Besteigung des Chimborazo durch Alexander von Humboldt

Wir haben neulich (Nr. 348) bei Gelegenheit einer Beschreibung des Andesgebirges der Besteigung des Chimborazo durch Alexander von Humboldt Erwähnung getan; das Interesse des Gegenstandes wird uns entschuldigen, wenn wir noch einmal darauf zurückkommen, wozu uns ein erst in der neuesten Zeit erschienener Aussatz Humboldts über jene Besteigung Veranlassung gibt, den wir hier im Auszuge mitteilen.

Nach einem längern Aufenthalte in dem Hochlande von Quito unternahmen Humboldt und Bonpland die Reise nach den Chinawäldern von Lora und durch die sandige Wüste längs der peruanischen Küste des stillen Ozeans nach Lima, wo sie den Durchgang des Mercur durch die Sonnenscheibe (am 9. Nov. 1802) zu beobachten gedachten. Auf der mit Bimsstein bedeckten Ebene, in der man nach dem Erdbeben vom 4. Febr. 1797, welches das alte Riobamba zerstörte und über 45.000 Menschen das Leben kostete, die neue Stadt Riobamba zu gründen angefangen hatte, hatten sie bei dem heitersten Wetter eine herrliche Ansicht des glockenförmigen Gipfels des noch 15.700 Toisen (etwa vier geographische Meilen) entfernten Chimborazo und entdeckten durch ein Fernrohr in dem Schneemantel des Berges mehre als schwarze Streifen vorragende, dem Gipfel zulaufende Felsgrate, die hoffen ließen, dass man auf ihnen in der Schneeregion festen Fuß würde fassen können. Am 22. Juni traten sie aus der Hochebene von Tapia, zwischen der östlichen und westlichen Andeskette, wo sie sich schon 8.896 Pariser Fuß über dem Meeresspiegel befanden, ihre Expedition nach dem Chimborazo an, verfolgten sanft ansteigend die mit Kaktusstämmen und einem der Trauerweide gleichenden Baume bedeckte Ebene, auf welcher Tausende buntgefärbter Lamas weideten, und brachten die Nacht am Fuße des Berges in dem indischen Dorfe Calpi zu, 9.720 Fuß über dem Meere. Am folgenden Morgen begann die eigentliche Besteigung des Berges, die sie von der südsüdöstlichen Seite versuchten, da die als Führer dienenden Indianer dieser Richtung den Vorzug gaben. Zwei große terrassenförmig übereinander liegende, mit Gras bewachsene Hochebenen, Llanos de Luisa und de Sisgun genannt, umgeben den Gipfel des Chimborazo; sie sind so vollkommen horizontal, dass man auf den langen Aufenthalt stehender Gewässer in dieser Gegend schließen muss. Die erste Stufe ist 10.200, die zweite 11.700 Fuß hoch; die eine erreicht also den höchsten Gipfel der Pyrenäen, die andere den Pic von Teneriffa. Aus her Hochebene von Sisgun steigt man ziemlich steil bis zu einem kleinen Alpensee oder vielmehr Teich, Laguna de Yana-Coche, von nur 130 Fuß Durchmesser. Mittlerweile war der Himmel immer trüber geworden; der in Nebel gehüllte Gipfel des Chimborazo kam nur auf wenige Augenblicke zum Vorschein. An der Grenze des in du letzten Nacht gefallenen starken Schnees, in 13.500 F. Höhe, verließ Humboldt sein Maultier; seine Begleiter ritten noch bis zur Grenze des ewigen Schnees, die sich in der Höhe des Montblanc befindet, und ließen hier ihre Pferde und Maultiere stehen. Große Felsmauern, zum Teil in unförmliche Säulen gespalten, erhoben sich aus der Schneedecke und führten durch die Schneeregion zu einem schmalen Grat oder Felskamm, der ihnen allein möglich machte, weiter vorzudringen, weil der Schnee zu weich war, um ihn zu betreten.


In einer Höhe von 15.600 Fuß blieben die Eingeborenen, aller Bitten und Drohungen ungeachtet, bis auf einen Mestizen aus dem nahen Dorfe San-Juan wegen Atemlosigkeit zurück. Die übrigen Wanderer, vier an der Zahl, nämlich außer Humboldt, Bonpland und dem Mestizen noch ein jenen befreundeter junger Mann, Don Carlos Montufar, drangen mit großer Anstrengung, meist ganz in Nebel gehüllt, auf schmalem und steilem Pfade vorwärts; der Felsenkamm war oft nur 8 —10 Zoll breit, zur Linken war der Abhang mit Schnee bedeckt, der eine dünne Eisrinde hatte, zur Rechten sahen sie in einen 800 —1000 F. tiefen Abgrund hinab, aus welchem schneelose Felsen senkrecht hervorragten. Die bröckliche Beschaffenheit des Gesteins machte das weitere Steigen bald sehr schwierig; an einzelnen steilen Stellen mussten die Reisenden Hände und Füße zugleich anwenden und verletzten sich an dem scharfkantigen Gestein oft sehr schmerzhaft, und da viele scheinbar feststehende Massen nur lose in Sand gehüllt waren, so bedurfte es großer Vorsicht. An einer etwas breiteren Stelle des Kammes öffneten sie das Gesäßbarometer und fanden mit einiger Unzufriedenheit, dass sie erst 17.300 Fuß Höhe erreicht hatten, die Luftwärme betrug noch fast drei Grad über dem Gefrierpunkt, Gestein und Sand waren sehr nass.

Nachdem sie eine Stunde lang vorsichtig geklimmt hatten, wurde der Felskamm weniger steil, der Nebel blieb aber gleich dick. Die Reisenden litten nun alle an großer Neigung zum Erbrechen, die mit Schwindel verbunden und weit lästiger als die Schwierigkeit zu atmen war; sie bluteten aus dem Zahnfleische und aus den Lippen und die Bindehaut der Augen war ebenfalls mit Blut unterlaufen. Alle diese Symptome der Bergkrankheit kommen nicht selten schon in geringeren Tiefen vor und sind nach Beschaffenheit des Alters, der Konstitution, der Anstrengung der Muskeln sehr verschieden; erklären lassen sie sich nicht vollständig, ausgenommen die so eigentümliche Ermüdung der Beine, die eine notwendige Folge des verminderten Luftdrucks ist.*) Plötzlich schienen, trotz der vollkommenen Windstille, die Nebel zu zerreißen und die Reisenden erblickten den kuppelförmigen Gipfel ganz nahe vor sich. Die Hoffnung, ihn zu erreichen, ließ ihnen neue Kräfte, und da der nur hier und da mit Schneeflocken bedeckte Pfad etwas breiter wurde, eilten sie sichern Schrittes vorwärts, als plötzlich um ein Uhr Mittags eine nicht zu umgehende Talschlucht von 400 Fuß Tiefe und 60 Fuß Breite ihrem Fortschreiten eine unübersteigliche Grenze setzte. Nach dem Barometerstande (13 Zoll 11 2/10 Linien) betrug die erreichte Höhe 18,097 Pariser Fuß, sodass bis zum Gipfel nur noch etwa 1.224 Fuß fehlten; die Temperatur betrug nur 1 6/10 Grad unter dem Gefrierpunkte, kam ihnen aber erstarrend vor. Die Reisenden, blieben einige Zeit in der traurigen Einöde und waren bald wieder ganz in Nebel gehüllt; nur wenige Steinflechten, aber keine Tiede konnten sie in dieser Höhe bemerken, doch hatten sie in 15.000 Fuß, Höhe noch einen Schmetterling, in 16.600 Fuß Höhe noch eine Fliege gefunden. Da das Wetter immer trüber wurde, stiegen sie auf demselben Felsgrat wieder herab, wobei es noch größerer Vorsicht als beim Heraufklimmen bedurfte. Als sie in 17.400 Fuß Höhe waren, fing es an heftig zu hageln, aber bevor sie noch die ewige Schneegrenze erreichten, wurde der Hagel durch Schnee ersetzt, der in dichten Flocken fiel und den Felskamm bald viele Zoll hoch bedeckte. Ein großes Glück war es, dass er sie nicht in größerer Höhe überraschte. Einige Minuten nach zwei Uhr erreichten sie, nachdem ihre Expedition oberhalb der ewigen Schneegrenze 3 1/2 Stunden gedauert hatte, während deren sie sich gar nicht niedergesetzt hatten, jene und den Punkt, wo ihre Maultiere standen; die zurückgebliebenen Eingeborenen hatten ihretwegen in großer Angst geschwebt. In der Höhe der Schneegrenze hat der Chimborazo eine Dicke oder einen Durchmesser von 20.622 Fuß, 900 Fuß unter dem höchsten Gipfel aber von 4.032 Fuß. Sie nahmen ihren Rückweg durch den pflanzenreichen Paramo de Pungupala und waren schon um fünf Uhr Abends wieder bei dem freundlichen Pfarrer von Calpi. Wie es nur zu häufig zu gehen pflegt, hatten sie den Verdruss, zu bemerken, dass auf den nebelverhüllten Tag ihrer Expedition die heiterste Witterung folgte, indessen unternahmen sie keinen zweiten Versuch, da sie nicht erwarten konnten, dass dieser von besserem Erfolge als der erste begleitet sein würde.

Die Gebirgsart des Chimborazo ist nach den neuesten Forschungen der des Ätna analog und die ganze Hochebene von Quito ist als ein großer vulkanischer Herd zu betrachten, dessen Auswege der Kotopaxi, der Pichincha u. s. w. mit ihren Kratern sind. Auch unter den glockenförmigen Bergen, welche wie der Chimborazo keinen Krater haben, toben die vulkanischen Mächte; drei Tage nach ihrer Expedition hörten die Reisenden in Neu-Riobamba ein heftiges unterirdisches Krachen ohne Erschütterung, dem erst drei Stunden später ein geräuschloses Erdbeben folgte; ähnliches Krachen ist näher am Bergkoloss, im Dorfe San-Juan, überaus häufig, ohne die Aufmerksamkeit der Eingeborenen mehr zu erregen.

*) Vergl. Pfennig-Magazin Nr. 268.