Fortsetzung 81 bis 105

81.
Dicaearch, ein im Altertum berühmter Geograph, gebürtig auf Rhodus, stellte fest, dass der Parallelkreis dieser Insel durch die größte Ländererstreckung der damals bekannten Welt gehe, und wurde deshalb dieser Parallelkreis seitdem das Diaphragma des Dicaearch benannt. Jetzt nun geht der Parallelkreis von Rhodus, wie auf einer gewöhnlichen Karte ersichtlich ist, gerade durch das ganze Mittelmeer usw. nicht durch die größten sondern durch die geringste Landerstreckung der alten Welt; der Zeit aber, vor 2000 Jahren, verlief er vom grünen Vorgebirge, der äußersten Westecke Afrikas an. durch ganz Nordafrika. Kleinasien. Kaukasien usw., durch die größte Erstreckung Asiens. wovon man sich nach der oben (78) angegebenen damaligen Lage des Äquators überzeugt, wenn man diesem parallel auf der Karte eine Linie durch die Insel Rhodus zieht.


82.
Nach den übereinstimmenden Angaben der alten Geographen ging die Längsrichtung des roten und adriatischen Meeres gerade von Norden nach Süden; die des kaspischen von Südwest nach Nordost; die Englands und Schottlands nahezu von Westen nach Osten. Irland lag nach den ältesten Berichten von Zeiten des Karthagers Himilco bis Pytheas nördlich, nach dem späteren Geographen Ptolemaeus nordwestlich von England und nordöstlich von Portugal; Island oder Thule lag nach allen Angaben von Pytheas bis Ptolemaeus nordöstlich von England, im 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, zur Zeit des irländischen Mönchs Dicyil, nach den ausführlichen Angaben dieses Gewährmannes gerade im Norden von England und jetzt liegt es bekanntlich nordwestlich davon; die Orientierung, d. h. Richtung nach den Weltgegenden, hat sich bei diesen angegebenen Lokalitäten so geändert, wie es mit dem Fortrücken der Pole und des Äquators seitdem geschehen musste, wovon man sich gleichfalls durch gewöhnliche Karten oder Globusse überzeugen kann.



83.
Zahllose Mutmaßungen sind aufgestellt über diese und andere frühere Ortsangaben, die nach der herrschenden Ansicht der Unveränderlichkeit der geographischen Lagen unerklärlich waren und blieben. Soweit es zulässig erschien, wurde die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Angaben oder Berichte angefochten. Irrtümer und Beobachtungsfehler vorausgesetzt und die früheren Ortsbestimmungen von den späteren Beobachtern als fehlerhaft beseitigt.

84.
Wo dies aber der Zuverlässigkeit der Angaben und der Größe der Abweichungen wegen nicht zulässig war, da musste man seine Zuflucht zu andern Voraussetzungen nehmen, namentlich der Verwechslung der Lokalitäten und Übertragung der Benennungen, so dass in Folge der Zeiten, so wie die Lage der Gegenden sich beträchtlich verändert hatte. dieselben Benennungen ganz andern Lokalitäten: Seen, Flüssen, Inseln, Gebirgen, Städten usw. beigelegt und dadurch nicht geringe Verwirrung in der Geschichte der Geographie herbeigeführt wurde.


85.
So gelangte z. B. die Nordspitze Asiens, früher Cap Tabes genannt, ans kaspische Meer; das Land der Sinen mit der Hauptstadt Thinae, jetziges Nordchina oder Mandschurei nach Hinterindien, das alte Indien des Herodot, mittleres Asien, in die jetzt sogenannten Halbinseln; der jetzige Indus hieß ursprünglich Nil. (Alexander der Große glaubte, als er zum Indus kam, den Ursprung des Nils aufgefunden zu haben) und der persische Meerbusen rotes Meer; dadurch dass beide später nach Ägypten versetzt wurden, fiel Arabien und das südliche Persien (zwischen dem ursprünglich sogenannten Nil und roten Meer) an Asien, es hörte damit die landfeste Verbindung zwischen Asien und Afrika im Süden auf, und blieb hinfüro nur als Sage im Altertum noch in Erinnerung,


86.
Ähnlich ging es auch mit Island oder Thule, wie es von Columbus, der mehrfach die Insel besuchte und noch lange nach ihm ausschließlich benannt wurde; da es nach bestimmten alten Angaben nordöstlich von England lag, in dieser Richtung jetzt aber keine zu den früheren Beschreibungen passende Insel vorhanden ist, so war das Rätsel unlöslich und blieb nur übrig, die Identität des alten Thule mit Island zu bezweifeln.


87.
So galten auch die Nachrichten vom alten Grönland lange für fabelhaft, nachdem es wegen der Nähe des Pols gänzlich vereist und unzugänglich geworden, und die früheren Kolonien daselbst: auf der Westküste 4, auf der Ostküste 12 Pfarrkirchen mit 150 Dörfern, 1 Bistum und 2 Klöstern (nach Torfaeus) zu Grunde gegangen waren; bis Anfang vorigen Jahrhunderts zuerst die Südspitze wieder eisfrei und zugänglich wurde, dann mehr und mehr die Westküste und im Laufe dieses Jahrhunderts auch ein Teil der Ostküste.


88.
Bei den im Laufe der letzten Jahrhunderte wiederholten Entdeckungsreifen und Erdumsegelungen zeigten desgleichen die späteren Beobachtungen häufig solche Abweichungen von den früheren Angaben. dass die Lokalitäten nicht zu identifizieren waren. Dies war vornehmlich der Fall bei den Gegenden in der Nähe der „Pollinie“, deren geographische Lagen sich am schnellsten ändern, also namentlich Amerika und das östliche Asien. Hier beträgt die Änderung der geographischen Breite in 75 bis 100 Jahren 1° und darüber.


89.
Anders ist es in Südwest-Europa, Nordafrika, den Umgebungen des Mittelmeers, also gerade den Sitzen der früheren Kultur und Schauplatz der älteren Geschichte. Diese Gegenden haben während der geschichtlichen Zeit ihre geographischen Breiten nur um einige wenige Grade geändert und zwar die westlichen derselben zu- und abnehmend, so dass z. B. Tunis, Algier, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, England, Island jetzt wieder unter derselben Breite liegen, wie respektive vor 2-3.000 Jahren, und darin mittlerweile nur eine Änderung von 1/2-3° erlitten haben.


90.
Ohne Zweifel trug dieser Umstand zur Täuschung bei, da die Beobachtungen sich lange auf diese Gegenden beschränkten, und so geringe Abweichungen leicht für Beobachtungsfehler gelten konnten. Es waren daher auch die verschiedentlich darüber angestellten Untersuchungen, die von der Pariser Akademie vorgenommen wurden, nachdem Tycho Brahe, Ferrara, ein Schüler des Copernicus u. A. dazu aufgefordert hatten, von keinem entscheidenden Erfolg, obgleich die Abweichungen dadurch unzweifelhaft konstatiert wurden, und Picard z. B. eine solche von 18 Minuten an dem Beobachtungsorte Tycho Brahes fand, um welche seine Bestimmung dieses Orts von der, 80 Jahren früher von Tycho Brahe selbst gemachten, abwich.


91.
Noch Mitte vorigen Jahrhunderts versicherte einer der ersten Geographen damaliger Zeit. Doppelmaier, Professor am Gymnasium zu Nürnberg, dass er nicht mehr als 116 Orte auf der ganzen Erde anzugeben wisse, deren geographische Lagen einigermaßen sicher bestimmt seien. Erst in neuester Zeit wurde auf die Genauigkeit der Ortsbestimmungen größeres Gewicht gelegt, zur Verbesserung der Land- und Seekarten wie auch Behufs- der Grad- und typographischen Vermessungen. Da diese von den geübtesten Beobachtern mit den besten Instrumenten vorgenommen werden, so sind die dabei immer von neuem, wenn auch der Kürze der Zwischenzeiten wegen, nur geringen Abweichungen um so auffallender (vergl. Jahn: Geschichte der neueren Astronomie. Lipz. 1844).


92.
Diese kostspieligen Unternehmungen können nur dann zu einem sichern Resultate führen, wenn die wirkliche Änderung der geographischen Lagen dabei berücksichtigt wird. Ohne dies können sie nicht den Nutzen gewähren, den man davon erwartet. Große Opfer an Zeit, Geld und Kräften können vermieden; andererseits erhebliche Vorteile gewonnen werden. z. B, durch tunliche Vorausbestimmungen der Niveau- und Klimaänderungen, die für Kolonisation und Volkswirtschaft, für Handel und Wandel von der allergrößten Wichtigkeit sind, durch Prüfung und Lösung dieses Problems, und dazu wollen wir denn nun noch ein einziges, sicheres und einfaches Mittel in Vorschlag bringen.


93.
Es ist bekanntlich ein alter Brauch, dass bei Anlegung der zu heiligen Zwecken bestimmten Gebäude, Tempel und Kirchen die Richtungen nach den Weltgegenden inne gehalten wurden, so dass die Hauptausdehnungen dieser Gebäude in gerader Ost-West- und Nord-Südrichtung befindlich waren. Die christlichen Kirchen wurden so angelegt. dass das Altar am östlichen, die Türme am westlichen Ende zu liegen kamen, die Seitenmauern gerade west-östlich, die End- oder Turmmauern gerade nord-südlich zu liegen kamen.


94.
Dieser Brauch ist nicht in allen Fällen und nicht immer mit absoluter Genauigkeit befolgt; örtliche Verhältnisse waren dabei mitbestimmend, und manche Gebäude. z. B. Klöster, wurden erst später zu Kirchen eingerichtet. Dies tut aber wenig zur Sache, gewiss wurde der Brauch in der Mehrzahl der Fälle, bei größeren, auf freien Plätzen der Städte angelegten Kirchen befolgt und es genügt schon eine einzige solche Kirche, um die Lageveränderung der Pole überhaupt zu konstatieren und 2 solche einander nicht zu nahe Kirchen, um die Größe dieser Änderung zu bestimmen.


95.
Denn haben bei einer ursprünglich so angelegten Kirche jene Richtungen nach den Weltgegenden sich geändert; ist die Längsrichtung einer solchen Kirche nicht mehr gerade westöstlich. die Querrichtung nicht mehr gerade nordsüdlich, so muss die Lage der Pole sich geändert haben. Dies ist eben so absolut gewiss, als dass die Kirche selbst sich nicht aus ihrer ursprünglichen Richtung herausdrehen kann.


96.
Von der Lage der geographischen Pole hängen die Richtungen nach den Weltgegenden allein und lediglich ab. Nord- und Süd-Pol sind Nord- und Süd-Punkt, die Richtung auf sie die gerade Nord-Südrichtung, durch welche auch die gerade Ost-Westrichtung bestimmt wird, indem diese zu jener immer rechtwinklig ist. Für irgend einen Ort der Erdoberfläche können diese Richtungen sich also nur dann ändern, wenn die Lage der Pole sich ändert, ohne dies müssen sie dieselben bleiben.


97.
Grönland z. B. liegt jetzt von Hamburg im Nordwesten. Vor Jahrhunderten aber, als der Nordpol in der Bassinsbai war, lag es von Hamburg gerade im Norden. Wurde damals eine der jetzigen Kirchen Hamburgs erbaut und in besagter Weise angelegt; in der Querrichtung gerade nach Norden, also nach Grönland weisend, so ist auch jetzt diese Querrichtung eben dahin weisend, nicht mehr gerade nördlich, sondern nordwestlich und folglich die Längsrichtung der Kirche so von der jetzigen Ost-Westlinie abweichend. dass das Turmende südlicher, das Altarende nördlicher, die Kirche also in ihrer Länge jetzt Südwest gen Nordost liegt.


98.
Es sei Fig. 3 u. 4 S’ N’ Süden und Norden, W’ und O’ Westen und Osten zur Zeit der Erbauung der Kirche; jetzt aber S und N Süden und Norden. W und O Westen und Osten, so erhellet hieraus das eben Gesagte, das Turmende weicht südlich, das Altarende nördlich von der jetzigen Ost-West-Richtung ab, die Längsrichtung der Kirche W’ O’ ist jetzt Südwest gen Nordost.


99.
Von solcher Abweichung kann man sich schon durch bloßen Augenschein nach der Stellung des Polarsterns über der Kirche überzeugen. Der Polarstern liegt bekanntlich in der Richtung der Erdachse, gerade über dem Nordpol, da die Lageänderung der Achse in der Erde, wie in 71 u. 72 gesagt und gezeigt, auf die Richtung desselben im Weltraum keinen Einfluss hat. Die Richtung daher, in der wir den Polarstern erblicken, fällt immer mit der Richtung auf den Pol zusammen, ist die gerade Nordrichtung.


100.
Wählt man also zur Abendzeit auf der Südseite der Kirche einen Standpunkt bei B, und erblickt den Polarstern nicht in gerader, sondern in schräger Richtung über der Kirche, wie in der Zeichnung durch die Linien S’ N’ und S N angedeutet, so weicht die Kirche auch um diesen Winkel N’ B N, in welchem die beiden Linien einander schneiden, von der ursprünglichen Orientierung ab.


101.
Bei den 6-800 Jahr alten Kirchen Norddeutschlands, Dänemarks, Englands, Schwedens beträgt dieser Abweichungswinkel 10-13°, am Himmel eine Weite, reichlich 20 mal so lang, als der scheinbare Durchmesser des Vollmondes. und ist mit bloßen Augen leicht bis auf ½° genau zu schätzen.


102.
Solche Schätzung, die also Jeder ohne große Mühe anstellen kann, genügt, um sich dadurch von der Lageänderung der Pole im Allgemeinen zu überzeugen. Um die Änderung danach genauer zu bestimmen, dazu bedarf es selbstverständlich einer Messung des Abweichungs-Winkels zweier von einander entfernter Kirchen von bekanntem Alter. z, B. einer solchen Kirche in Norddeutschland und einer anderen in England. Danach lässt sich dann nach den Regeln der sphärischen Trigonometrie die Lage der Pollinie und die Schnelligkeit des Fortrückens der Pole darin berechnen.


103.
Diesemnach geht unser Vorschlag dahin, solche Beobachtungen zu machen und zusammenzustellen, damit durch Vergleichung derselben ein richtiges Resultat ermittelt werde. Es kann keine großen Schwierigkeiten haben, solche Kirchen ausfindig zu machen, deren Alter und ursprüngliche Orientierung bekannt ist oder doch aus Urkunden erkannt werden kann.


104.
Ist dieses Resultat dann: dass alte Kirchen, von denen bestimmt ausgemacht, dass sie ursprünglich orientiert wurden, noch jetzt in denselben Richtungen liegen, in denen sie angelegt wurden, so ist es nichts mit dieser Sache, sie muss dann, trotz der angeführten Gründe auf Täuschung beruhen, die Lage der geographischen Pole muss unveränderlich sein.


105.
Ist aber das Resultat im Gegenteil, dass alte Kirchen nicht mehr in den Richtungen liegen, in denen sie ursprünglich angelegt wurden, so ist damit ein großartiger Vorgang der Natur enthüllt; der Forschung ein neues, reiches Gebiet erschlossen und Aussicht eröffnet, Aufklärung zu erhalten über Dinge und Verhältnisse, deren Kenntnis wissenschaftlich und praktisch so wichtig ist, dass von jeher alle aufgeklärten Rationen die besten Kräfte und Mittel auf die Erforschung desselben verwendet haben und noch verwenden.
Das Polar-Problem Fig. 1

Das Polar-Problem Fig. 1

Das Polar-Problem Fig. 2

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Das Polar-Problem Fig. 3

Das Polar-Problem Fig. 3

Das Polar-Problem Fig. 4

Das Polar-Problem Fig. 4

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