gebieten (in Wolhynien und im Kijewer Gebiet), wo die Fürsten des litauischen Staates regierten. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts werden diese Fürstentümer zu einfachen Provinzen des litauischen Staates; in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (1569) werden fast alle ukrainischen Lande, die zum litauischen Staate gehörten, von Polen annektiert. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts (1648) kommt es zum großen ukrainischen Aufstand gegen Polen unter der Führung Chmelnytzkyjs und es entsteht der neue ukrainische Staat, die Hetmanenrepublik, die bis Ende des 18. Jahrhunderts bestehen bleibt. (1764 wurde die Hetmanenwürde aufgehoben und erst im Jahre 1780 wird die Ukraine zu einer Provinz Russlands.) Für eine Zeitlang waren in jener Republik fast alle ukrainischen Lande, mit Ausschluss von Galizien, vereinigt und erst später wurde die sogenannte rechtsseitige Ukraine (die Gebiete am rechten Dnieprufer) von ihr losgetrennt. Abgesehen aber von den jeweiligen Staatsgrenzen erstarb im ukrainischen Volke auf dem ganzen ukrainischen Territorium nie das Gefühl der Einheit und Zusammengehörigkeit, welches oft in heller Flamme entbrannte. (Die Wiedergeburt des 16. bis 17. Jahrhunderts und der gegenwärtige Moment.) Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit wurde im hohen Maße durch jene häufigen Massenfluktuationen der ukrainischen Bevölkerung gefördert, die aus mannigfachen Gründen (die sozialen und nationalen Bewegungen, die Kriege der Ukraine und für die Ukraine) wiederholt auf dem ganzen Gebiet der Ukraine stattfanden. „Jene Fluktuationen“ — sagt Professor Hruschewskyj in dem ersten Band seiner großen „Geschichte der Ukraine“ — „haben das bewirkt, was angesichts des Mangels an einer einheitlichen politischen Organisation, an regen inneren Beziehungen sowie angesichts der geographischen Absonderung großer Teile des ethnographischen Territoriums sonst nicht möglich gewesen wäre. Dieselben haben ganz gewiss dazu beigetragen, dass, ungeachtet aller ungünstigen Umstände, das Gefühl der völkischen Zusammengehörigkeit, Einheit, das nationale Bewusstsein überhaupt in der ukrainischen Bevölkerung rege geblieben ist.“ Anm. der Herausgeber


Ebenso in Widerspruch mit den natürlichen Vorbedingungen steht die Beobachtung, dass, nachdem einmal der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt der sarmatischen Ebene von Kijew nach Moskau verlegt werden konnte, dieser Schwerpunkt bis auf die heutige Zeit nicht wieder nach Südwesten rückte, sondern im Norden blieb.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Problem der Ukraine