Erste Fortsetzung

Je deutlicher es den gebildeten Teilen der russischen Gesellschaft zum Bewusstsein kommt, dass sie wieder einmal von der Petersburger Regierung hinters Licht geführt worden sind — vor dem Kriege durch die bewusst falschen Angaben über die deutsche Politik und ihre Absichten, während des Krieges durch falsche Siegesmeldungen und bewusst falsche Nachrichten über den Stand der Kriegsoperationen — je mehr mit einem Worte die russischen Volksmänner von neuem erkennen, dass die Zentralregierung im Grunde genommen der böseste Feind der in Russland vereinigten Völker ist, umso mehr beginnen Erwägungen aufzutauchen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob das Zarenreich mit seiner gewaltigen Fläche, der großen darauf wohnenden Zahl von Nationalitäten und seinen großen wirtschaftlichen und sozialen Widersprüchen überhaupt zentralistisch regiert werden kann und ob nicht ein auf Dezentralisation nach Nationalitäten beruhendes Föderativsystem dem bisherigen Zustand vorzuziehen sei und größere Gewähr für die politische und kulturelle Zukunft der Russen biete. Laut, sogar in den Aufrufen der Armeeführer, wird von einer Autonomie der Polen gesprochen, für deren Schaffung England durch Herrn Asquith die Garantie übernommen haben soll! Auch Finnland und dem Kaukasusgebiet kommen die russischen Vertreter des Föderativsystems freundlich entgegen. Nicht so den Ukrainern. Zwar findet man, wie während der Regierungszeit Alexanders II. und während der Revolution 1905/06, in der demokratischen Presse hin und wieder Artikel zugunsten der kulturellen Bestrebungen der Kleinrussen, aber ernsthafte Anzeichen dafür, dass die Sympathien für die kleinrussische, die sogenannte ukrainische Bewegung stark im Zunehmen begriffen seien, und dass somit auch der Gedanke an die Herstellung einer, wenn auch nicht politischen, so doch einer kulturellen Selbständigkeit der Ukraine durch Russland selbst in den Bereich des Möglichen tritt, derartiges lässt sich — soweit ich sehe — aus keinem der in jüngster Zeit erschienenen Zeitschriftenaufsätze und aus keiner Broschüre herauslesen. In Südrussland selbst erstarken dagegen, wie verbürgte Nachrichten besagen, tatsächlich Organisationen unter der Oberfläche, die den Aufstand gegen den Zentralismus der Petrograder Bürokratie und die Befreiung vom moskowitischen Panslawismus predigen, und — in Moskau und Petersburg mehren sich bei den Sozialisten die Stimmen, die diesem Ukrainophilentum Beifall klatschen!

Der Streitpunkt, von dem aus die moskowitisch-ukrainischen Gegensätze zu verstehen sind, liegt darin, dass die Ukrainer behaupten, ein selbständiges Volk mit eigener Sprache zu sein, während die Moskowiter in ihnen nur eine geringere Abart des Russentums anerkennen wollen, weshalb die Ukrainer Kleinrussen genannt werden, während ihre Sprache als kleinrussischer Dialekt bezeichnet wird. Sich selbst stellen die Moskowiter als das überlegene Herrenvolk hin, das sich ebendeshalb und um der nationalen Einheit willen berechtigt fühlt, gegen die ukrainische Sprache einen Ausrottungskampf zu führen. Der Ukrainer M. Shutschenko kennzeichnet die Lage für 1911 wie folgt: „Die national- kulturelle Bewegung der Ukraine ist von der Regierung als separatistisch und daher als staatsgefährlich bezeichnet und durch eine Reihe von Zirkularen und Verordnungen tatsächlich außerhalb des Gesetzes gestellt worden. Infolgedessen wurde die Auflösung aller bescheidenen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kultur und Bildung seit 1905 bis 1906 fortgesetzt. Die Abneigung des verstorbenen Stolypin gegen das Ukrainertum, die in seiner Unterredung mit den Vertretern der Kiewer Rationalisten am verhängnisvollen 1. September ihren Ausdruck fand, ist bekannt. In Anbetracht dieses genügt es zu erwähnen, dass das „Nowoje Wremja“ forderte, alle Ukrainer vor Gericht zu stellen, da diese nicht mehr und nicht weniger als einen bewaffneten Aufstand und eine Losreißung der Ukraine von Russland vorbereiteten . . .“


Im Übrigen ist die Frage recht kompliziert durch den Gang ihrer Entwicklung. Die Tatsache, dass die Literatur schon auf die Frage: „Was ist die Ukraine?“ nicht weniger als drei Antworten gibt, zeigt, wie schwierig und ungeklärt das ukrainische Problem ist.

Die Ukrainophilen verstehen unter Ukraine das gesamte von den Kleinrussen ethnographisch bedeckte Gebiet vom Nordhang des Kaukasus an, um das Schwarze Meer herum, bis zu den Sümpfen des Pripet im Korden und über die Karpaten hinüber im Westen (Gruschewski). Die Polen verstehen unter Ukraine eigentlich nur die russischen Gouvernements Wolhynien, Podolien, Kijew, Tschernigow und Poltawa (Slownik geograficzny, Band 12). Die Russen, die Moskowiter, wollen von einer territorialen Bestimmung des Begriffs überhaupt nichts wissen, ihnen ist Ukraine die Bezeichnung für eine bestimmte kleinrussische Dialektpoesie und sie glauben sie damit jeden politischen Inhalts zu entkleiden. (Russisches enzyklopädisches Wörterbuch, Band 68.) Die Moskowiter können sich für ihre Auffassung auf die Geschichte des Vereines „Staraja Gromada“ stützen, der 1859 in Kijew als politischer Studentenverein ins Leben getreten ist und bis 1910 etwa (zuletzt fünfundzwanzig Jahre hindurch) als literarische Gesellschaft ohne jede politische Bedeutung bestanden hat. Noch in der ersten Hälfte der Achtzehnhundertachtzigerjahre stand die „Staraja Gromada“ ganz unter dem Einfluss des bekannten russischen Autonomisten M. P. Dragomanow; bald nach seinem Ausscheiden 1887 blieb ihr einziges Ziel die Pflege des literarischen Nachlasses des Dichters Schewtschenko.

Wollte irgendeine politische Macht die Wünsche derjenigen Kreise voll befriedigen, die in Deutschland als Ukrainophilen schlechthin bekannt sind, so müsste sie den Ukrainern etwa ein Fünftel des europäischen Russlands, zwei Drittel Galiziens und ein Fünftel Ungarns staatlich sichersteilen.

Vorausgesetzt nun, dass die Ukrainer dies ganze Gebiet wirklich auch ethnographisch bedeckt haben, tritt die wichtige Frage in ihre Rechte, ob eine Ukraine in dem gekennzeichneten Umfang auch ein politisch lebensfähiges Gebilde abgäbe, ein Staatswesen, das nicht beim ersten Versuch wieder dem feindlichen Nachbarn oder Usurpator unterläge. Ein Staat ist im Zeitalter der Weltwirtschaft nur lebensfähig, wenn sein Territorium, enthielte es auch die größten Reichtümer, bei einer gewissen wirtschafts- und verkehrsgeographischen Geschlossenheit eine ungehinderte Verbindung zu den Straßen des Weltverkehrs und zu seinen Absatzmärkten besitzt, wenn seine Bevölkerung genügend große Wirtschaftsenergien zu entwickeln vermag, um die Schätze des Landes zu heben und gegen entsprechende Einfuhrwerte vorteilhaft einzutauschen, einen genügend großen Eigenverbrauch hat, und wenn schließlich die soziale Struktur des Volkes ein planmäßiges Zusammenwirken aller Volkskräfte nach innen und außen möglich macht. — Der Bildung einer mehr oder minder selbständigen Ukraine steht der moskowitisch-petrograder Staatsgedanke entgegen. Seit tausend Jahren, als Kijew noch den Schwerpunkt Russlands bildete, haben sich alle Verhältnisse nach und nach zugunsten Moskaus verschoben. Und als im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Ukraine durch den inneren Zerfall des polnisch-litauischen Reiches gleich diesem zwischen Moskau und die aufstrebenden Staaten Mitteleuropas gestellt ward, wurde sie vom Westen abgelöst und an das neue Russland Peters des Großen gedrängt, das alle Gewähr für die nationale Selbständigkeit zu bieten schien. Für den heutigen russischen Staat würde die Rückentwicklung von einem stark zentralisierten Nationalstaat zu einem Nationalitätenstaat eine nicht zu unterschätzende Gefahr bedeuten. Nicht so für ein liberales und friedliebendes Russentum. Diesem bedeutete es die Schöpfung einer neuen nationalen Kraftquelle, mit deren Hilfe die Ostslawen eine bisher ungeahnte Rolle unter den Weltvölkern spielen könnten. Und hiermit sowie durch ihre wirtschaftspolitische Seite im Rahmen des großrussischen Wirtschaftsgebietes bekommt die ukrainische Frage auch eine Bedeutung für die mitteleuropäischen Staaten. Sie sei darum im Folgenden zwar als ein Problem der russischen Politik behandelt, der aufmerksame Leser wird aber leicht die uns näher angehenden Schlüsse selbst finden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Problem der Ukraine