Die theatralische Schreiberzunft

Unter Philipp dem Schönen (1285-1314) ging es in Frankreich, wie es immer noch bei uns zu gehen pflegt. Die Menschen mehrten sich, die Städte wurden volkreicher, besonders die Hauptstadt Paris, die Streitigkeiten um Mein und Dein nahmen täglich zu, und mit ihnen die Schreiberei, sodass die königliche Kanzlei ohne eine Vermehrung der Schreiber nicht mehr den Geschäften gewachsen zu sein behauptete. Nun, sagte der König, so nehmt junge Leute an, welche unter eurer Leitung arbeiten und sich auf solche Art vorbereiten, einmal selbst in eure Stelle einzurücken. An äußerer Ehre fehlte es diesen Schreibern (Clercs) gerade nicht. Sogar einen König gab ihnen der König 1303, der die Erlaubnis hatte, eine Art Schlafmütze zu tragen, welche der seinigen ähnlich sah, und außerdem gab es noch in ihrer Mitte einen Kanzler, einen Generalprokurator, einen Advokaten, einen Großreferendar, Großauditeur usw. Am meisten könnte uns der Königstitel auffallen; allein damals war man mit demselben nicht sehr sparsam. Gar manche Innungen hatten einen solchen, z. B. die Seidenhändler. Bereits damals gab es einen Schützenkönig, einen Krämerkönig, sogar die Polizei hatte einen solchen, der auf die Beutelschneider und zweideutigen Personen am Hofe und in der Stadt Acht zu geben hatte. Genug, die neue Schreiberinnung war so gut gestellt worden, wie sie es sich als ein neues Kind des Tages nur immer wünschen konnte. Ich könnte nun noch gar Vieles von ihr sagen; von ihren mancherlei Aufzügen, wenn der erste Mai gefeiert ward, oder sie ihre Musterung abhielt und so fort; allein wir lassen dies Alles beiseite, um uns hier nur zu ihren theatralischen Studien zu wenden. Sie sind gewiss den meisten Lesern dieses Blattes ganz unbekannt und bieten doch für Jeden, welchen die Geschichte der Bühne beschäftigt, manchen eigentümlichen Zug. Paris hatte damals bereits eine ansehnliche Gesellschaft von Passionsbrüdern, d. h. von ehrlichen Bürgersleuten, von Handwerkern, welche das ganze Leben des Heilandes darstellten; das Leiden und Sterben war natürlich der Punkt, um den sich Alles drehte, aber die Geburt und die Himmelfahrt und Alles, was dazwischen lag, bildete ebenso viel Vor- und Nach- und Zwischenspiele, dass jeder Sonn- und Feiertag im Jahre sein bestimmtes Stück hatte. Das auf den Sonntag fallende Evangelium ward damals nicht nur von der Kanzel verlesen und als Predigttext benutzt, sondern als ein erbauliches Schau- oder Trauerspiel Nachmittags im Freien aufgeführt, dass selbst die Vesper deshalb ausgesetzt wurde. Die jungen Schreiber, die Clercs, kamen, als sie vielleicht schon ein Jahrhundert bestanden hatten, auch auf den Gedanken, eine Verbrüderung der Art zu stiften und solche biblische Schauspiele zu geben. Da aber trat ihnen der Nahrungsneid entgegen. Die Passionsbrüder hatten seit 1402 ein Privilegium für ihre Darstellungen und wirkten, darauf gestützt, ein Verbot aus. Neue Gesetze, neue Betrügereien! Umsonst waren die Schreiber nicht im Dienste der Gerechtigkeit. Statt Mysterien aufzuführen, wie die biblischen Schauspiele hießen, personifizierten sie Tugenden und Laster; sie gaben Moralitäten. *) Jährlich spielten sie etwa drei mal in der Regel; vor oder nach dem Dreikönigstage, am Maitage und bald nach der großen Musterung. Gab es einen großen Einzug vom König oder von der Königin, so kam auch dann noch eine vierte oder fünfte Vorstellung hinzu. Die jungen Leute machten erstaunliches Glück. Natürlich! es war doch immer eine Art Dichtkunst darin; nicht eine trockene, immer wiederkehrende prosaische Langweiligkeit. Im Spiele, in der Darstellung mussten die Gevatter Schneider und Handschuhmacher doch auch, wer weiß wie sehr, den Kurzer n gegen die viel gebildeten Jünger der Themis ziehen, und bald dachten diese auf eine noch ergiebigere Quelle von Ehre und Einnahme; denn auf. diese war es bei Leuten, die nur auf die künftigen Ämter angewiesen waren, doch auch abgesehen. Sie dichteten und spielten Farcen; sie warfen sich ins Fach der Posse.

*) Bereits waren dergleichen schon früher vorgekommen, ohne aber festen Fuß gefasst zu haben, wie es jetzt geschah.


Statt der eigentlichen Laster und Tugenden wurden die gewöhnlichen Fehler der Menschen vorgenommen: der Geiz, die Betrügerei, das Spiel; aber freilich stellte sich das zum Grunde liegende Allgemeine gar bald in der Vorführung bekannter Personalitäten dar. Erst nahmen sie die letzteren aus ihrer Mitte selbst, bald jedoch sah man auch jenen verschmitzten Parlamentsrat, diesen schäbigen Kleriker oder liederlichen Hofmann. Die Posse ging bald in die Sottise über. Der Narrenkönig, welcher an der Spitze einer ähnlichen Gesellschaft stand und das Recht hatte, nur echte Narrenspossen aufzuführen, schloss mit der Schreiberinnung ein Tauschgeschäft ab; sie erlaubte ihm ihre Farcen und er ihr seine Narrenspossen. Die Zeit begünstigte die Einen wie die Andern. Die Schreiber der Bazoche*) führten auf solche Art bald lustige, bald historische, bald moralische, bald bepuderte**) und noch andere Farcen oder Sottisen auf, indem die bürgerlichen Kriege zu Ende der Regierung Karls VI. und dann unterm Dauphin, Karl VII., die Einen wie die Andern begünstigten. Der legitime Herr von Frankreich lag mit seinen großen Vasallen in offenbarem Kriege; die Prinzen, seine Verwandten, traten selbst im Felde gegen ihn auf. England hatte ein Heer gesendet, um, von ihnen unterstützt, Frankreichs Krone seinem Herrscher aufs Haupt zu setzen. Wem alle diese Dinge nicht geläufig sind, darf nur Schillers „Jungfrau von Orleans“ lesen, und er bekommt das treueste Bild von diesen Wirren, die aber nun gerade der theatralischen Schreiberzunft wie der Gesellschaft des Narrenkönigs Stoff in Menge boten, lustige Possen und Sottisen darzustellen. Endlich hatte die Jungfrau von Orleans den rechtmäßigen Erben wieder auf den Thron gesetzt; die Engländer waren verjagt aus Frankreich, Karl VII, hielt seinen Einzug (1437) in Paris, und es trat nun eine tüchtige Theaterpolizei ein. Die Herren der Bazoche mussten erst alle mal um Erlaubnis beim Parlament ansuchen, wenn sie eine Vorstellung geben wollten, oder gewärtig sein, bei Wasser und Brot eingesteckt zu werden, ein Fall, der 1442 in der Tat eintrat, ja am Ende kam sogar 1476 ein Verbot gegen ihre Farcen, Sottisen und Moralitäten überhaupt. Sie sollten nicht einmal um Erlaubnis zu dergleichen ansuchen, und als im Jahr darauf Seine Majestät der König der Schreiberzunft von dem allen Menschen zustehenden Petitionsrechte in dieser Hinsicht Gebrauch zu machen gewagt hatte, erhielt er den Bescheid, dass er und seine Compagnie im Wiederholungsfalle aus Paris verwiesen, vorher aber mit dem Staubbesen angesehen werden sollten. Volle 20 Jahre lang hatte die theatralische Schreiberzunft nun Zeit, ihr Elend im Sack und in der Asche zu beweinen, bis 1497. Da starb Karl VIII. und ihm folgte Ludwig XII. auf dem Throne der Capets; der Vater des Volks, wie er hieß, ein Freund des Theaters, wie es damals war, und des freien Gedankens. Er brachte Alles wieder auf den Fuß, wie es anfangs unter Karl VII. gewesen war. Niemand will mir die Wahrheit sagen, und wie kann ich also wissen, auf welche Art ich regieren soll? rief er. Deshalb soll an meinem Hofe und im ganzen Lande aller Missbrauch zur Schau gebracht werden.

*) Bazoche hieß der erste königliche Gerichtshof oder die königliche Kanzlei.

**) So benannt, weil eine Hauptfigur ganz mit Mehl bestreut (enfanrinée) darin vorkam, das Vorbild des italienischen Pierrot.


Jetzt blühte der Weizen der jungen Schreiber. In seinem Palaste räumte er ihnen den größten Saal ein. Statt dass das Parlament 1477 mit dem Staubbesen gedroht hatte, bewilligte es ihnen jetzt häufig für ihre Vorstellungen und Spiele ansehnliche Geldunterstützungen. Bis 1514 ging solch herrliches Leben fort. Da starb Ludwig XII. Am 1. Januar 1515 gingen die „Ausrufer“ durch alle Straßen von Paris mit dem Schreckensworte herum: „Der gute König, Ludwig XII., der Vater des Volks, ist tot; bittet zu Gott für ihn!“ Franz I. bestieg den Thron, der Erste der Valois. Ein neuer Herr, ein neues Regiment! Das Parlament schritt nicht gerade wieder mit dem Staubbesen ein, allein dem jugendlichen Mutwillen wurde doch Zaum und Gebiss ziemlich fest angelegt. Bisher hatten die Leutchen häufig ihre Farcen und Sottisen in Masken gegeben, um jeden Zweifel zu verbannen, wer denn wohl der geizige Bischof, der einfältige Parlamentsrat, der liederliche Hofmann sei; ja sie kamen wohl dem beschränkten Untertanenverstande ihrer Zuschauer durch einen Zettel zu Hilfe, der den Namen des dargestellten Narren angab. Beides ward jetzt bei Gefängnisstrafe und Landesverweisung (1536) verboten, indem fast zugleich (1538) eine strenge Theaterzensur eingeführt ward; jedes Stück, das gegeben werden sollte, musste 14 Tage vorher bei Hofe eingereicht, und was sein Zensor strich, weggelassen werden. Die Sache wurde immer schlimmer und schlimmer. 1540 verbot man gar den armen Schreibern das Komödienspielen bei Strafe des Galgens, und so entschlummerte endlich die theatralische Schreiberzunft, obschon die Schreiberzunft selbst sich bis auf diesen Tag in vollem Wohlsein erhalten hat.