Die Vorliebe für Nuditäten

Die Vorliebe für Nuditäten.

Wenn es auch unbestreitbar ist, daß die Phantasie durch das, was den Blicken verborgen bleibt und infolgedessen nicht sinnlich wahrgenommen, sondern nur geahnt und vermutet werden kann, viel lebhafter angeregt wird, als durch das wirklich Gesehene, so ist doch im Liebesleben der Anreiz durch das sich offen den Blicken Darbietende in der Regel viel intensiver als der durch das Spiel der bloßen Phantasie hervorgerufene. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch, denn in Wirklichkeit sprechen hierbei ganz andere Momente mit. Es ist zunächst der Anblick des Schönen, der mächtig auf das Gemütsleben einwirkt und die Begierde anregt, dabei aber die Phantasie keineswegs ausschaltet. Die Phantasie beschäftigt sich vielmehr erst dann lebhaft, wenn sie es sich ausmalt, welche Genüsse der Besitz des Gesehenen schaffen könnte. Das Schöne ist dabei nur das Objekt. Wer z. B. sich ein herrliches Schaugericht nur in der Phantasie ausmalt, der wird sicherlich den lebhaften Wunsch damit zu erwecken vermögen, das Gedachte auch wirklich zu besitzen; aber sicherlich wird durch den unmittelbaren Anblick des herrlichen Gerichts der Appetit weit lebhafter angeregt als durch die bloße Vorstellung. Es kommt dabei freilich sehr viel auf die Lebhaftigkeit der Phantasie an, so daß Abstufungen in der Wirkung von Wahrheit und Dichtung selbstverständlich, weil naturgemäß, sind.




Will man das Gesagte auf die Nuditäten allein anwenden, so lehrt auch da die Praxis des täglichen Lebens schon die Richtigkeit der These vollkommen. Wir leben in einer Zeit, in der das Nackte in Kunst und Leben besonders lebhaft umstritten wird. Während ein Teil des Publikums alles Nackte als unsittlich und unzüchtig perhorresziert und sich darin gefällt, die Grenzen der Vernunft systematisch zu überschreiten, treibt ein anderer Teil die Schwärmerei für das Nackte ebenso ins Ungemessene, und man kann selbst hier wieder sagen, daß die Extreme sich berühren, so unhaltbar diese Behauptung auf den ersten Blick auch erscheinen mag. Beide Parteien gehen nämlich von demselben Grundgedanken aus, daß der nackte Körper einen eigenen Reiz auf das Sinnenleben ausübt.

Schon seit Jahrtausenden bemüht sich die bildende Kunst, in der Darstellung des nackten Körpers das Schönheitsideal zu schaffen; besonders ist die Bildhauerkunst von jeher auf Aktstudien angewiesen. Sie schafft im nackten Körper das bleibend Schöne, während der bekleidete Körper doch immer nur das Schönheitsideal einer bestimmten Zeit wiederspiegelt. Das Kostüm wechselt, weil es etwas Willkürliches ist, das nicht dauernden Gesetzen unterworfen ist und nur zu oft absurde Schönheitsprinzipien darstellt, so daß ein Kostüm, das als das Schönste gepriesen wird und die Welt entzückt, nicht selten schon nach sehr kurzer Zeit als eine Ausgeburt verschrobener und wahnsinniger Geschmacksverirrung belacht wird. Wer wollte es heute noch zu behaupten wagen, daß die Krinoline das höchste Schönheitsideal sei? Wer kann auch nur eine kurze Sekunde im Zweifel darüber sein, ob die bildnerische Darstellung eines unbekleideten weiblichen Körpers oder des mit der Krinoline „verschönerten“ einen idealeren Kunstgenuss bereitet? Ob das Schönheitsideal mehr in dem einen oder mehr in dem andern gewahrt sei und zur Geltung komme? Es würde wohl jedem, gleichwohl welcher Partei er angehört, lächerlich erscheinen, eine solche Frage überhaupt ernstlich anzuregen.

Während nun die Sittlichkeitsapostel davon ausgehen, daß alles Nackte schon immer deshalb, weil es schön sei, die Sinnlichkeit in moralgefährdender Weise anrege, sind die Verteidiger des Nackten der Ansicht, daß gerade das Empfinden des Schönen die Menschen veredele, sie reiner und edeler mache. Ohne in eine ernste Kritik der einen oder der andern Ansicht einzutreten, soll nur kurz gesagt sein, daß beide Meinungen durch ihre Übertreibungen sich selbst ins Unrecht setzen. So falsch es ist, das Nackte ohne jede Einschränkung für unsittlich und schamverletzend zu halten, so falsch ist es, durch den steten Anblick des Nackten die Menschheit veredeln zu wollen. Es ist bedauerlich, daß auf beiden Seiten so unendlich über das Ziel hinausgeschossen wird.

Wenn im Orient eine Vorliebe für Nuditäten bestand und zum Teile auch noch besteht, so läßt sich gewiß nicht behaupten, daß durch diese Vorliebe eine Veredelung und eine sittliche Reinheit der Menschen herbeigeführt oder auch nur beabsichtigt worden sei. Daran hat sicherlich kein Mensch gedacht, und vor allen Dingen hat man unter der Veredelung und sittlichen Reinheit etwas absolut anderes verstanden als Prüderie und sexuelle Enthaltsamkeit, die ja auch in der Tat meist mit Veredelung und sittlicher Reinheit nicht das mindeste zu schaffen haben. Im Gegenteil; Prüderie schließt sogar naturgemäß die sittliche Reinheit völlig aus. Deshalb herrscht die Prüderie immer bei Völkern vor, die stark entsittlicht sind. Insbesondere haben die alten Griechen alles andere eher gepriesen als die Prüderie. Bei ihnen galt das Nackte in der Kunst keineswegs als etwas sexuell Erregendes, mindestens nicht im klassischen Altertum, sondern höchstens in den Zeiten des sittlichen Verfalls. Man begeisterte sich für das Nackte in den bildnerischen Schöpfungen, die wir auch heute noch bewundern, nur für das reine Schönheitsideal, und wer heute die wunderbaren Werke plastischer Kunst, die sich bis auf unsere Tage erhalten haben, nicht von diesem Gesichtswinkel aus zu würdigen weiß, sondern nur daran denkt, daß die herrlichen Körperformen, weil sie nicht durch ausgiebige Kleidung verhüllt sind, schamverletzend oder gar unsittlich wirken, der beweist damit nicht sittliche Reinheit, sondern einen so bedenklichen Grad moralischer Verkommenheit, daß man gut daran täte, ihm durch eine reichlich bemessene Dosis ungebrannter Holzasche eine so nachdrückliche Lektion zu erteilen, daß er auf eine ganze Weile vergäße, die Schleusen seiner Beredsamkeit zur Hebung fremder Sittlichkeit in Betrieb zu setzen. Niemals wird ein Volk, das sittlich auf einem wirklich tiefen Niveau steht, Werke hervorzubringen vermögen, deren ideale Schönheit auf Jahrtausende das Entzücken aller hervorruft, die nicht in der Heuchelei und sittlichen Scheinheiligkeit ihre Lebensaufgabe erblicken. Es läßt sich indessen auch nicht behaupten, daß im Orient ganz allgemein aus künstlerischem Idealismus etwa das Nackte in der Kunst die Menschheit begeistert hätte. Wohl das Nackte ohne Kunst und aus anderen Gründen.

Dabei liegt natürlich die Sache ganz wesentlich anders, und das ist die geschichtliche Tatsache, die sich unsere modernen Lobredner auf das Tanzen nackter Personen doch lieber einmal etwas sorgfältiger zu Gemüte führen sollten. Die orientalische Neigung, sich am Anblick nackter Körper, besonders von Tänzern und noch mehr Tänzerinnen, zu berauschen, läßt schlechterdings, doch nicht auf ein sittlich völlig einwandfreies Motiv schließen. Es liegt nun einmal in der menschlichen Natur, daß der Anblick eines besonders schönen menschlichen Körpers Begierden wachruft, die weder an sich verwerflich noch unsittlich, sondern durchaus natürlich sind. Darüber wird auch die Phrase von der Freude am Schönen nicht hinwegzutäuschen vermögen. Anders wirkt immer das reine Kunstwerk als das wirkliche Leben. Wir haben durchaus keinen Grund, uns darüber zu beklagen, wir sollen aber auch nicht eine Tatsache bestreiten, die doch nun einmal nicht zu leugnen ist. Ich will mich dabei gar nicht auf eine Kritik von Gründen und Scheingründen einlassen, denn sie führt zu nichts, schon deshalb nicht, weil die Verschiedenheit der menschlichen Naturen sich nicht in eine bestimmte Methode hineinzwängen läßt. Wenn es selbst Menschen gäbe, die mit gutem Gewissen behaupten könnten, daß sie der Anblick einer nackten Tänzerin sexuell absolut nicht errege, daß sie vielmehr nur die reine Schönheit ohne jeden Nebengedanken zu bewundern vermöchten, so ist damit noch lange nicht festgestellt, daß dabei nicht eine starke Selbsttäuschung mitwirke, und für die Frage, ob solche Schaustellungen für die Allgemeinheit zulässig seien, würde, selbst wenn keine Selbsttäuschung im Spiele wäre, die abnorme reine Formenschönheitsfreude Einzelner gar nicht in Betracht kommen können, da der normale Durchschnittsmensch doch anders empfindet und zweifellos sexuell erregt wird, ganz besonders wenn es sich um eine schöne Tänzerin handelt, die eifrig bestrebt ist, sinnberückend auf die Menge zu wirken. Eine solche öffentliche künstliche Erregung der Leidenschaften zu verbieten, ist aber durchaus die berechtigte Aufgabe der Obrigkeit.



Neu ist ein solches Einschreiten der Obrigkeit doch ohnehin nicht. Schon das mosaische Gesetz untersagte die Entblößungen in einer langen Reihe von Fällen aus sehr triftigen Gründen, und wo sie gestattet war, da ist auch die schlimme Wirkung niemals ausgeblieben. Ich vermag überhaupt das Bedürfnis, eine Tänzerin nackt auf der Bühne sich produzieren zu sehen, aus rein künstlerischen und ethischen Momenten nicht nachzuweisen, sondern kann, obwohl ich doch gewiß in Kunstsachen sehr liberal denke und ein erbitterter Feind jeder Prüderie bin, mich nicht von der Ansicht bekehren, daß es für die meisten Menschen ebenso wie für mich ein mehr als peinliches Empfinden sein würde, in einem Theater zu sitzen, auf dessen Bühne nackte Tänzer und Tänzerinnen sich produzierten; ja ich mache kein Hehl daraus, daß für mich der Anblick absolut schamverletzend sein würde, wenn ich ihn etwa gemeinschaftlich mit einer fremden Dame, in Gegenwart von Eltern, Kindern, Braut oder Frau über mich ergehen lassen sollte. Doch nun zurück ins orientalische Altertum.

Schon die Geschichte Davids mit Bath-Seba, dem Weibe des Hethiters Urias, belegt das Gesagte. „Und es begab sich, daß David um den Abend aufstand von seinem Lager, und ging auf dem Dach des Königshauses, und sah vom Dach ein Weib sich waschen; und das Weib war sehr schöner Gestalt.“ So heißt es im 2. Samuelis, Kap. 11, V. 2. Diese wenigen Worte schildern schon in klassischer Form die Wirkung des nackten Körpers. David denkt an Liebesabenteuer überhaupt nicht; er erhebt sich von seinem Ruhelager und begibt sich auf das Dach seines Hauses, um dort in freier Luft ein wenig zu wandeln. Da sieht er die schöne Bath-Seba, die, wie der Text sagt, von sehr schöner Gestalt war. Sofort wird er von wilder Begierde ergriffen. Er sendet Boten aus, die sich erkundigen müssen, wer das Weib sei, und als er es erfuhr, ließ er die Schöne selbst kommen und schlief bei ihr, wie die Bibel kurz sagt. Das war also die Verführung des verführten Verführers, denn ein solcher war David durch den berauschenden Anblick des herrlichen Frauenkörpers. Es ist bekannt, wie David die Folgen dieses kurzen Liebesrausches dadurch zu verbergen suchte, daß er den Mann des Weibes veranlassen wollte, sich zu Bath-Seba zu begeben, um so den Anschein zu erwecken als sei Uria der wirkliche Vater des Kindes seiner Frau. Der königstreue Hethiter folgte dem Winke aber nicht, da er treu bei dem König mit den anderen Kriegsleuten wachen will. Nun ist David teuflisch genug, den Mann mit einem Briefe an seinen Feldherrn Joab zu senden. In diesem Briefe aber war der Befehl enthalten, daß Uria in der Feldschlacht so verwendet werden solle, daß er erschlagen werde und sterbe. Ehebruch und Mord; das waren die Erfolge des Anblicks eines schönen Frauenkörpers.

Es wäre aber völlig verfehlt, etwa behaupten zu wollen, daß gerade David besonders prädestiniert gewesen sei, einer solchen Versuchung zu unterliegen; es ist im Gegenteil viel eher anzunehmen, daß auf die Durchschnittsmenschen der Anblick ebenso gewirkt haben würde wie auf den weit über die Durchschnittsmenschen hinausragenden David. David hätte sogar durch seine zahlreichen Weiber viel eher Gelegenheit finden können, seine sexuelle Erregtheit zu befriedigen; aber der Anblick der schönen Bath-Seba hatte seine Begierde so erweckt, daß er gerade diese Frau für sich haben mußte. Daß er die Macht besaß, den historisch gewordenen und sprichwörtlich verwendeten Uriasbrief zu schreiben, das ist ein Umstand, den zwar nicht viele Menschen bei solch einem Abenteuer zu verzeichnen haben würden; die Moral der Geschichte ist aber nicht die weitere abscheuliche Entwickelung des Dramas, sondern die Wirkung des nackten Frauenkörpers.

So wird dem Tiraquell folgende Historie nacherzählt, die ich in der Schreibweise eines älteren Schriftstellers wiedergeben will: „Aristoclea, ein ausbündig schön Mädgen, opfferte einsmahl dem Gott Jovi nackend, da ein vornehmer Jüngling, Nahmens Strato, sie ungefehr ersähe, und darüber in Liebe gegen sie heftig entzündet ward. Es hatte sie aber auch ein ander, mit Nahmen Callisthenes, lieb, drum als sie Hochzeit hielt, haben sich diese beyde so grausam um sie gezerret, und einer den andern dieselbe wieder nehmen wollen, daß endlich im Grimm das gute Mensch drüber in stücken zerrissen worden, auf deren toten Cörper sich Strato erstochen.“

Hier ist das Drama recht wesentlich von dem des Königs David verschieden, aber der Grundton ist doch genau derselbe. Das „ausbündig schöne Mädgen“ wird von einem für Frauenschönheit sehr empfänglichen Manne belauscht, als es nackt im Zeustempel opfert. Strato war ein gesitteter Mann, sonst würde er sich auf die Schönheit, die ihn bis zum Wahnsinn begeistert hatte, wohl energisch gestürzt und ihr Anträge gestellt haben wie der König David der Gattin des Hethiters. Das tat er nicht; er war aber in die schöne Aristoclea so verliebt, daß ihn deren sinnberückendes Bild nicht mehr verließ. Er mag errötend ihren Spuren gefolgt sein; aber damit hat er nicht erreicht, daß Aristoclea ihm eine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Strato hat auch das ertragen; als er aber erfuhr, dass sie ein anderer auch lieb habe, und daß sie diesen Anderen heiraten wollte, da stand das Bild ihrer nackten Schönheit ihm wieder vor Augen, und diese Schönheit einem Andern überlassen, den Gedanken mit sich herumtragen, daß ein Anderer diesen herrlichen Körper besitzen und des namenlosen Glückes teilhaftig werden sollte, nach dem er selbst vergeblich schmachtete, das konnte Strato nicht ertragen. Er kämpfte mit dem glücklichen Nebenbuhler Callisthenes, und der Chronist drückt sich wohl allzu bildlich aus, wenn er sagt, daß beide sich um die Braut gezerret hätten, bis das gute Mensch in Stücke gerissen worden sei; jedenfalls ist aber der Aristoclea ihre ungewöhnliche Schönheit verhängnisvoll geworden; sie wurde in dem Kampfe getötet, und Strato erstach sich über der Leiche. Er hat sie also geliebet „bis in den Tod.“ Das alles war aber nur die Folge davon, daß er sie nackt belauscht hatte. Was aus Callisthenes geworden ist, verschweigt die Geschichte. Wie es scheint, hat er den Fall überlebt; vielleicht hat er die schöne Aristoclea nicht gar so glühend geliebt wie Strato; vielleicht hatte er sie nicht nackt gesehen.



Das sind Geschichten, die man trotz ihres tragischen Ausganges und trotz ihres ganzen Verlaufes fast noch naive Liebesäffären nennen könnte, wenigstens dann, wenn man sie mit dem vergleicht, was sonst im Morgenlande an „nackten Geschichten“ vorgekommen ist. Ich möchte jedoch, ehe ich zu der allgemeinen Schwärmerei für Nuditäten übergehe, noch eine Geschichte erzählen, die wieder etwas anderes bringt, schließlich aber gerade deshalb in der Kette ein wichtiges Glied bildet. Der König Gandaules III. von Lydien besaß eine schöne Gemahlin, die er närrisch liebte, und auf deren Schönheit er nicht wenig stolz war. Eines schönen Tages, als sich die Königin nackt in ihrem Gemache befand, rief Gandaules seinen Freund Gyges und zeigte ihm die Gattin mit allen ihren geheimsten Reizen durch eine kleine Öffnung in der Tür. Das war also eine Geschichte, die der des österreichischen Prinzen nicht unähnlich war, die seinerzeit so viel unliebsames Aufsehen erregt hatte. Gyges war Kenner und fühlte sich durch den Anblick der schönen Königin derartig erregt, daß er nicht mehr Herr seiner selbst war. Wie die Geschichte endete, erzählt ein alter Chronist mit lakonischer Kürze folgendermaßen: „drüber der König das Leben verlor, und Gyges an seine statt die Gemahlin und das Königreich bekam.“

Hier hatte also der König selbst seinen Untergang heraufbeschworen. Nach Herodot hat sich die Geschichte so abgespielt, daß Gandaules in der Tat seinem Günstling Gyges die Reize seiner schönen Gattin zeigen wollte und ihn deshalb in deren Zimmer verbarg. Nun soll die schöne Tudo den Eindringling aber entdeckt haben und über die Frivolität ihres Gatten so entrüstet gewesen sein, daß sie dem Gyges erklärte, sie wolle ihm selbst die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, ihre Ehre wieder herzustellen, überlassen. Sie könne und dürfe sich nackt nur vor ihrem Gatten zeigen und werde es nicht dulden, daß ein fremder Mann, der sie so gesehen habe, unter den Lebenden weile. Entweder müsse also Gyges sterben, oder er müsse ihr Gatte werden und, um dies möglich zu machen, ihren jetzigen Gatten Gandaules ermorden. Gyges war durch den Anblick der schönen Tudo so in Liebe entbrannt, daß er durchaus nicht abgeneigt war, sie zu seiner Gattin zu machen. Das Leben erschien ihm namentlich mit der Aussicht auf den alleinigen Besitz der Tudo doppelt schön und wertvoll, so daß er überhaupt keine Lust verspürte, es gerade jetzt zu verlieren. Dazu kam noch die Erwägung, (daß doch selbst Gandaules die Katastrophe heraufbeschworen hatte, daß also nur er die gerechte Strafe verdiente, falls das Anschauen seiner nackten Gemahlin wirklich ein todeswürdiges Verbrechen war. So entschloß sich Gyges ziemlich leicht, wie er die Ehre der Tudo retten könne; er ermordete den König wirklich. Durch diese Tat erhielt er nicht allein eine äußerst begehrenswerte Gattin, sondern er wurde als Gatte der Königin selbst Herrscher über das lydische Reich.)

Das Volk, das an und für sich nichts zu sagen hatte, war aber doch über den Königsmord sehr entrüstet und wollte den Gyges strafen, statt ihn zum König haben. Nun kam diesem aber eine Hilfe, die zwar etwas unerwartet kommen mochte, aber desto sicherer und widerspruchsloser wirkte. Man fragte nämlich das berühmte Delphische Orakel, was man in dieser sehr schwierigen Lage zu tun habe, und das Orakel war dem Königsmörder sehr günstig gesinnt und antwortete, man solle ihn zum König annehmen und werde sich gut dabei stehen. Gandaules war ja ohnehin nicht wieder ins Leben zurückzurufen, also befolgte man den Orakelspruch, und es war richtig, man stand sich gut dabei. Gyges regierte 38 Jahre und machte auch Eroberungen, die dem Reiche zum Vorteil gereichten. Gegen das Delphische Orakel erwies er sich übrigens sehr dankbar, denn er machte für den ihm günstigen Wahrspruch ein wirklich fürstliches Geschenk.

Gyges ist eine wirklich historische Person, und es ist historisch erwiesen, daß er sich tatsächlich die Herrschaft über Lydien angeeignet hat. Freilich wollen einige Historiker wie z. B. Plutarch, die romanhafte Geschichte mit der Tudo nicht gelten lassen, sondern erzählen nüchtern, daß Gyges die Herrschaft durch einen Aufstand mit Heeresmacht errungen habe. Aber nach anderen Quellen, die auch Hebbel benutzt hat, ist die Geschichte noch viel mystischer gewesen. Danach soll Gyges als Hirt in einer unterirdischen Höhle einen Zauberring entdeckt und an sich genommen haben. Dieser Ring habe die außerordentliche Kraft besessen, seinen Besitzer unsichtbar zu machen, sobald dieser den Ring so drehte, daß dessen Stein nach einwärts gerichtet war. Gyges habe sich in die schöne Tudo verliebt, sich ihr mit Hilfe seines Ringes genaht, ohne von jemandem gesehen zu werden und mit ihr die Freuden der Liebe genossen, dann den König Gandaules ermordet, da er sich in den Besitz der Tudo mit niemandem, am wenigsten mit deren rechtmäßigem Gatten, teilen wollte. Auch nach dieser Erzählung ist also die Verliebtheit des Gyges an dem Königsdrama schuld, und diese Verliebtheit ist durch den Anblick der nackten Tudo hervorgerufen worden, denn gerade diesen Anblick verschaffte sich Gyges mit Hilfe seines Zauberrings. Wer aber an dieses ebenso seltene wie begehrenswerte Kleinod nicht recht glauben will, der wird wohl der Herodotschen Erzählung die größere Wahrscheinlichkeit beimessen müssen.

Das ist ja auch schon deshalb empfehlenswerter, weil sie einen Einblick in die alten lydischen Sittenanschauungen gestattet. Es darf wohl als etwas auffallend betrachtet werden, daß Tudo die Belauschung durch Gyges gar so tragisch auffasste, obwohl doch ihr eigener Gatte seine heiligsten Rechte auf die ihm allein geweihten körperlichen Geheimnisse seiner Gattin nicht so überaus streng zu wahren suchte. Wer die Gattin eines Mannes unverhüllt erblickt hatte, der mußte sterben. Davon wollte Tudo auf keinen Fall absehen. Das war in der Tat orientalisches Recht, das hier allerdings etwas schärfer ausgelegt wurde, als dies sonst zu geschehen pflegte. Das Recht hat doch den Grundgedanken als Basis,' daß die Rechte des Mannes von der Unverletzlichkeit seiner Frau oder Frauen in der denkbar schärfsten Weise gewahrt werden sollten. Wie ja auch jetzt noch bei einzelnen orientalischen Völkerschaften der Mann den mit dem Tode straft, der es wagt, seine Frauen unverschleiert anzusehen. Gandaules hatte zwar auf dieses Recht selbst verzichtet; aber seine Gattin hielt dies doch nicht für ausreichend, eine Tat, die todeswürdig war, ungesühnt zu lassen. Sie ist deshalb nach der Sitte ihres Landes eine unbegrenzt tugendhafte Person gewesen. Daß sie dies veranlaßt hat, die Ermordung ihres Gatten zu verlangen und die Heirat des Moralverletzers, das ist eben das Interessante bei der Sache, denn es lehrt oder bestätigt vielmehr den alten Erfahrungssatz, daß eine strenge Befolgung moralischer und religiöser Glaubenssätze in der Regel zu Konsequenzen führt, die geradezu wie Wahnsinn erscheinen.

Übrigens hat das Altertum — Gyges regierte von 716—678 v. Chr. — in der Tat scharfe Bestimmungen über die Nuditäten gekannt, tausendmal schärfer als sie unsere so oft als Zeitalter des Muckertums verschrieene Zeit für möglich hält. Nach Plutarch hat auch Romulus ein Gesetz gegeben, nach dem der des Todes sein sollte, der sich nackt von einem Weibesbilde beschauen ließ. Ich bin allerdings nicht in der Lage, nachzuweisen, ob jemals auf Grund dieses Gesetzes hingerichtet worden ist, oder, falls dies wirklich niemals geschehen sein sollte, ob die Männer selbst so sittlich dachten und empfanden, daß tatsächlich keiner dieses Gesetz verletzte, was allerdings eigentlich den Gedanken wachrufen müsste, dass dann das Gesetz höchst wahrscheinlich überhaupt nicht hätte gegeben zu werden brauchen, weil erfahrungsmäßig solche Gesetze doch nur dann gegeben zu werden pflegen, wenn das, was sie verbieten, eben schon so oft 'geschehen ist, daß man, um Wiederholungen zu verhüten, zu scharfen Strafandrohungen greift. Ich kenne dagegen einen von Cassius und Zeiler berichteten Fall, in dem das Gesetz nicht Anwendung fand. Als nämlich die Gattin des Kaisera Augustus, Livia, einst lustwandelte, begegneten ihr einige nackte Männer. Da das Gesetz noch bestand, sollten diese in der Tat hingerichtet werden, obwohl doch die Moralanschauungen seit den Tagen des braven Romulus sich recht erheblich gemildert hatten. Die Kaiserin erklärte, daß für ein sittenreines Weib der Anblick eines nackten Mannes in keiner Weise verletzend sei, da er nicht anders wirke als der Anblick einer leblosen Statue; die ja auch die Sittlichkeit in keiner Weise gefährden könne, wenn der Erblicker überhaupt Sittlichkeit besitze. Dieser Ausspruch der Kaiserin rettete in der Tat den nackten Männern das Leben. Es läßt sich wohl auch schwerlich verkennen, daß dieser Ausspruch völlig unanfechtbar ist, denn der bloße Anblick eines Körpers ist in Wirklichkeit für einen Menschen, der sittlich denkt und empfindet, dasselbe wie der Anblick einer Statue; es wird nur immer das in uns erregt und zum Mitklingen angeregt, was auf den gleichen Ton gestimmt ist, wie nur die Saite eines Instruments mit schwingt und infolgedessen mitklingt, die auf den gleichen Ton, der laut wird, gestimmt ist Wird also ein unsittlicher Wunsch in uns lebhaft, weil wir etwas sehen, was! an sich natürlich ist, so muß dieser Wunsch schon vorher in uns gelebt haben; er wird angeregt, nicht erst erzeugt und wir könnten diese wichtige und interessante Frage ohne weiteres mit mathematischer Sicherheit in jedem Einzelfalle beantworten, wenn wir so klar wie die Kaiserin definieren könnten, was sittlich und was unsittlich sei. Ich vermag in den sexuellen Trieben nichts Unsittliches zu finden und meine, daß die gute Livia Pflichtgefühl und Sittlichkeit doch nicht völlig einwandfrei getrennt hat. Vielleicht ist es ihr überhaupt nur darum zu tun gewesen, den Männern, von denen sie wußte, daß sie nichts Böses beabsichtigt hatten, das Leben zu retten. Vielleicht hat sie auch den übereifrigen Sittlichkeitshütern eine Lektion erteilen wollen.



Das Gesetz des Romulus unterscheidet sich von dem lydischen Gesetze, das dem armen und leichtfertigen König Gandaules das Leben kostete, dadurch, daß nach diesen das Anblicken nackter Weiber, nach jenem der Anblick nackter Männer als todeswürdiges Verbrechen galt. Der Unterschied ist also doch sehr wesentlich, obwohl bei ganz oberflächlicher Betrachtung überhaupt kein Unterschied vorhanden zu sein scheint Für die Lyder und überhaupt die Orientalen ist das Weib für jeden Mann, der nicht ihr Gatte ist, ein absolutes Noli me tangere. Es ist das ungefähr dasselbe, was ich im „Liebesleben im alten Deutschland“ über die Keuschheit der Frauen gesagt habe, d. h. das Weib war als Eigentum des Mannes unantastbar. Auch im Orient ist das Recht des Mannes der Grundgedanke der strengen Vorschriften. Anders im Gesetz des Romulus. Da war eben die stolze Würde des Mannes entscheidend dafür, daß diese nicht vor den Weibern herabgewürdigt wurde. Die Weiber selbst waren nicht so vor dem Betrachtetwerden bewahrt. Es kam vielmehr im alten Rom gar nicht darauf an, ob der entblößte Körper eines Weibes vor den Blicken der Männer geschützt wurde oder nicht; jedenfalls wurde das Weib, das sich nackt den Blicken eines Mannes aussetzte, nicht getötet noch mit Strafen bedroht, sofern es nicht gerade zu den vestalischen Jungfrauen gehörte, die ja aus wesentlich anderen Gründen zu einer mimosenhaften Empfindsamkeit gezwungen waren. Man liebte es sogar, bei festlichen Aufzügen nackte Weiber auftreten zu lassen, und es ist sicher, daß dieser Anblick auf die Römer doch erheblich anders wirkte als das Beschauen einer schönen Statue; das lag aber an den Römern.

Denselben Geschmack an Nuditäten fanden auch die Griechen, die sogar Ringkämpfe von nackten Weibern aufführen ließen, also doch noch einen Schritt weiter gingen als wir, die wir unsere Ringkämpferinnen wenigstens in Trikots schlüpfen lassen, obwohl ja auch bei uns das wesentlichste Interesse an solchen Ringkämpfen viel weniger auf die gebotene Gewandtheit und Kraftentfaltung als auf die Präsentation des weiblichen Körpers in allerlei reizvollen Situationen und auf das Muskelspiel zurückzuführen ist, wenigstens zieht dieses Interesse die meisten Besucher zu den Damenringkämpfen hin. Die weiblichen Ringkämpfe im alten Griechenland erfreuten sich großer Beliebtheit, und es mag dabei in der Tat auch so zugegangen sein, daß die Zuschauer wirklich auf ihre Rechnung kamen. Das war weder verboten, noch erschien es Anstoß erregend; im Gegenteil hatte schon Lykurg diese Materie gesetzlich geregelt, und Plato soll dieses Gesetz ausdrücklich gutgeheißen und bestätigt haben. Der fromme Eusebius und auch andere Kirchenväter waren über diese Ungeniertheit äußerst aufgebracht und schimpften über die sündhafte Unsittlichkeit wie die Rohrspatzen. Sie sind besonders deshalb so aufgebracht gewesen, weil die Nacktheit keineswegs auf das weibliche Geschlecht beschränkt blieb. Es sollen vielmehr nackte Jungfrauen mit nackten Jünglingen solche Ringkämpfe ausgefochten haben, ja selbst ältere Männer mit älteren Frauen sollen als Ringkämpfer in die Schranken getreten sein. Ebenso sollen bei den öffentlichen Spielen und Aufzügen Männer und Weiber in bunter Reihe völlig nackt sich beteiligt haben. Diese Unsitte wird besonders aus dem alten Athen berichtet.

Anders soll bei den Spartanern der Nuditätskult betrieben worden sein. Es war dort wohl Brauch, daß die Jünglinge völlig nackt miteinander Ringkämpfe veranstalteten, aber es war den Weibern streng verboten gewesen, sich dort sehen zu lassen oder gar den Kampfesspielen zuzusehen. Nun stimmt das allerdings historisch keineswegs mit dem, was über die Unsitte der Athenienser berichtet wird, denn Lykurgos war nicht Gesetzgeber in Athen, sondern spartanischer Legislator. Hat er also die Kämpfe der nackten Jünglinge und Jungfrauen gesetzlich vorgeschrieben, dann kann er sie doch nur den Spartanern angeraten haben, nicht den Atheniensern, die sich jedenfalls von den spartanischen Gesetzgebern keine Vorschriften hätten machen lassen. Es ist schon aus diesem Schnitzer zu entnehmen, daß auch in den anscheinend einwandsfreiesten Berichten über das öffentliche Leben des Altertums nicht alles Gold ist, was glänzt. Man wird wohl deshalb zu der Annahme berechtigt sein, daß in Spartan dieselben Unsitten herrschten wie in Athen. Freilich wird man dabei nicht allzu äußerlich urteilen dürfen. Daß die Ringkämpfe nackter Frauen und Männer nach unseren Begriffen etwas überaus Skandalöses darstellen, kann nicht bestritten werden, aber daß sie gesetzlich geregelt waren, das läßt doch schon erkennen, daß sie mindestens nicht als eine Unsittlichkeit empfunden wurden. Man muß dabei immer davon ausgehen, daß auch die griechischen Gesetze zur Zeit keineswegs das duldeten, was als unsittlich erschien, und weder Lykurgos noch Plato dürfen als Männer gedacht werden, die etwa darauf ausgegangen wären, der Unsittlichkeit in ihrem Vaterlande Tür und Tor zu öffnen. Im Gegenteil; sie waren Männer, die das Beste erstrebten, und wenn sie die Frauen an Leibesübungen teilnehmen ließen, so glaubten sie, gerade dadurch das Wohl des Vaterlandes zu fördern, denn starke, gesunde Weiber waren nach ihrer Ansicht allein befähigt, starke und gesunde Nachkommen zu liefern, ein Gedanke, der an sich so absolut richtig“ und zutreffend ist, daß es sich wohl erübrigt, ihn noch besonders auf seine Berechtigung zu prüfen. Eine andere Frage ist es allerdings, ob es eben nur den einen Weg gegeben habe, die Gesundheit und Körperkraft der Weiber zu fördern. Aber auch dabei darf man nicht übersehen, daß der Geist jener Zeiten, wie dies auch schon in den olympischen Spielen in die Erscheinung tritt, nicht die im Verborgenen blühenden Veilchen als höchstes Ideal betrachtete, sondern daß Jeder, der über ungewöhnliche Kraft und Gewandtheit verfügte, in erster Linie danach trachtete, diese schätzenswerten Eigenschaften auch in der Öffentlichkeit anerkannt zu sehen. Es gibt eben keinen lebhafteren Ansporn als den, öffentlich um die Palme zu ringen.

Dieser Ansporn, den das Ringen nach öffentlicher Anerkennung naturgemäß bietet, ist das Gesunde und doch auch zugleich das Bedenkliche bei der ganzen Sache, Gesund, weil eben der Zweck der aufgewendete Mühe und Anstrengung darauf gerichtet ist, das Höchste und Vollkommenste zu erreichen. Die Mühe ist der Preis des Erfolges; aber diese Mühe ist ja gerade das, was einziges Erfordernis ist, die Kräfte zu stählen, die Muskeln zu üben und den Körper geschmeidig und gewandt zu machen. Wo alle im lebhaftesten Wettbewerb stehen, wird natürlich die aufgewendete Arbeit für alle den schönen Erfolg haben; alle werden kräftig und gesund ihre Glieder bilden und erhalten. Ließ man das weibliche Geschlecht an diesem Wettkampfe teilnehmen, dann wurde ohne weiteres erreicht, daß es nicht an der Hauptbedingung, unter der ein starkes und festes Geschlecht sich fortpflanzen konnte, fehlte, nämlich an starken und gesunden Müttern. Das war also eine durchaus solide Idee. Daß man die Kampfspiele nackt übte, das ergibt sich zwanglos aus der Natur der Sache, denn die Kleidung, die jede freie Bewegung hindert, dem Gegner außerdem gerade beim Ringkampfe außerordentliche Vorteile bietet, hätte einem wirklichen und uneingeschränkten Entfalten von Kraft und Gewandtheit unüberwindliche Hindernisse in den Weg gestellt. Trikots, durch die man in unserer Zeit Gymnastikern und ähnlichen Artisten die „Arbeit“ erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht, gab es nicht; man hätte sie überhaupt nicht herzustellen vermocht, selbst wenn man der Ansicht gewesen wäre, daß eine künstliche Verhüllung des Nackten dringend notwendig sei. Diese Ansicht hegte man aber auch keineswegs, weil man glaubte, daß ein Mensch, der über einen schön gewachsenen und kräftig gebauten Körper verfüge, sich dessen unter keinen Umständen zu schämen brauche. Vor allen Dingen würde man es nicht begriffen haben, daß ein nackter Körper etwas empörend Unanständiges sei, daß aber derselbe Körper sofort absolut einwandsfrei bleibe, sobald er in einem fleischfarbigen Trikot erscheine, das man zwar als eine Kleidung nicht einmal erkenne, das aber schon, weil man es bloß vermute, alle moralischen Bedenken sofort vernichte. Ich weiß sehr wohl, daß ja das Trikot allein nach unseren heutigen Begriffen noch nicht ausreichen würde, seinen Träger oder seine Trägerin als wohlanständig erscheinen zu lassen, daß vielmehr zu dem Trikot noch ein Übergewand zu treten hat, das den Oberkörper schamhaft verhüllt; aber wenn das Gesagte wirklich hierdurch völlig widerlegt werden könnte, nun dann dürfte man sich doch einfach auf das Übergewand beschränken. Das würde aber nach heutigen Begriffen doch absolut nicht ausreichen; der Gedanke, völlig nackte Beine zu sehen, würde vielmehr auch denen ein Horror sein, die daran gewöhnt sind, unsere Damenwelt bei Bällen und sonstigen feierlichen Gelegenheiten mit so weit entblößtem Oberkörper zu betrachten, daß hieran eine ganz unbefangen urteilende, empfindsame Seele erst recht ein sogenanntes moralisches Ärgernis nehmen würde.



Ich möchte das Gesunde des Gedankens aber auch darin erblicken, daß man gerade an der Nacktheit keinen Anstoß nahm, weil man eben mit regestem Eifer den Verlauf des Kampfes verfolgte, an den kräftigen und gewandten Bewegungen der Kämpfenden Gefallen fand und durch dieses Interesse so weit in Anspruch genommen wurde, daß man auf den Gedanken, die .Nacktheit könnte anstößig sein, gar nicht verfiel. Das ist jedenfalls ein viel gesunderer Zustand als der, bei dem es den Zuschauer wenig oder gar nicht fesselt, was sich vor seinen Augen an Handlungen abspielt, sondern bei dem es ihm in der Hauptsache bloß darum zu tun ist, etwas zu entdecken, das nach seiner Ansicht nicht wohlanständig, sondern schamverletzend und moralisch empörend ist. Es gibt in der Tat solche Käuze viel mehr, als man gewöhnlich glaubt.

Wie kann nun aber der Ansporn der öffentlichen Anerkennung gesund und doch zugleich bedenklich sein? Die Beantwortung dieser Frage ist immer etwas rein Subjektives, d. h. es kommt immer ganz auf die Persönlichkeit an, die die öffentliche Anerkennung auf sich einwirken läßt, und zweitens auch auf die Personen, die öffentliche Anerkennungen zollen. Es ist ein alter Ausspruch: „Wenn die Weiber den Rock oder das Hemd ausziehen, werfen sie auch zugleich alle Schamhaftigkeit mit hinweg.“ Auch das Altertum war dieser Ansicht im Allgemeinen. Es ist deshalb immer die an Wahrscheinlichkeit grenzende Möglichkeit gegeben, daß ein Weib, das nackt in die Arena tritt, doch den Gedanken hieran auch nicht durch die faktisch etwa entstehende Notwendigkeit, in diesem Aufzug erscheinen zu müssen, zu bannen vermag. Es wird deshalb die gezollte Anerkennung nicht bloß auf Rechnung der geleisteten Arbeit, sondern zum großen Teile auch auf Rechnung der bloßen Erscheinung setzen. Das ist eben die Klippe, an der die Harmlosigkeit des Auftretens so oft schon gescheitert ist und noch so oft scheitern wird. So lange die Zuschauer noch die harmlose naive Freude an den Darbietungen eines Kampfes nackter Weiber so voll auf sich wirken ließen, daß persönliche Begierden dagegen nicht aufzukommen vermochten, hatte in der Tat die für uns viel mehr als bedenkliche Sitte eigentlich nur ihre gesunde Seite. Wie lange hat sie sich gehalten? Das ist eine Frage, die sehr schwer zu beantworten ist; jedenfalls hat aber selbst in Zeiten, in denen das griechische Heldentum noch im Zenith seines Ruhmes sich sonnen konnte, die naive Harmlosigkeit schon nicht mehr bestanden, und der sittliche Verfall ließ den politischen nicht allzu lange auf sich warten. Gerade durch die große Verschiedenheit der Moralauffassungen erklären sich aber auch die außerordentlich verschiedenen Ansichten über denselben Brauch, der ja, so absurd das klingen mag, trotz äußerlicher Gleichheit in den verschiedenen Perioden ein völlig verschiedener war. Ich komme auf den Dionysiusdienst und die Bacchanalien zurück.

Im orientalischen Altertum liebte man die Nuditäten im Allgemeinen. So wird unter Berufung auf Curtius geschrieben: „Die Babylonischen Weiber, wenn sie bey einem Gastmahl waren, stellten sich Anfangs ganz ehrbar und züchtig, bald aber drauf zogen sie die Ober-Kleider aus und letztlich warfen sie den Rock mit samt dem Hemd hinweg.“ Die Kunst der alten Schriftsteller, mit einigen Worten ein ganzes Stück Kulturgeschichte zu erzählen, zeigt sich auch an diesem kurzen Beispiel im schönsten Lichte. Aber mit so wenigen Worten ist um die Geschichte des alten, mystischen Babylon nicht herumzukommen. Babylon ist wohl die älteste, prächtigste und berühmteste Stadt des orientalischen Altertums, die schon unter Nabuchodonosor (Nebukadnezar) 2 Millionen Einwohner gehabt haben soll, und deren hohe Kultur und Wissenschaft unsere Bewunderung hervorrufen muß. Soll doch schon damals ein Problem der Technik gelöst worden sein, das wie eine Errungenschaft neuester Zeit anmutet, nämlich ein Tunnel unter dem Euphrat, der die alte Stadt in zwei Hälften teilte, hindurch. Da über den Euphrat hinweg auch eine breite prächtige Brücke den Verkehr zwischen den beiden Stadtteilen vermittelte, wird man aus der Tunnelanlage einen Schluß auf den ungeheuren Verkehr ziehen dürfen, denn man hat den Tunnel wohl bloß deshalb angelegt, um eine Gefährdung des Fußgängerverkehrs durch den Wagenverkehr zu vermindern. Wenn man diese alte Stadtkultur studiert, mutet sie an, als müsse man auf die Schilderung elektrischer Straßenbahnen stoßen. Es hat allerdings das Studium dieser untergegangenen Kulturwelt etwas ungemein Wehmütiges; es wirkt wie ein Memento mori, das uns daran erinnern könnte, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und daß vielleicht nach Jahrtausenden auch von unserer Pracht und unserer Kultur nur ein totes Trümmerfeld der forschenden Nachwelt noch Kunde gibt.

Die Gründung Babylons wird in der Bibel den Nachkommen Noahs zugeschrieben; aber historisch läßt sich wenig nachweisen, und daß die Bibel gerade Babylons mit besonderer Aufmerksamkeit gedenkt, ist kein Wunder; ist doch mit dieser Stadt die Geschichte des Judentums innig verknüpft. Schon die biblische Erzählung des Turmbaus zu Babel ist in ein mythisches Gewand gekleidet, soll doch erst als Strafe für das zu kühne Unternehmen die Verschiedenheit der einzelnen Sprachen entstanden sein, die ja in der Tat schon im Altertum als ein Übelstand empfunden wurde, sicherlich sich aber sehr leicht anders erklären läßt als durch die Turmbaugeschichte. Es wäre aber gleichwohl völlig verfehlt, den babylonischen Turm ins Fabelreich verweisen zu wollen. Der Turm hat vielmehr wirklich bestanden und war sicherlich der merkwürdigste Tempelbau, der je existierte, ein Tempel des Belu, der obersten Gottheit der Babylonier. Mag der Gedanke, in dem Turm aus religiösem Fanatismus etwas Unerhörtes zu scharfen, die Grundidee des Baues gewesen sein; mag es sich darum gehandelt haben, ein Werk zu errichten, das auch der größten Flut widerstehen könne, jedenfalls ist der Turm eines der vielen Weltwunder gewesen.

Daß in dem alten Babylon mit seiner hochentwickelten Kultur die Bewohner bemüht waren, des Lebens Unverstand mit vollen Zügen zu genießen, das würde man ohne weiteres annehmen dürfen; hier ist aber auch historisch erwiesen, daß in der Tat die alten Babylonier eine äußerst heitere Lebensauffassung besaßen, daß sie den wilden Sinnentaumel über alles liebten und daß sie es verstanden, sich die Zeit zu vertreiben. Nicht allein die schon oben zitierte Stelle nach Curtius zeigt, wie es bei den frohen Gelagen, der Babylonier zuzugehen pflegte, sondern es lassen sich hierfür auch noch andere Belege erbringen. Die Curtius-Worte aber sind gerade ihrer Kürze wegen trefflich. Es ist da gesagt, daß zunächst bei den Gastmählern der Anstand durchaus gewahrt blieb, daß erst im Verlaufe des Gastmahls die wilde Lust in ihr Recht trat, und daß die Damen dann ihre kostbaren Gewänder ablegten und sich den Gästen unverhüllt zeigten.

Es ist natürlich über die älteste Wunderstadt des Orients viel gefabelt worden, aber sie hat sicherlich bestanden und eine große Bedeutung gehabt. Die älteste Kultur ist von dort verbreitet worden, und es ist nicht alles lautres Gold, was in den alten Erzählungen über die Wunderstadt mit ihren hängenden Gärten glänzt. Schon an diese hängenden Gärten knüpft die Sage an, denn die Gärten selbst werden als eine Anlage der Königin Semiramis gepriesen, und diese Königin ist in einen solchen Dunst von Mythen, Sagen und Legenden gehüllt, daß sie selbst zum Schemen geworden ist. Man kann es nicht einmal übersehen, was an dieser Semiramis Fleisch und Blut, was Gottheit an ihr ist, denn es wird ja in der Tat vermutet, daß sie überhaupt keine Königin gewesen sei, sondern eine von den Assyrern verehrte Gottheit, die also den umgekehrten Weg in der Sage genommen hätte, den sonst große Sterbliche nahmen. Diese werden nach einem Leben großer Taten im Glauben des Volkes nicht selten zu Göttern; jene dagegen wäre aus einer Gottheit in die menschliche Gesellschaft aufgenommen worden, ich weiß nicht, welcher Weg der des größeren Ruhmes ist. Jedenfalls soll die Semiramis 2000 Jahre v. Chr. gelebt haben, also in einer Spanne Zeit, in der eine historische Persönlichkeit schon in ihren scharfen Umrissen leicht verwischt werden kann. Nach Herodot ist eine Babylonische Königin Semiramis eine durchaus historische Persönlichkeit; über das Jahr ihres Lebens und Regierens drückt dieser klassische Zeuge sich allerdings weniger klassisch aus; er sagt, sie habe fünf Generationen vor Nitokris regiert. Da Gottheiten nun aber höchst selten auf die Welt niedersteigen, selbst nicht um den Preis, hier als Königinnen einen Thron zieren zu dürfen, da die Semiramis bei allen ihren Vorzügen nicht gerade göttlich, sondern sehr, sehr menschlich gelebt haben soll, so wird man sie wohl richtiger zu den Menschen als zu den Göttinnen zu rechnen haben, wenn man sie nicht völlig als ein Fabelwesen betrachten will, wozu doch wieder nicht der mindeste Grund vorliegen kann, da in der Tat die Semiramis wirklich als Königin auf Erden gewandelt sein und große Taten verrichtet haben muß. Sie soll zunächst die Gattin des Onnes gewesen sein, den einige Quellen als Feldherrn des Königs Ninus, andere als Statthalter von Syrien bezeichnen. An der Seite ihres Gatten soll sie den Krieg gegen Oxyartes von Baktra mitgemacht und dabei sich ein ganz besonderes Verdienst erworben haben. Es wird nämlich erzählt, sie habe die Stadt und besonders die hauptsächlichsten Schwächen der Verteidigung genau gekannt und selbst die Mauer der Stadt erstiegen, um so den Ihrigen den Weg zu zeigen, der mit Erfolg im Sturme eingeschlagen werden könne. Nun tritt wieder ein besonderes Moment in die Sage. Wenn es sicherlich auf eine ungewöhnliche Gattenliebe schließen lässt, dass Semiramis die Strapazen des Feldzug auf sich nahm, um dem Gatten nahe zu bleiben, so tritt dies besondere Moment, das ich als ein echt orientalisches bezeichnen! will, doppelt auffällig in die Erscheinung. Semiramis wurde die Gattin des Königs Ninus, dem sie sehr gut gefallen hatte, und der besonders ihren Heldensinn beim Besteigen der Mauer bewundert hatte. Wie das möglich war? Im Liebesleben des orientalischen Altertums war eben alles möglich. Onnes soll eingewilligt haben, daß er auf seine Frau verzichtete, und daß diese den König heiratete. Ein sonderbarer Mann, wenn diese Einwilligung aus freiem Herzen ohne Zwang gekommen ist. Das ist allerdings schwerlich anzunehmen, denn die großen Vorzüge der Semiramis, die den König bis zur Tollheit entflammten, sind doch wohl auch dem guten Onnes nicht verborgen geblieben; er hat sie wahrscheinlich noch besser gekannt als der König. Es wird ja auch berichtet, daß Onnes Selbstmordbegangen habe. Das läßt schwerlich darauf schließen, daß er sich gar so leichten Herzens von der Gattin, die ihm bis ins wilde Kriegsgetümmel gefolgt war, trennte, um sie dem König zu überlassen. Gestorben ist Onnes jedenfalls, vielleicht hat auch da der König dem Entschlüsse des abgetanen Gatten etwas nachgeholfen, wie der König David dem Uria beim Abschied vom Leben behilflich gewesen ist, als er sich überzeugt hatte, daß der Bathseba der Gatte durchaus entbehrlich war. So etwas nahm man nicht so genau; man dachte vielmehr, selbst lieben macht glücklich, wie unser materiellerer Spruch lautet, selber essen macht fett. Ich habe diese Geschichte wiedergegeben, weil sie, gleichviel ob sie wahr ist oder nicht, doch einen recht interessanten Einblick in die Auffassung alt orientalischen Liebeslebens gestattet. Ich will auch die anderen wesentlichsten Angaben über das Königtum der Semiramis wiedergeben.



Dies vielumstrittene Weib soll die Mutter, nach anderen Quellen die Tochter des Königs Ninus gewesen sein. Diese nahe Verwandtschaft habe aber den König nicht gehindert, die Semiramis zu seiner Gattin zu machen. Der feste Pol in allen diesen Erzählungen Flucht ist der, daß Semiramis dem König einen Sohn geboren habe, der Ninyas genannt wurde. Eine v/eitere Übereinstimmung in allen Erzählungen ist die, daß Ninus nicht lange das Glück seiner Ehe mit Semiramis genossen habe; er sei sehr bald gestorben, und nach seinem Tode habe Semiramis die Regierung allein geführt. Dieses Faktum wird übereinstimmend gemeldet; aber über die Todesart des Königs Ninus gehen die Berichte wieder sehr weit auseinander. Nach der einen Ansicht soll Ninus friedlich eines natürlichen Todes gestorben sein. Nach anderen Erzählungen soll Semiramis ihn ermordet haben. Das würde ja zu der oben zitierten Ansicht, daß Ninus das treue Band der Liebe und Ehe zwischen Onnes und Semiramis gewaltsam zerrissen, die Frau für sich genommen und den Gatten in den Tod getrieben habe, nicht übel passen. Es wäre die Rache für die abscheuliche Tat des Ninus. Hier will ich noch einer anderen Variante gedenken. Ninus soll die Semiramis als Sklavin an seinen Hof geführt haben, um sie sich zu eigen zu machen. Ich weiß nicht, ob auch nach dieser Variante die schöne Semiramis die Gattin des Onnes gewesen sein soll; möglich oder sogar wahrscheinlich ist es sicher. Semiramis war nicht nur schön, sondern auch klug; sie wußte es, die Leidenschaft des Königs bis zum Wahnsinn zu entflammen, so daß Ninus sich soweit beherrschen ließ, um der schönen und stolzen Semiramis auf 5 Tage die Regierung zu überlassen. Das war im orientalischen Altertum durchaus möglich, und nicht einmal etwas so gar Absurdes. Semiramis aber soll diese Herrschergewalt benutzt haben, um den König zu ermorden und die Regierung für alle Zeit zu behalten. Sie hat, wenn auch aus anderen Motiven, vielleicht aber auch aus ganz ähnlichen, demnach gehandelt wie die jüdische Judith, auf die ich noch zurückkommen werde. Ninus ist auch nach dieser Variante als ein Opfer seines Liebeswahns und seiner Leidenschaft gefallen. Und das Volk?

Ich habe schon an anderer Stelle gezeigt, daß das Volk in hündischem Gehorsam vor dem Herrscherthron kroch und gegen Königsmorde vielleicht heimlich murrte, nicht aber sie zu rächen wagte, wenn der Mörder selbst den Thron bestieg, denn in diesem Augenblicke war er ja Herr über Tod und Leben seiner Untertanen geworden. Nach der alten Sage ist Semiramis sogar die Erbauerin von Babylon gewesen; nach anderer Meinung, die viel mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat, soll sie nur im bereits bestehenden Babylonischen Reiche Städte gegründet haben. Daß ihre Regierung über Babylon aber eine für das Volk günstige und vorteilhafte war, darin stimmen die Berichte überein. Sie soll Kriege geführt, mit Genie und Energie gekämpft und im Lande viel Gutes geschaffen haben. So wird von ihren Zügen nach Persien, nach Ägypten, Libyen und Äthiopien erzählt. Ob sie Großes auf dem Kriegspfad erreicht hat, wird nicht gesagt; es ist aber wohl anzunehmen, daß der Kriegsgott ihr nicht alle Erfolge versagt hat; denn sonst würde ihr wohl der Mut zu neuen Unternehmungen vergangen sein. Das war aber keineswegs der Fall; im Gegenteil. Sie wagte sich sogar an ein gewaltiges Unternehmen und zog gen Indien. Dabei hatte sie aber nicht nur keinen Erfolg, sondern sie schnitt noch schlimmer ab als Napoleon I. bei seinem Zuge gegen Rußland. Ihr Heer wurde völlig vernichtet, und sie entkam mit großer Not mit etwa 20 Mann. Damit war aber auch ihr Schicksal besiegelt. Nachdem sie 24 Jahre regiert hatte, verschwand sie im Alter von 62 Jahren von der Bildfläche.

Hier tritt nun wieder die Sage in ihr Recht, denn es wird erzählt, daß die einst gefeierte Semiramis die Gestalt einer Taube angenommen habe und davon geflattert sei. Für diesen Abschluss ihrer Regentenherrlichkeit lassen sich freilich keine einwandsfreien historischen Beläge erbringen, und wenn die Taube so oft als Symbol der keuschen Unschuld gilt, so würde Semiramis zu diesem sanften Bilde eigentlich auch wohl sehr wenig gepasst haben. Sie soll vielmehr ein sehr wenig taubenhaftes Leben geführt haben, und man hat später die über alle Begriffe „galante“ Kaiserin Katharina II. wohl die Semiramis des Nordens genannt. Wenn das in Rücksicht auf das Liebesleben der Katharina II. auch nur einen Schein des Rechtes gehabt hat, dann hat es um die Moral der Semiramis sehr übel ausgesehen. Jedenfalls hat die alte Sage, daß Semiramis als Taube den Nachstellungen ihres Sohnes entgangen sei, viel dazu beigetragen, die ganze Geschichte von der Semiramis als eine Mythenbildung erscheinen zu lassen. Soll doch auch Iphigenia in einer Wolke vom Opferaltar entführt und gerettet worden sein; Wolke und Taube — an sich freilich recht verschiedene Dinge, für die Sage aber sind sie völlig gleichwertig. Der Sage bedarf es aber in diesem Falle wirklich nicht, denn daß Ninyas seiner Mutter nachgestellt hat, um sie zu ermorden, daß sie schließlich wirklich von der Bildfläche verschwunden ist, darin berichten die verschiedenen Quellen völlig übereinstimmend; es ist deshalb doch ziemlich naheliegend, der Quelle zu folgen, die angibt, daß Ninyas seinen Plan wirklich durchgeführt, d. h. die Semiramis tatsächlich ermordet habe. Die Quelle, die dies berichtet, erzählt, daß Semiramis 45 Jahre lang für ihren Sohn die Regierung geführt habe. Das wäre an sich schon ein Grund gewesen, in dem prädestinierten Herrscher den Wunsch, nun endlich selbst die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen und sich nicht weiter am Gängelbande führen zu lassen, wachzurufen. Es ist für einen Orientalen ohnehin keine Kleinigkeit, sich von einem Weibe bis zur vollen Bedeutungslosigkeit zurückdrängen zu lassen. Besonders als Semiramis so gewaltiges Unglück im Kriege gegen Indien gehabt hatte, mochte der Wunsch eines kräftigen, tatenlustigen Mannes, die alte, verbrauchte Frau zurücktreten zu sehen, sogar etwas Staats erhaltendes für sich haben. Es wäre ja nun damit freilich noch nicht gesagt gewesen, daß dieser Wunsch nur durch einen Mord zu verwirklichen sein konnte; aber die herrschsüchtige und, wie viele Quellen behaupten, ausschweifende Semiramis wird wohl nicht freiwillig zurückgetreten sein, und dann gibt es auch noch ein psychologisches Moment, das nicht übersehen werden darf.

Semiramis hatte den Ninus ermordet, um die Herrschaft zu erlangen. Bei ihrer Charakteranlage und dem Hange zu Ausschweifungen, der ihr wenigstens später nachgewiesen oder doch mindestens nachgesagt wurde, mochte auch die Annahme, daß sie den Ninus an sich gelockt und ihren Mann, den Onnes, zum Selbstmord getrieben habe, den Ninyas beherrschen. Er konnte durch den Mord der Mutter den Mord des Vaters rächen. Daß er sich gerade 45 Jahre Zeit gelassen haben sollte, um die im Orient wohl schon im hohen Altertum bestehende Pflicht der Blutrache zu üben, das würde freilich nicht gerade auf einen schnellentschlossenen, impulsiven Charakter schließen lassen; es steht ja aber auch nicht fest, daß Ninyas ein solcher gewesen sei. Er soll allerdings der Erbauer des alten Ninive gewesen sein, eine historische Tat, die andere Berichte wieder seinem Vater, dem Ninus, andichten, während die Bibel als Gründer von Ninive den gewaltigen Jäger Nimrod nennt, der ja allerdings der historische Ninus zu sein scheint, denn von Nimrod ist eine einwandsfreie Überlieferung nicht auf uns gekommen. Wenn Josephus, der als Geschichtsschreiber uns so manchen Aufschluss gegeben hat, den Nimrod als den Erbauer des babylonischen Turms und als einen niederträchtigen Bösewicht, der zuerst das Feuer angebetet habe, bezeichnet, so ist leicht zu erkennen, daß die Quellen, aus denen Josephus diese Weisheit schöpft, nicht zuverlässiger sein können als der biblische Bericht, und daß Josephus vielmehr zweifellos aus jüdischen Legenden geschöpft hat. Darauf mögen auch die arabischen Überlieferungen fußen, nach denen Nimrod jeder Schandtat für fähig gehalten wurde, ja geradezu als eine Art bösen Prinzips galt, der aber auch da als Gründer und Erbauer der großen, längst verfallenen Städte Mesopotamiens gilt. Er gilt gleichzeitig als Begründer der Astronomie, die ja im alten Babylon sich zu einer bestgepflegten Wissenschaft entwickelte. Man wirft ihm also bei hochverdienstlichen Werken auch die größten Schändlichkeiten vor. Warum? Ich glaube aus einem ähnlichen Grunde, aus dem unter christlicher Kultur Leuten, die Großes leisteten, nicht selten vorgeworfen wurde, sie ständen mit dem Teufel im Bunde und wären deshalb schlechte, boshafte Menschen, die jeder gemeinen Handlungsweise fähig seien. Es muß das wohl auf die Sucht des menschlichen Herzens, sich selbst dadurch zu erhöhen, daß man Größere verkleinert und deren Verdienste durch allerlei üble Nachreden zu verringern trachtet, zurückzuführen sein. Die Bibel selbst sagt von Nimrod nur: „Der fing an, ein gewaltiger Herr zu sein auf Erden und war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn.“ Das sind doch sicherlich keine so besonders üble Dinge, und wenn es heißt, ein gewaltiger Jäger „vor dem Herrn“, so ist auch dieser letztere Zusatz höchstens eine Andeutung, daß Nimrod auch „vor dem Herrn“ bestand. Wie man darauf gekommen ist, ihn als Feueranbeter zu nennen, ist schwer zu sagen. Es ist auch nicht zu sagen, ob Nimrod und Ninus dieselbe Person darstellten, für die nur der Name abweichend angegeben ist; daß aber Nimrod mit Ninyas identisch sein könne, das erscheint völlig ausgeschlossen, und es ist demnach auch nicht einleuchtend, warum man letzteren für den Erbauer von Ninive gehalten hat. Ich habe aber die weite Abschweifung nur deshalb unternommen, weil es mir immerhin wichtig erschien, zu zeigen, wie widerspruchsvoll und in undurchdringliche Mythen gehüllt die dürftigen Berichte über das älteste orientalische Altertum sind. Man nimmt an, daß es in der Tat einen assyrischen König Ninus gegeben habe, und setzt dessen Regierungszeit auf mindestens 2.100 Jahre vor Christus. Das ist gewiß auch nicht zu hoch gegriffen; aber schon aus der Geschichte der Semiramis erkennen wir, daß es zu jener Zeit auch schon eine indische Kultur gegeben hat, die wohl ebenfalls mindestens annähernd der assyrisch-babylonischen äquivalent war. In der Kriegskunst hat sie vielleicht die assyrische übertroffen. Sicher ist dies allerdings auch nicht, denn die Tatsache, daß das Heer der Semiramis in Indien völlig vernichtet wurde, läßt sich schließlich auch durch andere Umstände erklären; es erscheint sogar nicht einmal wahrscheinlich, daß ein großes Heer durch einen so gewaltigen Marsch durch unbekannte und wohl auch unwirtliche Gegenden, in denen es das Gelände nicht einmal kannte, schwer zu leiden gehabt hat, und daß es den Indern, selbst bei nicht übertriebenen großen taktischen Fähigkeiten leicht gelingen konnte, dem fremden, mit den örtlichen Verhältnissen nicht vertrauten Heere Hinterhalte zu legen.



Wenn man die Unzulänglichkeit der einwandsfreien historischen Quellen über das älteste Babylon berücksichtigt, wird man wohl schwerlich mit Sicherheit behaupten dürfen, daß gerade das, was über die Vorliebe für Nuditäten und Sittenlosigkeit des Volkes und der Semiramis behauptet wird, als über jeden Zweifel festgestellt gelten dürfte. Viel eher läßt sich über das spätere Babylon unter Nabukudurrusur oder Nebuchadrezar, den Nebukadnezar der Bibel, der 604 — 562 v. Chr. lebte, mit einiger Sicherheit berichten. Hier fließen die Quellen reichlicher, und das Mythische tritt nicht mehr so stark in den Vordergrund. Von Nebukadnezar steht fest, daß er eine historische Person war; er wird als der Sohn des Nabopolassar bezeichnet, und in alten Keilschriften finden wir sichere Kunde von ihm, so daß es als erwiesen behauptet werden darf, daß er der mächtigste König von Babylon war. Weniger zuverlässig sind die weltlichen Quellen über die Kriegszüge; aber die biblischen Berichte, die ja im großen Ganzen mit dem, was als historisch gelten muß, übereinstimmen, enthalten in den Apokryphen sehr eingehende und interessante Schilderungen. Nach dem Buche Judith wird Nebukadnezar als der König von Assyrien bezeichnet, der in der großen Stadt Ninive regierte und zunächst den medischen König Arphaxad, dessen feste Stadt Ekbatana als das Wunderwerk einer festen Stadt damaliger Zeit gepriesen wird, besiegte. Nebukadnezars Macht war so groß, daß sich ihm in Furcht und Schrecken rings die Lande ergaben, ohne daß sein gewaltiger Feldherr Holofernes auch nur eine Schlacht zu schlagen brauchte. Der stolze Assyrerkönig wurde von Übermut arg gepeinigt; nach der Bibel verlangte er, daß alle Völker ihre Götter absetzen und ihn selbst als Gott anbeten sollten. Das mag ja historisch wohl nicht als einwandsfrei gelten dürfen; es zeichnet aber gleichwohl trefflich den Hochmut des gewaltigen Königs, der nichts über sich dulden wollte, wie ihm nach seiner Ansicht nichts auf Erden widerstehen konnte. Man nimmt an, daß die biblische Erzählung der Judith nicht historisch, sondern erfunden sei, um das jüdische Volk in schwierigen Lagen zu ermutigen und zu zeigen, daß Gott seinem Volke, wenn es ihm treu bleibe und fest auf ihn vertraue, auch in den schwersten Stunden helfe, in denen eine Hilfe absolut unmöglich erscheine. Es mag sein, daß dies in der Tat der Zweck der Erzählung gewesen ist; aber das würde doch nichts für die Unwahrheit der Erzählung beweisen. Hat doch selbst in unserer Zeit noch der gläubige Sinn des ersten deutschen Kaisers das Wort gesprochen: „Welche Wendung durch Gottes Fügung!“ Wird doch auch in unserer Zeit noch in den Kirchen in schwerer Zeit Gottes Beistand herbeigefleht. So wenig man aber den deutsch-französischen Krieg für unwahr bezeichnen darf, weil ein Kaiser gesagt hat: „Gott war mit uns!“ oder „Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben!“, so wenig ist man berechtigt, zu behaupten: „Die Geschichte der Judith ist deshalb unwahr, weil sie benutzt wurde, das Volk zum treuen Glauben und zum Ausharren im Vertrauen zu Gott zu erhalten.“

Sehen wir uns die Geschichte der Judith einmal etwas näher an, so werden wir doch unmöglich verkennen dürfen, daß sie, auch völlig von dem doktrinären Gottesvertrauen entkleidet, reine Tatsachen lehrt, die allermindestens doch die Vermutung hervorrufen müssen, daß sie nicht in allen Einzelheiten frei erfunden sein können. Denkt man an die Flucht der Kinder Israels aus Ägypten, die ja übrigens in der Judith-Erzählung ausführlich mitgeteilt wird, so fällt der Unterschied im ganzen Aufbau und im speziellen Effekt so handgreiflich auf, daß die Wage sich unbedingt zur Judith neigen muß. Dort teilt sich das Meer, um die Kinder Israels trocknen Fußes hindurchzulassen. Sofort aber, als die Verfolger denselben Weg einschlagen, vollzieht sich die Vernichtung der Feinde. Das ist also ein Wunder, von denen man wohl sagen mag, es wird berichtet, um die wunderbare Hilfe zu zeigen, die Gott seinem auserwählten Volke geleistet habe. Dem kritischen Verstand drängt sich dabei ohne weiteres der Zweifel oder, wo ohne Rücksicht auf die Quelle geurteilt wird, die Gewißheit auf, daß die Geschichte vom Roten Meere nicht wahr sein könne, da Wasser den natürlichen Gesetzen der Schwerkraft folgen müsse und sich nicht zu beiden Seiten auseinandertürmen könne.

Wo in aller Welt ist aber in der Judith-Geschichte des Glaubens liebstes Kind, das Wunder? Auch nicht die allerleiseste Andeutung eines Wunders ist da gegeben, denn die ganze umfangreiche Doktrin, daß Gott in der höchsten Not helfe, kann getrost gestrichen werden, ohne daß der Erzählung auch nur ein Körnchen von Wahrscheinlichkeit verloren ginge. Im Gegenteil, das Ganze ist so unwiderstehlich wahrscheinlich, so bis ins Detail psychologisch wahr, daß man bei ganz objektiver Prüfung sich nur sagen muß; es kann sich überhaupt gar nicht anders abgespielt haben.

Zunächst sprechen schon Tatsachen, die ja in der Erzählung nicht einmal angedeutet sind, für die Wahrscheinlichkeit; dann aber sind so viele kulturhistorische Finessen in die Erzählung verflochten, unabsichtlich, daß sie als Lehrstoff dienen könnten. Wo aber ist auch nur der allermindeste Nachweis dafür, daß die Judithepisode sich nicht abgespielt habe? Ich würde auf diese Geschichte überhaupt nicht näher eingehen, wenn sie mir nicht gerade für dieses Kapitel, das von der Vorliebe für Nuditäten im orientalischen Altertum handelt, so überaus wertvoll erschiene. Ich möchte annehmen, daß auch Hebbel dieser Gedanke mitbewogen hat, seine Judithtragödie zu schreiben, denn er ist ihm viel mehr noch gefolgt, als nach dem biblischen Original gerechtfertigt erscheinen kann.

Nebukadnezar führte, nachdem er 586 v. Chr. Jerusalem erobert und den Tempel zerstört hatte, die Juden in die babylonische Gefangenschaft. Das erzählt die Bibel selbst; warum hätte sie nun gerade die Judithgeschichte als eine theosophische Lehrepisode erfinden sollen, um etwas zu bestreiten, was sie dann selbst zugibt? Ich meine, hätte es sich darum gehandelt, einfach beweisen zu wollen, daß den Juden, die zu Gott hielten, nichts geschehen könne, so würde man doch nicht gerade den Sieg über das Heer desselben Nebukadnezar gefeiert haben, der die Juden in die babylonische Gefangenschaft abführen ließ. Gerade daß sich die Judithgeschichte in den apokryphischen Büchern findet, macht sie nicht unwahrscheinlicher, wenn auch die chronologische Reihenfolge der historischen Ereignisse nicht dadurch, daß das Buch Judith gewissermaßen losgelöst ist aus der Reihe der geschichtlichen Daten, übersichtlicher gemacht wird.

Nun zurück zu der inneren Wahrscheinlichkeit der im Buche Judith mitgeteilten Tatsachen! Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der mythische Wunderzauber, der so reichlich über andere Erzählungen ausgebreitet ist, hier völlig fehlt. Stattdessen finden wir eine Schilderung echten altorientalischen Lebens, wie es echter überhaupt nicht gegeben werden kann. Wir finden den wulstigen Übermut des von seiner Übermacht überzeugten Königs Nebukadnezar, der sich als Gott anbeten lassen wollte. Die Völker zitterten vor ihm und unterwarfen sich. Anders das strenggläubige Volk der Juden, das daran festhielt, daß sein Gott größer und mächtiger sei als alle Götter und Götzen anderer Völker, und daß er sie deshalb wohl bewahren und beschützen könne. Das ist wieder etwas durchaus Natürliches, und der Glaube an den Schutz und die Hilfe der Gottheiten war ja nicht einmal etwas spezifisch Jüdisches. Wir finden dieses Vertrauen auch bei den heidnischen! Völkern des Altertums, die ihren Göttern opferten, damit sie ihnen den Sieg verleihen sollten. Der Heerführer des Nebukadnezar war der Feldherr Holofernes, und was konnte wohl näher liegen, als der Gedanke, daß die schlimmste Gefahr abgewendet sein mußte, wenn Holofernes getötet wurde, wodurch natürlich sein Heer in Schrecken und Bestürzung geraten mußte. Da es aber in jedem Kampfe außerordentlich wichtig ist; welcher der Gegner mutig und siegessicher angreift, und welcher bestürzt und verzagt sich angreifen läßt, so ist auch der Sieg der fanatisch siegesgewiss über die bestürzten Gegner herfallenden Juden kein Wunder, sondern so absolut wahrscheinlich und sicher, daß es vielmehr ein Wunder gewesen wäre, wenn die assyrischen Truppen sich trotz der bei ihnen herrschenden Verwirrung und Bestürzung doch gegen den machtvollen Anprall der Feinde hätte halten; können.

Wie aber konnte das assyrische Kriegsvolk in Verwirrung gebracht werden, d. h. wie konnte der mächtige, stolze Holofernes, der so gut in seinem Lager bewacht wurde, plötzlich getötet werden, ohne daß seine Umgebung von dieser Tat eher etwas bemerkte, als bis eben die Stunde der Gefahr nahte, in der die unerwartete Entdeckung die Gemüter tief erschütterte? Das gerade zeigt uns die Geschichte der Judith so klar, daß man wohl zugeben muß, eine andere Möglichkeit war überhaupt nicht vorhanden.

Als das jüdische Volk in der Stadt Bethulia, wie die Bibel schreibt, Betylua, wie sie historisch benannt wird, belagert wurde, stieg die Not aufs Äußerste, da die Assyrer den Wasserzufluss abgeschnitten hatten, um die Stadt, die wie alle Städte des Altertums stark befestigt war, zur Übergabe zu zwingen. In dieser Not kam Judith ein rettender Gedanke. Judith war die Witwe des Manasse, ihre Abstammung ist mit großer Ausführlichkeit geschildert, die ebenfalls nicht die Vermutung rechtfertigt, daß Judith nichts gewesen sei, als eine erdichtete Figur, die gerade gebraucht wurde, um eine Doktrin dichten zu können. Judith wird als eine besonders fromme und gottesfürchtige Person geschildert, die während der 3½ Jahre ihrer Witwenschaft im Sacke um den auf dem Felde plötzlich verstorbenen Mann trauerte. Diese Judith beschloß nun, mit Gottes Hilfe ihr Volk von den Feinden zu erretten. Sie begab sich, festlich gekleidet und im Glänze ihrer ungewöhnlichen Schönheit mit einer Magd ins feindliche Lager und verlangte, vor Holofernes geführt zu werden.

Was sich dort abspielte, ist altorientalisches Leben mit einer psychologischen Feinheit beobachtet, daß diese Geschichte, wäre sie nicht die Geschichte einer wahren Begebenheit, sondern freie Erfindung, ein Meisterstück poetischer Schilderung wäre. Holofernes sieh! die schöne Jüdin, die ihm helfen will, die feindliche Stadt in seine Hände zu bekommen. Er ist ihr schon aus diesem Grunde gewogen; aber seine Sinnlichkeit wird durch den Anblick des verführerischschönen Weibes mehr und mehr entflammt. Wie diese steigende Leidenschaftlichkeit geschildert wird, wie Judith es versteht, das sichtliche Wohlgefallen des nichtigen Fürsten listig auszunutzen, um sich von vornherein eine Bewegungsfreiheit zu sichern, ohne die sie ihr Vorhaben überhaupt nicht hätte ausführen kennen, das ist geradezu bewunderungswürdig, und nur verständlich, wenn man annimmt, daß die Erzählung wahr ist. Judith gibt sich in einem Punkte wahr; sie ist die fromme Jüdin, die ihr Heil im ständigen Gebete sucht und offen erklärt, daß sie auch dem Holofernes nur helfen könne, wenn dieser ihr erlaube, sich täglich aus dem Lager zu entfernen, um in der Nähe ihrer Stadt ihr Gebet zu verrichten. Nur dadurch hatte sie die Sicherheit, daß sie zu jeder Zeit mit ihrer Dienerin das Lager verlassen durfte. Ja, sie hatte ihren Plan noch besser durchdacht; sie hatte in einem Sacke Lebensmittel mitgenommen und durfte auch beim Verlassen des Lagers diesen Sack mit sich nehmen.



Holofernes empfindet immer mehr Begierde nach Judith: es liegt ihm schließlich viel mehr daran, die Judith zu erobern als die feste Stadt Bethulia, die ihm ja ohnehin nach seiner Ansicht nicht entgehen konnte. Er war schließlich nur noch darauf bedacht, Judith für sich zu gewinnen und machte daraus auch vor seiner Umgebung kein Hehl. Es heißt wörtlich: „Am vierten Tage machte Holofernes ein Abendmahl seinen nächsten Dienern allein, und sprach zu Bagoas, seinem Kämmerer: Gehe hin, und berede das ebräische Weib, daß sie sich nicht weigere, zu mir zu kommen. Denn es ist eine Schande bei den Assyrern, daß ein solch Weib unberühret von uns komme, und einen Mann genarret habe.“

Diese kurze Rede allein ist ein ganzes Stück Kulturgeschichte. Daß Holofernes Absichten auf Judith hatte, die schön und verführerisch war, das würde ja keineswegs als etwas besonders Erwähnenswertes gelten können, denn das ist so natürlich, daß es unter gleichen Verhältnissen wohl auch heute noch bei allen Völkern dasselbe sein würde. Aber Holofernes geht weiter; er sagt das große Wort, daß es eine Schande bei den Assyrern sein würde, wenn ein solches Weib unberührt davon kommen sollte. Es war also danach geradezu Ehrensache, die Verführung vorzunehmen und sie mit Hilfe der Untergebenen sofort einzuleiten. Wenn man das berücksichtigt, dann wird man wohl schwerlich den Vorwurf zu fürchten haben, daß man etwa leichtfertige Schlüsse auf die damalige Moral der Assyrer ziehe, wenn man daraus entnimmt, daß das Liebesleben jenes alten Volkes von einer Sinnlichkeit erfüllt war, die kaum übertroffen werden kann.

Wie verhielt sich nun Judith zu dem Ansinnen? Sie wird als eine sehr fromme und tugendhafte, sittenreine Witwe geschildert, die einsam und verlassen 3½ Jahre um den verstorbenen Mann trauerte und nie daran dachte, nach einem neuen Gatten zu schauen, oder auch nur nach einem noch so harmlosen Verkehr mit Männern trachtete. Wendete sie sich mit sittlicher Entrüstung ab, als ihr ein so echt — assyrisches Anerbieten gestellt wurde? O nein! Im Gegenteil. Sie hatte längst erkannt, daß sie das Wohlgefallen des Holofernes in hohem Maße erregt hatte, und daß Holofernes ihr ein derartiges Anerbieten machen werde. Sie ist offenbar nur deshalb in das feindliche Lagen gegangen, weil sie die Männer ihrer Zeit kannte und sich wohl bewußt war, daß sie immer noch einen tiefen Eindruck auf Männerherzen machen konnte. Sie mochte vielleicht auch von der assyrischen Lebensauffassung gehört haben, die ja nicht einmal so erheblich verschieden von der jüdischen war, und mochte recht gut wissen, daß die Stunde kommen mußte, wo die Begierde den Sinn des gewaltigen Feldherrn berücken würde. Das ist eben die psychologische Feinheit in der ganzen Geschichte. Es heißt im Text weiter: „Da sprach Judith: Wie darf ich's meinem Herrn versagen? Alles, was ihm lieb ist, das will ich von Herzen gerne tun all mein Leben lang.“ Und sie stand auf, und schmückte sich, und ging hinein vor ihm. Da wallte dem Holofernes sein Herz; denn er war entzündet von Begierde zu ihr. Und sprach zu ihr: "Sitz nieder, trink, und sei fröhlich; denn du hast Gnade gefunden bei mir. Und Judith antwortete: "Ja, Herr, ich will fröhlich sein, denn ich bin mein Leben lang so hoch nicht geehret worden.“ Auch diese Rede zeigt einen lehrreichen Einblick in das Leben jener alten Zeit. Es war doch weder für Judith noch für die ganze Gesellschaft auch nur der leiseste Zweifel darüber vorhanden, welche Rolle Judith bei Holofernes spielen sollte. Dennoch sagt Judith, sie sei ihr Leben lang noch nicht so geehrt worden, wie dadurch, daß sie die Buhlerin des Holofernes werden sollte. Daß auch dies nach der altjüdischen Auffassung des Liebeslebens durchaus keine Phrase war, ist unstreitig. Es war eben für das Weib eine ehrende Auszeichnung, wenn es bei einem Manne heftige Begierden erregte, die eben doch nur das Weib zu erregen vermochte, das in ausreichendem Maße begehrenswert war. Ist es doch auch bei uns noch eine Auszeichnung für ein weibliches Wesen, wenn es viel umworben ist, d. h. doch aber auch nichts weiter, als daß es die Eigenschaften besitzt, die in Männeraugen ein Weib begehrenswert erscheinen lassen. Daß dabei das sexuelle Moment nicht ausgeschaltet werden kann, das ist doch auch in unserer Zeit noch Binsenweisheit, wenn wir es freilich auch nicht nach heutiger Moralansicht zugeben dürfen, daß eine Begehrlichkeit, die nicht durch die Ehe sanktioniert wird, als eine Auszeichnung gelten sollte. Wir würden das Erregen der Begierde für eine Auszeichnung, den Wunsch, daß diese Begierde anders als durch die Ehe befriedigt werden soll, als eine beleidigende Herabsetzung zu bezeichnen haben. Das Altertum, namentlich das des sinnlichen Orients, kannte aber das Dogma von der Metamorphose der Auszeichnung nicht, sondern folgerte logischer, weil natürlicher, daß wenn die Erregung der Begierde ehrend sei, auch die Konsequenz ehrenvoll bleiben müsse. Also Judith fühlte sich so hoch geehrt, wie noch niemals all ihr Leben lang. Kleine Züge soll man bei der Prüfung derartiger Vorgänge so wenig unbeachtet lassen, wie große Taten, die ja nur deshalb größer erscheinen, weil der erhebliche Erfolg drastischer in die Augen fällt. Ein kleiner Zug war es, daß sich Judith noch besonders schmückte, ehe sie zu Holofernes ging. Sie wollte ihn eben völlig berauschen und ihm den klaren Verstand nehmen. Es ist wohl anzunehmen, daß sie damit erreichen wollte, was der Bibeltext ganz nebenbei sagt: „Und Holofernes war fröhlich mit ihr, und trank so viel, als er nie getrunken hatte sein Leben lang.“

Auch dabei findet sich noch eine psychologische Feinheit Judith verzehrte nur das, was ihre Magd ihr bereitet hatte. Es war dies sicherlich Speise und Trank, die ihr den Verstand nicht trüben konnten. Sie wollte bei dem Abenteuer ihrer Sinne völlig Herrin bleiben, und sah gewiß mit großer Freude, daß der gute Holofernes, der das Ziel seiner heißen Wünsche sicher erreicht zu haben glaubte, diese weise Vorsicht vollständig außer Acht ließ. Daß dabei Holofernes sich bis zur Sinnlosigkeit betrinken würde, das konnte Judith allerdings nicht voraussehen; aber sie hatte jedenfalls ihre Pläne so gemacht, daß sich auch ohne diesen glücklichen Zufall einen Erfolg ihres Abenteuers gehabt haben würde. Es kann auch nicht gerade Wunder nehmen, wenn Judith und die, die die Geschichte erzählt haben, in der völligen Trunkenheit des Holofernes nicht einen blinden Zufall erblickten, sondern eine Fügung des großen Gottes, den Judith ja um Hilfe angefleht, und von dem sie zuversichtlich eine Hilfe erwartet hatte, da ja Gott durch diese Hilfe zeigen sollte, daß er der große, mächtige Gott sei, der die Seinen auch in der höchsten Not nicht verlässt, und der sich nicht durch hoffärtige, übermütige Menschen verspotten läßt.

Es muss bei der Tafel sehr lustig hergegangen sein, denn es wird erzählt, daß die Diener sich entfernten, und daß sie alle betrunken waren. Es ist das wohl auch die beste Erklärung dafür, daß sich niemand weiter um den sinnlos berauschten Holofernes kümmerte, sondern daß man ihn in diesem Zustande mit der Judith allein ließ. Es ist ja ohnehin nicht zu vergessen, daß Holofernes schon vorher allen gesagt hatte, er wolle die Schande bei den Assyrern nicht aufkommen lassen, daß ein solches Weib unberührt von ihnen kommen sollte; sie wußten also, daß er sie für sich allein haben wollte, und trauten es dem Manne wohl zu, daß er selbst einen starken Rausch bald überwinden und sich auf Judith besinnen würde, die ja bereitwilligst diese Ehre genießen wollte. „Und Judith war allein bei ihm in der Kammer.“

Das Weib allein mit dem gewaltigen Manne, der ihrer so heiß begehrte. Es wäre ja wohl doch die Sinnlichkeit des Weibes auf eine harte Probe gestellt worden, wenn Judith nicht so fest von dem Vorsatz, ihr Volk zu retten, durchdrungen gewesen wäre. So allerdings, wo sie den Mann sinnlos vor sich auf dem Bette liegen sah, machtlos und willenlos in ihre Hand gegeben, den Mann, den sie als den gefährlichsten Feind ihres Volkes glühend hassen, den sie wegen seiner wüsten Trinkerei verachten mußte, da war wohl die Versuchung nicht allzu groß. Hochklopfenden Herzens beobachtete sie den Feind, dessen mächtige Glieder ihr auch trotz seiner Besinnungslosigkeit noch Furcht und Schrecken einflößten. Würde ihr das Werk, das sie verrichten wollte, auch glücken, würde ihre des Kampfes und der Waffen völlig ungeübte Hand, diesen Riesen erschlagen können? Und was sollte geschehen, wenn sie ihn nicht mit mächtigem Streiche zu fällen vermochte? Wenn sie ihn bloß verwundete und ihn dadurch ins Bewußtsein zurückrief, ehe sie ihn wirklich kampfunfähig gemacht hatte? Und wenn ihr Überfall Lärm verursachte, durch den seine Wachen herbeigelockt würden ? Die Rettung ihres Volkes war auch dann misslungen, wenn selbst Holofernes sterben mußte; denn die Assyrer würden dann in maßlose Wut geraten, statt in Bestürzung und den Tod des Feldherrn am jüdischen Volke furchtbar rächen.

Es war also trotz aller günstigen Umstände doch noch eine verzweifelte Lage, in der sich Judith befand. „Und Judith trat vor das Bette, und betete heimlich mit Tränen.“ Sie betete, daß Gott ihr bei dem Meuchelmord helfen sollte. An sich ein absurder Gedanke, und doch kein unlogischer, denn Gott sollte ja zum Siege helfen, und der Sieg über einen grimmen Feind ist nicht möglich, wenn der Feind geschützt werden soll. Judith ergriff das Schwert des Holofernes, das an der Säule oben am Bette hing, und führte die eigene Waffe ihres Opfers gegen dieses. Zweimal hieb sie mit aller Kraft zu; der Kopf war damit noch nicht vom Rumpfe getrennt, sondern die Mörderin mußte ihn erst noch mit des Schwertes Schärfe völlig, abschneiden. Holofernes erwachte aber nicht zum Bewußtsein; schon der erste Hieb muß also sofort tödlich gewesen sein. Der Plan war gelungen. Der stolze, siegesgewisse Feldherr war nicht mehr, von den Freuden einer üppigen Tafel träumte er hinüber in das geheimnisvolle Jenseits, von dem es kein Zurück mehr gibt. Und Judith warf den entseelten Körper von dem Lager, auf dem er mit ihr die höchste Wollust hatte genießen wollen, auf den Boden. Den Kopf aber hüllte sie in den Sack, den sie zum Aufbewahren ihrer Lebensmittel stets bei sich führte und nahm ihn mit hinaus. Dann ging sie mit ihrer Magd hinaus aus dem Lager, wie sie dies jeden Abend getan hatte, um zu beten. Die Diener des Holofernes, die wußten, daß ihr Herr mit Judith die Wonnen der Liebe genießen wollte, waren ja ebenfalls betrunken; sie schliefen und merkten den vorzeitigen Abschied der Jüdin nicht, und die Wachen, die ein für allemal den Befehl hatten, das ebräische Weib ungehindert passieren zu lassen, konnten natürlich keinen Verdacht hegen, als die fremden Frauen also, wie sie dies sonst taten, das Lager verließen. Sie achteten auch nicht darauf, wie lange diese fortblieben, und ob sie überhaupt zurückkehrten. An eine Rückkehr dachte Judith selbstverständlich nicht; sie entfloh vielmehr eiligst nach Bethulia. Dort fand sie natürlich die Tore fest verwahrt; aber es gelang ihr leicht, sich den Wächtern zu erkennen zu geben und Einlass zu finden. Den Kopf des Holofernes führte sie als unwiderlegbaren Beweis dafür, daß das unmöglich Scheinende gelungen, daß Holofernes kein gefährlicher Feind mehr war, mit sich.

Damit war freilich die Rettung erst zur Hälfte geschehen; aber schon der Anblick des Hauptes erfüllte die Männer Judas mit wilder Siegesfreude. Judith riet nun, man solle am nächsten Morgen in aller Frühe das blutige Haupt des Feindes über die Mauer hinaus hängen. Das war ein sehr kluger Rat, denn der Anblick dieser Trophäe mußte die Juden siegesgewiss machen, weil er ihnen zeigte, daß Gott dem gefährlichsten Gegner in ihre Hand gegeben hatte, und von der Stimmung, mit der die Juden den Angriff auf das feindliche Lager unternahmen, hing eben der Erfolg ab.

Der Rat wurde befolgt, und am andern Morgen berauschte sich das ganze Volk an dem Anblick des Hauptes. Die Männer ergriffen die Waffen und stürmten mit großem Geschrei nach dem assyrischen Lager. Dort hatte noch niemand von der grausigen Bluttat der Judith etwas bemerkt. Man lachte deshalb über die Juden und die Feldhauptleute wendeten sich an Bagoas und forderten ihn auf, den Holofernes zu wecken, denn „die Mäuse seien herausgelaufen aus ihren Löchern und kühn geworden“; sie wagten es, das Lager anzugreifen. „Da ging Bagoas hinein, und trat vor den Vorhang, und klatschte mit den Händen; denn er meinte, er schliefe bei Judith. Und horchte, ob er sich regen wollte. Da er aber nichts vernahm, hob er den Vorhang auf: da sah er den Leichnam ohne Kopf in seinem Blute auf der Erde liegen. Da schrie und heulte er laut, und zerriss seine Kleider, und sähe in der Judith Kammer; und da er sie nicht fand, lief er heraus zu den Kriegern und sprach: Ein einziges ebräisches Weib hat das ganze Haus Nebukadnezars zu Spott und Hohn gemacht vor aller Welt; denn Holofernes liegt da tot auf der Erde, und ist ihm der Kopf abgehauen. Da das die Hauptleute von Assyrien hörten, zerrissen sie ihre Kleider, und erschraken über die Maßen sehr. Und ward ein groß Zetergeschrei unter ihnen.“



Das war also genau die Wirkung, die Judith erwartet hatte, und die zum Gelingen des kühnen Überfalls unbedingt erforderlich war, denn da die Assyrer erheblich in der Übermacht waren, da sie kampfgewohnte und für unüberwindlich gehaltene Krieger waren, hätte ein Überfall des Lagers durch die Juden als heller Wahnsinn erscheinen müssen, wenn nicht ein so außerordentliches Ereignis eingetreten wäre, das unter allen Umständen das moralische Gleichgewicht so wesentlich zu Gunsten der stürmenden Juden verschieben mußte, daß eben das, was sonst Wahnsinn schien, zum Erfolge führte. Wir haben ja gesehen, daß die Assyrer zunächst über den Ausfall der Juden spotteten, die Mäuse hätten ihre Löcher verlassen und seien kühn geworden, so hieß es, ehe der plötzliche Tod des Holofernes bekannt war. Und nachdem die Schreckenskunde das assyrische Lager durcheilte? Der Text schildert es sehr einfach: „Da nun das Kriegsvolk hörte, daß Holofernes der Kopf ab war, erschraken sie, und wurden irr, und konnten nicht Rat halten, was sie tun sollten, so war ihnen der Mut entfallen ; und flohen auf allen Wegen in der Ebene und im Gebirge, daß sie den Ebräern entrinnen möchten; denn sie hörten, daß sie gegen sie daherzögen. Und da die Kinder Israel sahen, daß die Feinde flohen, eilten sie ihnen nach mit großem Geschrei und Trommeln.“ Keine Spur eines Wunders! Alles ist so durchaus natürlich und einfach, daß man sagen könnte, selbst das Faktum, daß zwei und zwei immer nur vier ergeben müsse, sei nicht selbstverständlicher als dieser Sieg der Kinder Israel über die viel stärkere Macht der Assyrer. Der Oberste der Stadt, Orius, schickte eiligst Boten an alle Städte des Landes, ließ ihnen die Kunde von dem Siege bringen und sie auffordern, den Sieg ausnutzen zu helfen. Dadurch erhielt er große Verstärkungen, die den Fliehenden in den Weg fielen und ihnen große Verluste beibrachten. Man erreichte damit auch, daß die Assyrer nirgends Ruhe noch Rast fanden, bis sie aus dem Lande getrieben waren.

Wer sich von den Einwohnern Bethulias nicht an dem Angriffe beteiligt hatte, der wanderte nun hinaus in das assyrische Lager, das verödet und unbewacht geblieben war, da die Assyrer nur darauf bedacht gewesen waren, sich zu retten. Nichts hatten sie mitgenommen, und nun zeigte sich erst der Reichtum und der Luxus, den die verwöhnten Assyrer auch im Kriegslager nicht vermissen wollten. Die Beute war enorm, und die Israeliten erwarben auf leichte Weise gewaltige Reichtümer. Sie waren aber nicht undankbar und vergaßen nicht, der Retterin in ihrer Not, der kühnen Judith, reiche Geschenke zu machen. Alle die massenhaften Prunkstücke aus edlen Metallen, die Holofernes mit sich geführt hatte, erhielt Judith als Geschenk, und aus dem ganzen Lande strömten helle Scharen nach Bethulia, um Judith zu sehen und zu preisen. Judith war und blieb die Heldin des Volkes; aber sie vergaß ihren Mann nicht und blieb Witwe. Im Alter von 105 Jahren soll sie gestorben sein.

Doch nun genug von dieser biblischen Judithepisode. Daß sie die höchste Wahrscheinlichkeit für sich hat, keine freie Erfindung zu sein, habe ich genügend dargetan. Sie würde aber auch, wenn sie eine bloße Dichtung wäre, vollen Anspruch auf recht eingehende Beachtung erleben dürfen. Sicher sind doch mindestens die Sitten und Gebräuche jener Zeiten durchaus richtig wiedergegeben, und diese zeigen die alte assyrische Moral in so klarem Lichte, daß für den Kulturhistoriker diese Geschichte immer noch eine Fundgrube bleibt. Von einiger Wichtigkeit ist nun freilich die Frage, ob Holofernes, der den Ausspruch getan haben soll, daß es eine Schmach und Schande bei den Assyrern sei, wenn ein Weib wie Judith sich von ihnen trennen sollte, unberührt und unverführt, wirklich gelebt hat. Daß die biblische Geschichte die Namen nicht ganz genau wiedergibt, beweisen schon die Benennungen Bethulia und Nebukadnezar, die, wie wir gesehen haben, in Wirklichkeit anders lauteten. Auch Holofernes ist nicht korrekt genannt, und höchst wahrscheinlich ist Holofernes in Wirklichkeit der persiche Name Orofernes. Ein solches Fürstengeschlecht ist aber historisch nachgewiesen; es tritt sogar verschiedentlich in der Geschichte auf. Ein Mitglied der kappadocischen Familie Orofernes wird als Feldherr des Darius Ochus etwa 345 v. Chr. genannt, der andere bemächtigte sich 159 v. Chr. sogar des Thrones, er war ein dem König Ariarathes IV. von seiner Gattin Antiochis untergeschobener Sohn. Es ist also auch nach dieser Richtung hin mindestens doch so viel bewiesen, daß die Namen, die in der Judithgeschichte die Hauptrollen spielen, echt sind.

Auffallen mag es ja, daß bei der lüsternen Leidenschaft der Assyrer nicht Weiber im Kriegslager des Holofernes erwähnt sind. Man würde doch fast mit Sicherheit erwarten dürfen, daß Holofernes mehrere Gattinnen oder Buhlerinnen mit sich geführt habe. Das ist aber auch wieder ein Punkt, der nicht voreilig abgetan werden darf. Zunächst kommt es ja bei der Erzählung nicht im mindestens darauf an, eine kulturhistorisch wertvolle Schilderung des Lebens in einem assyrischen Kriegslager zu liefern, sondern es soll die Geschichte der durch die Ermordung des Holofernes ermöglichten Rettung Israels geschildert werden. Dabei war es selbstverständlich nicht von Interesse, ob die Assyrer Weiber bei sich führten, ja, es mußte ohnehin das, was damals allgemeiner Brauch war, als bekannt und deshalb nicht der Erwähnung wert betrachtet werden, wie ja auch sonst keine einzige Andeutung über das Leben im Lager der Assyrer gemacht wird. Es war selbstverständlich, daß sich Weiber im Kriegszuge befanden, wie ja auch die Kinder Israel selbst ihre Kriege bei der Eroberung des gelobten Landes geführt hatten, während Weiber und Kinder mit im Zuge weilten. Die Stellung des Weibes im Orient war auch keine solche, daß sie etwa bei einem Liebesabenteuer des Holofernes irgendwie eine Störung hätte veranlassen können. Judith bewegte sich ziemlich frei im assyrischen Lager; schon dies deutet darauf hin, daß die Anwesenheit von Weibern durchaus nicht auffiel; es würde vielmehr Aufmerksamkeit bei den assyrischen Kriegern erregt haben, was Judith trieb, wohin sie sich wendete, sobald sie, um zu beten, das Lager verließ, und es wäre ihr gewiß nicht so leicht geworden, nach der Mordtat sich zu entfernen und den Kopf des Holofernes mit sich zu nehmen, wenn es nicht ein ziemlich gewohnter Anblick gewesen wäre, Weiber sich im Lager bewegen zu sehen. Dass die Krieger alle der Ansicht waren, es sei eine Schande, wenn ein solches Weib unberührt von ihnen komme, wird man wohl annehmen dürfen; wenn aber der gewöhnliche Soldat nichts tat, diese Schande abzuwenden, d. h. wenn nicht alle sich an die verlockend schöne Jüdin heranwagten, so liegt dies daran, daß sie wohl wußten, Judith gehöre dem Holofernes, und dieser würde ja wohl in diesem Punkte keinen Spaß verstanden und durchaus keine Neigung gehabt haben, ein Weib, das ihn selbst „entzündet“ hatte, mit seinen Soldaten zu teilen. Auch Judith würde wohl nicht auf den kühnen Plan gekommen, sein, ins feindliche Lager zu gehen und den gefürchteten Feldherrn, vor dessen Stirnrunzeln ganze Völker zitterten, zu ermorden, wenn sie nicht gewußt hätte, daß Besuche von Weibern im Kriegslager weder etwas Ungewöhnliches noch etwas Unerwünschtes waren; sie muß doch ganz genau damit gerechnet haben, daß der gestrenge Herr Holofernes, glühenden Weiberaugen gegenüber weiches Wachs war, eine Berechnung, die sich ja auch als durchaus richtig erwies. Es ist nun im letzten Kapitel der Judith-Geschichte auch gesagt, daß Judith während ihres langen Lebens in Israel hochgeehrt gewesen sei, und daß, so lange sie lebte, niemand gewagt habe, Israel anzugreifen. Das ist freilich wohl eine ziemlich kühne Phantasie, denn mit ihren 100 Jahren wird wohl auch Judith nicht mehr so verführerisch schön gewesen sein, daß es ihr etwa hätte gelingen können, die Künste, denen Holofernes zum Opfer gefallen war, zu wiederholen, mag auch ihr Name bei den Feinden eine Art Alpdrücken hervorgerufen haben, „denn kein Mann, noch kein Krieger hat ihn (Holofernes) umgebracht, und kein Riese hat ihn angegriffen, sondern Judith, die Tochter Aleroris, hat ihn niedergelegt mit ihrer Schönheit. Denn sie legte ihre Witwenkleider ab, und zog ihre schönen Kleider an zur Freude den Kindern Israel; sie bestrich sich mit köstlichem Wasser, und flocht ihre Haare ein, ihn zu betrügen; ihre schönen Schuhe verblendeten ihn; ihre Schönheit fing sein Herz; aber sie hieb ihm den Kopf ab, daß sich die Perser und Meder entsetzten vor solcher Tat.“

Es ist da nochmals das Resume gegeben, die intimere Schilderung der Umstände, durch die Holofernes zu Fall gebracht wurde. Es ist das eine fast schwülstige Liebesepisode, die zwar in der Form eines Gebetes gedacht ist, aber doch die sinnliche Siedehitze des Holofernes'schen Liebesrausches anschaulich genug schildert. Wer das so verständnisvoll zu schreiben vermochte, der mußte einen tiefen Einblick getan haben in das Liebesleben des Volkes, in dem Holofernes einen so hohen Rang eingenommen hatte.

Das Schlusskapitel enthält aber noch einen Satz, der für mein Thema von großem Interesse ist; es heißt da: „Er dräute, mein Land zu verbrennen, und meine Mannschaft zu erwürgen, Kinder und Jungfrauen wegzuführen.“ Das ist eine Klage, die so einfach klingt, daß sie kaum der Erörterung zu bedürfen scheint, und doch ist sie eine höchst beachtenswerte Andeutung einer furchtbaren Kriegssitte, die ebenfalls beweist, daß furchtbare Grausamkeit mit Wollust gepaart, das Fühlen und Denken jener Völker erfüllte. Man begnügte sich nicht damit, den Feind besiegt zu haben, sondern ruhte nicht, ehe die Männer vernichtet waren, die Weiber aber eine besonders begehrte Beute bildeten. Ich werde auf diese Kriegsbräuche noch zurückkommen.



Die Vorliebe für Nuditäten, die uns im Orient so vielfach entgegentritt, hat auch zur Gründung einer besonderen Sekte geführt, die viel umstritten ist, und auch wohl deshalb viel umstritten bleiben wird, weil ihr Programm in sich die schärfsten Gegensätze zu vereinen scheint. Die Sekte predigte die unglaublichste Enthaltsamkeit. Während nun aber die Asketen, die ebenfalls die völlige fleischliche Enthaltsamkeit als das höchste sittliche und religiöse Gebot betrachteten und selbst die von Christus selbst empfohlene Ehe als eine entsetzliche sündige Unzucht betrachteten, dieses Gebot dadurch am besten zu befolgen glaubten, daß sie der Versuchung entflohen und sich fern von dem sündigen Treiben dieser Welt in irgend einem stillen Winkel verbargen, was ja jedenfalls das beste und sicherste Mittel war, sündiger Betätigung, wenn auch nicht sündiger Lust, zu entgehen, suchte die sonderbare Sekte durch das Gegenteil zu noch größerem Ruhme zu gelangen. Sie forderte völlige Nacktheit in den religiösen Versammlungen und ließ beide Geschlechter in dieser absoluten Kostümlosigkeit sich gemeinsam versammeln. Hier war die Versuchung also in der aller stärksten Form geboten. Daß es ein größeres Verdienst ist, einer starken Versuchung mit Festigkeit zu widerstehen als der Versuchung zu fliehen und etwas nicht zu tun, was man eben nicht tun kann, weil es an jeder Gelegenheit dazu fehlt, das ist so zweifellos richtig, daß man sich ohne weiteres zu dieser Sekte wenden und ihr die Siegespalme reichen müsste. Die Sache ist nur deshalb so viel umstritten, weil die böse Welt, die es nun einmal liebt, das Strahlende zu schwärzen, und das Erhabene in den Schmutz zu ziehen, zwar den guten Willen der Sektengründer nicht bestreitet, aber doch nicht an den Sieg der selbstlosen Tugend glauben will, sondern annimmt, daß viele Menschen nur deshalb Mitglieder der Sekte geworden seien, weil sie weniger die Erlangung des Seelenheils als vielmehr die große Versuchung gereizt habe, ohne auch nur die Absicht zu haben, sich dieser Versuchung widersetzen zu wollen. Es hätte eben für die Leute nichts Anziehenderes gegeben, als nichts anzuziehen, besonders da, wo Mann und Weib, durch das enge Band der gleichen Sekte aneinandergekettet, in friedlicher Gemeinschaft hausten.

Diese Sekte nannte sich Adamiten. Sie entstand im zweiten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, und man darf wohl annehmen, daß der Gründer dieser Sekte, Prodicus, der ein Schüler des Carprocretes gewesen sein soll, wirklich einer der überspanntesten Menschen gewesen ist. Er war Gnostiker und ein Schwärmgeist, wie es vielleicht keinen zweiten gegeben hat. Daß er fest von der Güte seines Systems überzeugt war, daß dieses System theoretisch sich sehr glänzend verfechten läßt, ist wohl nicht zu bestreiten; aber wie die Theorie sich zur Praxis verhalten hat, das ist der wunde Punkt. Es steht nur fest, daß die Sekte wirklich ihre Versammlungen abhielt. Daß in jener Zeit keine Sittenpolizei bestand, die sich etwas energischer über diese Sekte hätte informieren können, daß das Heidentum, das ja damals noch die Macht in der Hand hatte, die Nacktheit sicherlich gar nicht beanstandet hat, da es selbst sittlich einen Tiefstand erreicht hatte, der nicht gut übertroffen werden konnte, das steht auch fest. Es müssen also doch wesentlich andere Gründe gewesen sein, die den Adamiten das Leben sauer machten und den langen Bestand der Sekte ausschlössen. Ich denke mir die Sache so, daß die Gründer der Sekte wirklich fromme und eifrige Fanatiker waren, daß aber die Mitglieder der schweren Versuchung nicht widerstanden, so daß man schließlich statt der erhofften äußersten Reinheit die äußerste Entsittlichung, statt der religiösen Andachten Orgien abhielt, so daß sich die Sittenfanatiker arg enttäuscht sehen und erkennen mußten, daß ihr schönes System ein verwünscht schlechtes System war, weil man eben etwas gefordert hatte, was vielleicht Engel zu erfüllen vermögen, während man den Fehler begangen hatte, den Versuch mit Menschen anzustellen. Es ist das übrigens für unsere modernen Nuditäts- und Schönheitsapostel ein äußerst lehrreiches Kapitel. Die Sekte der Adamiten ist jedenfalls an der Unzulänglichkeit des menschlichen Charakters gescheitert.

Die Sekte ging unter; aber sie wurde nicht vergessen, sondern sie erwachte nach mehr als tausend Jahren zu neuem Leben, noch dazu unter dem alten Namen. Der neue Stifter war ein Franzose namens Picard. Daß diese neue Sekte vielleicht dieselben Prinzipien als ihren Grundgedanken angab, nämlich die Bekämpfung der Fleischeslust durch die stärkste Versuchung, daß auch bei der neuen Sekte die völlige Nacktheit von Mann und Weib bei den gemeinschaftlichen Versammlungen kultiviert wurde, steht fest, ebenso allerdings auch, daß diese Zusammenkünfte die wüstesten Orgien waren, die sich denken lassen. Sie interessieren uns aber bei der Geschichte des orientalischen Lebens wenig oder gar nicht.

Es gab noch andere Sekten als die Sekte der Adamiten, die den großen Hang zu Nuditäten im alten orientalischen Liebesleben kennzeichnen. Ich will hier nur an die altgriechischen Feste des Dionyos erinnern, die sich weithin verbreiteten und auch im alten Rom als Bacchanalien im schlimmsten Rufe standen. Es ist, als werde eine Szene aus den Hexentänzen auf dem Blocksberge geschildert. Freilich, die Hexentänze bestanden in der Hauptsache nur in der Phantasie abergläubiger Menschen im Mittelalter, sind aber doch wohl eigentlich Erinnerungen an Wirkliches aus altheidnischer Vorzeit. Die Dionysien aber und Bacchanalien waren Wirklichkeit. Sie waren ein religiöser Brauch, der freilich menschlich, allzu menschlich entartete und gerade deshalb so recht ins orientalische Liebesleben hineinpasste.

Die Menschheit hat sich von jeher die Götter geschaffen, deren sie bedurfte. Das soll keine Satire sein. Das instinktive Empfinden, daß es höhere, unsichtbare Gewalten geben müsse, die den Lauf der Welt regeln und in die Geschicke der Menschen eingreifen, ist der Menschheit angeboren, ein sogenannter religiöser Sinn, der nicht erkünstelt und nicht die Frucht philosophischer Meditationen, sondern durchaus natürlich ist. Der Mensch, der als denkendes Wesen in die Welt gestellt ist, die rings um ihn grünt und blüht, die angefüllt ist von geheimnisvollen Rätseln, deren größtes, unergründliches der Mensch selbst ist, die überall ein geheimnisvolles Walten, verborgen schaffende Kräfte zeigt, mußte sich doch sagen, daß das alles nicht aus sich selbst entstanden sein könne, daß doch nicht blinder Zufall das ewige Werden und Vergehen zeitigen könne, und die geheimnisvolle Kraft in uns, die wir das Leben nennen, die kommt und! geht, ohne daß sich dafür eine plausible Erklärung finden ließe, die hätte auch dem denkenden Geiste schon sagen müssen, daß eine höhere Gewalt existieren müsse, die schöpferisch wirke, wieviel eher mußte sie auf den im Menschenherzen schlummernden religiösen Sinn wirken. Es ist kein Wunder, sondern etwas fast mit logischer Notwendigkeit sich Ergebendes, daß die Menschen sich die Welt mit unsichtbaren Geistern bevölkert dachten, von denen jeder eine bestimmte Verrichtung zu erfüllen habe. Es konnte ja gar nicht anders sein, als daß der naive Glaube, der dann allerdings schon die Frucht eingehenden Denkens war, sich gute und böse Geister vorstellen mußte, weil eben der naive Geist der Menschheit nicht zu begreifen vermochte, daß es nur ein einziger Geist sein könnte, der das Gute und zugleich das Böse tun sollte. Die Gottheit konnte sich nicht selbst bekämpfen, sie konnte nicht das Gute wollen und zugleich das Böse. Gutes aber allein gibt es nicht; es steht ihm eine gleiche Summe des Bösen gegenüber, je nach der Auffassung vielleicht auch eine größere. So schuf der grübelnde Geist sich gute Gottheiten und böse Dämonen, ein Grundgedanke, von dem ja auch unsere christliche Religion nicht frei geblieben ist. Daß mit der fortschreitenden Kultur sich auch die Götterlehre mehr und mehr entwickelte, daß man nicht bei den primitivsten Begriffen stehen bleiben konnte, sondern mehr und mehr die einfachen Verstellungen auszubauen und zu vervollkommnen suchte, das versteht sich von selbst. Selbst die Vorgänge des menschlichen Lebens, auch die des Liebeslebens, stellte man unter die Wirkung der Gottheiten. Gerade die Götter der Liebe fehlen nirgends bei den kultivierten Heiden, und daß man sich auch eine Gottheit der ehelichen Fruchtbarkeit vorstellte, ist durchaus natürlich, ebenso daß man solche Gottheiten besonders verehrte und ihnen Feste feierte. Tat man dies aber, dann war es eben nur natürlich, daß man Anspielungen auf das Wirken dieser Gottheiten nicht vermeiden konnte oder wollte. Es läßt sich schon daraus ermessen, wie diese Feste ausarten mußten bei Völkern, deren Sinnlichkeit ohnehin so hochgradig entwickelt war, daß der Sinnengenuss als das höchste Glück, die wesentlichste Frage des Menschenlebens galt. Bei den Medern, Lydern und Phrygiern galt die Cybele als Gottheit der Fruchtbarkeit; ihr war ein lebhafter Dienst gewidmet, und man darf wohl annehmen, daß die Dionysien, die wohl in Mazedonien und Thracien zuerst gefeiert wurden und sich dann über einen großen Teil des Orients verbreiteten, weil diese Feste den Orientalen ganz besonders zusagten, mit dem Cybeledienst verschmolzen wurden oder ganz in ihm aufgingen resp. ihnen ihren besonderen Charakter aufprägten.

Das erscheint ja freilich auf den ersten Blick widerspruchsvoll und ungereimt, da natürlich die Cybelegottheit etwas völlig anderes ist als Dionysos oder Bacchus; aber man darf eben solche Dinge nicht äußerlich nach dem bloßen Namen, sondern stets nur nach ihrem inneren Kern beurteilen. Im Grunde genommen kommt es immer darauf an, was gefeiert wird, oder mit anderen Worten, an was man in Wirklichkeit dachte, wenn man eine bestimmte Gottheit feierte. Da ist es dann nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß das intensive orientalische Liebesleben nichts so wichtig erscheinen ließ als den Zeugungsakt, daß man eben nur an diesen dachte, wenn man die entsprechenden Gottheiten verehrte, und daß das äußere Zeichen des Kults der Phallus war, d. h. die riesige Nachbildung des männlichen Sexualorgans. Mit diesem Symbol wurde ein gewaltiger Kult getrieben und zwar im ganzen Orient — ich will damit nicht etwa die übrige Welt ausschließen. — Von Indien bis Ägypten bestand dieser Kult, wenn er auch natürlich der Mythologie der betreffenden Länder angepasst wurde. So wurde dieses vergötterte Symbol auch bei den Dionysien stets dem Festzug vorangetragen; es fehlte niemals bei den heiteren Festen. Es fehlte aber auch in den übrigen Ländern nicht, soweit die orientalische Sinnlichkeit reichte. Dies Symbol erfreute sich eben in Wirklichkeit der wahnsinnigsten Verehrung, gleichviel ob das Fest eine Feier der Cybele, des Dionysos, Bacchus oder sonst einer Gottheit sein sollte. Es läßt sich ja nun wohl so ziemlich erraten, wie die Feste, die einem solchen Symbol galten, in Wirklichkeit ausfielen, besonders bei Völkern, die ja ohnehin von einer glühenden Sinnlichkeit beseelt waren. Es wurden stets Orgien gefeiert, die wohl noch erheblich schlimmer verliefen, als selbst die kühnste Phantasie es sich auszumalen vermag. Die Festteilnehmer gerieten in einen Zustand jener sexuellen Ekstase, die keine Grenzen kennt und fast nur noch in Ungewöhnlichem eine Art Befriedigung finden kann, und in der Regel sind die Weiber bei solchen Exzessen noch weit maßloser als die Männer.

Die Hauptstätten im alten Griechenland, an denen die wüstesten Dionysien gefeiert wurden, waren der Cithäron und der Parnaß, auf deren Gipfeln sich ein abscheuliches Treiben abspielte. Frauen und Mädchen mit aufgelösten Haaren, ihre Körper mit Fellen nur mangelhaft bedeckt, rasten dort ihre wilden Liebestänze. Die Gottheit war gewöhnlich „persönlich“ vertreten, d. h. ein Stier oder ein Bock war an Stelle des Gottes mitgeschleppt. (Auf dem Blocksberg war ja der zottige Bock, dem die Hexen den Hintern küssen mußten, als Satanas gedacht.) Das in sexueller Gier geradezu wahnsinnige Volk erwies der Gottheit oder seiner Vertretung allerdings eine recht zweifelhafte Verehrung; der Stier oder der Bock wurde bei lebendigem Leibe angebissen und in Stücke gerissen, und die Festgenossinnen verzehrten das noch warme und zuckende Fleisch in ihrer rasenden Wollust, als könne es dem bis über den siedenden Wahnsinn gesteigerten sexuellen Triebe eine Befriedigung gewähren, sich in dem noch heißen Blute zu berauschen, das rohe Fleisch hinunterzuwürgen. Das war das Kulturvolk der Griechen; ein klassischer Beweis dafür, wie wahnsinnige sexuelle Wollust und Grausamkeit in Wechselwirkung stehen. Daß als Opfer auch Menschen dienen mußten, mindestens in frühesten Zeiten — die Bacchusfeste waren mindestens schon 496 v. Chr. nach Rom eingebürgert worden, — daß diese Menschenopfer in dem wollüstig-grausamen Paroxismus ebenso zerrissen und gewissermaßen noch lebend verschlungen wurden, könnte die entsetzliche Exaltation der griechischen Damen fast noch entsetzlicher erscheinen lassen, wenn der Umstand, daß Mensch statt Vieh verzehrt wurde, überhaupt als eine Steigerung gelten dürfte.



Nimmt man diese Orgien der wollüstigen Grausamkeit, die im Blute wühlen mußte, um der rasenden sexuellen Gier etwas zu bieten, was wenigstens an eine Art sinnlicher Befriedigung erinnern konnte, freilich wohl nach dem Rezept, daß der Appetit mit dem Essen kommt, weil auch diese scheinbare Befriedigung die geile Wut eigentlich noch mehr steigerte, unten die kritische Lupe, dann erscheint auch die Erzählung der Judith in einem etwas anderen Lichte, worauf ich erst jetzt kurz eingehen will, da mir diese Erklärung nach dem inzwischen Gesagten plausibler erscheint als in Anknüpfung an die Judith-Historie direkt. Auch Judith war eine heißblütige Orientalin. Es wird ja so breit hervorgehoben, sie habe nach dem Tode Manasses keinen Mann mehr erwählt, daß ein Anhalt über ihr Liebesleben aus der Erzählung nicht gewonnen werden kann; mindestens wäre es eine völlig ungerechtfertigte, weil auf kein Moment zu stützende Vermutung, daß Judith die heiße sexuelle Leidenschaft ihres Volkes in irgend einer Weise befriedigt habe. Das aber ist gerade ein Moment, das doch eine kleine Seelenmalerei rechtfertigen kann. Judith hatte ja allerdings den Plan, Holofernes zu töten, um dadurch ihr Volk zu befreien.

Nun machte ihr Holofernes an dem verhängnisvollsten Tage seines Lebens ein Anerbieten, von dem Judith sagte, es ehre sie so, wie sie noch niemals, ihr ganzes Leben lang geehrt worden sei. Gewiß, das war eine arglistige Rede, die nur den Zweck haben sollte, Holofernes und seine Umgebung sicher zu machen; aber ob nicht doch in einem verborgenen Winkel ihrer Seele sich Gefühle regten, die wohl verständlich, bei einem schönen orientalischen Weibe von heißer, sprudelnder Leidenschaft sogar selbstverständlich sein mußten? Holofernes war ein gewaltiger Mann, stark und ein Riese, er war durchglüht von einem leidenschaftlichen Verlangen nach dem ebräischen Weibe. Das wußte Judith längst. Sie war mit ihm allein in der Kammer, die der Ort wollüstiger Liebesspiele werden sollte. Judith hatte andere Pläne; aber andere Pläne beseitigen nicht das sexuelle Verlangen; sie können wohl bewirken, daß es gewaltsam zurückgedrängt werde. Aber wie die Begierde die griechischen Weiber zwang, im Blute zu wühlen, so mag auch die heiße Leidenschaft Judith das Schwert in die Hand gedrängt haben; auch bei ihr mag die heiße sexuelle Begierde, die nicht befriedigt werden durfte, wenn nicht der Befreiungsplan scheitern sollte, sich bis zu dem wahnsinnigen Drange, im Blute des Mannes zu wühlen, sich an seinen Todeszuckungen zu weiden, gesteigert haben, so daß der furchtbare Mord, dessen doch eigentlich ein Weib, das so gerühmt wird wie Judith, unter normalen Verhältnissen kaum fähig gewesen wäre, durch die Leidenschaft geradezu gebieterisch gefordert wurde. Wir sind gewohnt, so etwas pervers zu nennen und von Sadismus usw. zu sprechen, und doch ist es psychologisch völlig erklärlich. Nicht der zu einer trostlosen Berühmtheit gelangte Marquis de Sade hat diese Perversität „erfunden“, noch viel weniger ist er der Erste, der sie geübt hat; das, was wir bei den alten Dionysien Griechenlands und bei ähnlichen „Festen“ des ganzen Orients und auch im alten Rom finden, ist doch eigentlich dieselbe Erscheinung, die aber dort nichts Krankhaftes hatte, sondern als das betrachtet wurde, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich die eruptive Entladung einer bis zum Äußersten gesteigerten sexuellen Erregung, einer Erregung, die weit bis über die Grenzen gesteigert ist, innerhalb deren eine Befriedigung auf natürlichem Wege möglich ist. Wir finden ähnliches im Tierreich durchaus nicht selten, ohne daß wir berechtigt wären, von einer Perversität zu sprechen oder an eine krankhafte Entartung zu denken. Schon die Kämpfe brünstiger Hirsche sollten uns die Augen öffnen, und der Umstand, daß es viele Insekten gibt, die die Befriedigung des sexuellen Triebes mit dem Leben zahlen und doch lieber auf dieses als auf die Befriedigung verzichten, bestätigt das Gesagte, ohne daß es nötig wäre, bis auf zoologische Auseinandersetzungen von meinem Thema abzuschweifen. Ich meine nur, die Judithgeschichte ist auch von diesem Standpunkte aus interessant und ein Meisterstück objektiver Erzählungskunst.

Doch nun zurück zu den Bacchanalien. Im alten Griechenland fanden die Dionysien, die übrigens keineswegs alle denselben Charakter trugen, sondern zum Teil auch seriös, traurig, wenn auch ebenfalls wild und leidenschaftlich waren, weil man sich den Gott teils dämonisch, teils als Sorgenbrecher vorstellte, den größten Anklang; es bildeten sich sogar besondere religiöse Vereinigungen, die als wesentlichsten Kult die Verehrung des vielseitigen Gottes übten und ihn teils in seiner heitern, teils in seiner dämonischen Bedeutung auffassten. Deshalb war auch der Kult, soweit wir über ihn ein ungetrübtes Urteil uns zu bilden vermögen, scheinbar voll von inneren Widersprüchen. Es wurde sogar Enthaltsamkeit verlangt, dem Fleischgenuss sollte entsagt werden, vielleicht in Rücksicht, daß der Gott eigentlich ein Gott der Früchte war, und es gab ziemlich scharfe Sühnervorschriften. Daneben aber wurde auch dem Gotte als Freudengott gehuldigt, und es gab trotz der fast asketischen Vorschriften auch die wüstesten Orgien. Geschlechtliche Ausschweifungen schlimmster Art gehörten eben auch zum Kult, und das Symbol war nicht umsonst der Phallus. Ich habe schon gesagt, daß der Kult scheinbar voller Widersprüche war; das ist in der Tat durchaus zutreffend, denn die Enthaltsamkeit, die auf der einen Seite gefordert wurde, widersprach keineswegs den sexuellen Ausschweifungen nach der Auffassung des orientalischen Altertums. Man hätte eine zölibatartige Enthaltsamkeit überhaupt nicht verstanden; bei der Verehrung des Gottes der Zeugungskraft wäre sie ja auch faktisch die blanke Unvernunft gewesen.

Ich möchte hier zunächst zum besseren Verständnis der damaligen Ansichten, die Mythologie des Priapos einflechten, der nach der griechischen Mythe der Sohn der Aphrodite und des Dionysos — nach anderer Lehre auch des Adonis oder Hermes — war, man war sich offenbar auch bei den Göttinnen über die Vaterschaft nicht immer völlig einig. Die in einem früheren Kapitel besprochene Methode, den Vater aus der Ähnlichkeit mit dem Kinde zu erraten, würde in diesem Falle kläglich Fiasko gemacht haben, denn Priapos sah weder seiner Mutter noch auch einem der genannten Väter auch nur entfernt ähnlich; er war vielmehr völlig aus der Art geschlagen und grundhässlich; selbst seine Gestalt erinnerte nicht nur nicht an die göttliche Abstammung, sondern Priapos war entschieden missgestaltet und einfach das, was man ein absolutes Scheusal zu nennen wohl berechtigt gewesen wäre. Nur in einem Punkte hatte ihn die Natur mit verschwenderischer Liebe ausgestattet. Die alten Bildwerke, die von ihm in großer Zahl existierten, meist Hermen, heben diesen Vorzug gebührend hervor; es war ihm ein über alle Begriffe entwickeltes Zeugungsorgan verliehen worden, so gewaltig, daß seine Mutter ihn von sich stieß und ihn als Missgeburt betrachtete. Nach der Mythe soll Priapos in Lampsakus eine Zuflucht gefunden haben, wo man ihn liebevoll duldete und vielleicht wegen seiner eigenartigen Körperbeschaffenheit bewunderte. Es wird nun weiter erzählt, und das ist für die reiche Phantasie, mit der der Orient alles ausstattete, was auf das Liebesleben Bezug hatte, sehr lehrreich und bezeichnend, daß Priapos verjagt worden sei, als er zum ganzen Manne heranreifte, weil alle Ehemänner auf ihn eifersüchtig gewesen seien. Die Damen in Lampsakus sind demnach etwas anderer Ansicht gewesen als die Göttin Aphrodite; ihnen hat besonders gefallen, was dieser so stark missfiel. Auch das Orakel soll dem jungen Priapos günstiger gewesen sein als die lampsakischen Ehemänner; es soll geraten haben, den Verbannten unverzüglich zurückzurufen, und da man sich damals den Orakelsprüchen noch unbedingt fügte, mochten sie auch noch so Unerwünschtes fordern, so beeilte man sich, den jungen Priapos eiligst zurückzurufen. Ob dieser nicht besonders „übelnehmisch“ veranlagt war, ob es ihm etwa bei den lampsakischen Damen besonders gut gefallen hat, oder ob er bloß dem Orakel ebenso gehorsam war wie die Ehemänner, die doch eigentlich eine viel größere Selbstüberwindung bewiesen, mag dahingestellt bleiben, die Mythe läßt sich auf psychologische Detailmalereien ja niemals ein, kurz und gut — Priapos kehrte zurück, und darüber herrschte allgemeiner Jubel; wieder wird nicht erzählt, ob mehr bei den Weibern oder auch bei den Männern, vielleicht bei beiden, denn Priapos wurde als Gott der Zeugungskraft verehrt, und auf Götter war damals auch ein Ehemann nicht eifersüchtig, mochte er sich den Gott auch noch so persönlich und in seinen Begierden und Handlungen noch so menschlich, allzumenschlich vorstellen, das war gleich. Auch Priapos war eben Gott, und demgegenüber verstummte die Eifersucht, mochte Priapos auch soviel berechtigten Grund zu dieser geben. Das hat er aber zweifellos getan, denn noch heute spricht man von Priapismus, der sich bei Neurasthenikern öfter findet, aber auch bei Rückenmarksleiden vorkommt und etwa dasselbe wie Satyriasis, also ein krankhaft gesteigerter sexueller Trieb ist.



Nach meiner Ansicht ist nichts bezeichnender für das damalige Liebesleben als die Mythe des Priapos und die bildlichen und poetischen Schilderungen dieses göttlichen Mannes. Bei den Bildwerken kam es hauptsächlich darauf an, einen übergroßen Phallus darzustellen, und wie die Herren Poeten diese Materie mit Eifer und Interesse aufgegriffen haben, beweist wohl am besten der Umstand, daß eine besondere Sammlung von Gedichten und Epigrammen auf Priapos herausgegeben werden konnte (1469), von der der Kulturforscher sehr viel lernen kann, wenn diese lateinischen Gedichte freilich auch in wörtlicher Übersetzung nicht wiedergegeben werden dürfen, mindestens nicht in unserer Zeit, die so prüde nach Handhaben sucht, an der die Herren Sittlichkeitsfexe beweisen können, daß sie den Schein über das Sein stellen, daß ihnen jedes Verständnis für den Wert kulturgeschichtlicher Forschung, sowie jedes Empfinden für das wirklich Sittliche fehlt, weil sie die Jagd nach einem etwa zweideutig erscheinenden Worte für Sittlichkeit halten. Daneben freilich begeistert man sich für die sexuelle Aufklärung der Kinder und geht dabei ungestraft so weit, daß man teilweise geradezu bemüht ist, die letzten Restchen eines durchaus notwendigen Schamgefühls mit rauer Hand auszurotten wie ekles Unkraut aus dem Blumengarten.

Piapos war und blieb eine verehrte Gottheit, mochte sein Bildwerk zeitweilig in Rom auch als — Vogelscheuche benutzt werden. Was an ihm so fesselnd war? Nichts als seine wie eine Missbildung erscheinende übermäßige Entwickelung des Phallus; er war die Gottheit der Zeugungskraft, also doch der wichtigste Faktor im Rate der Götter. Oft ist er freilich mit dem Dionysos oder Bacchus selbst identifiziert worden, und das ist wohl auch der Grund der Rolle, die er bei den Bacchanalien spielte; man huldigte eben in erster Linie dem Ressort, das er in der Mythologie zu vertreten hatte.

War es bei den Dionysien des alten Griechenlands, wie wir gesehen haben, über alle Begriffe wüst hergegangen, so waren die römischen Bacchanalien noch wilder und verrufener. Zunächst freilich erhitzten sich nur die Weiber bei diesen Festen, wohl ähnlich wie die Weiber Griechenlands. Später aber wurden die Feste dadurch, daß man auch Männer hinzuzog, noch schlimmere Orgien als die ursprünglichen griechischen Feste, die sich allerdings auch mit der Zeit sehr erhebliche menschliche Variationen gefallen lassen mußten. In Rom kam man sehr bald auf den Gedanken, daß die Bacchanalien weit weniger in den hellen Rahmen des Tageslichts hineinpassen wollten als in den mitleidsvollen Schleier der verschwiegenen Nächte. An den Ufern des Tiber kam man zusammen, nicht mehr wie einst dreimal im Jahre, sondern fünfmal in jedem Monat. So sehr verehrte man den — braven Bacchus oder vielmehr den von ihm repräsentierten Kult der Geschlechtsliebe. Männer und Weiber tobten geradezu in rasenden Tänzen, bei denen sie das Kostüm so wenig wie nur irgend möglich behinderte. Sie ergingen sich sogar in Weissagungen, trieben allerlei Hokuspokus, aber der Kern der Sache war und blieb die sexuelle Ausschweifung, der sich keiner und keine entziehen konnte. Schon die betäubende Raserei des Kults nahm die Sinne so gefangen, daß das sexuelle Moment wie eine Erlösung erschien, und wer etwa doch Bedenken trug, den letzten Schritt zu tun, den zwang man mit Gewalt. Es soll bei solchen Festen die Notzucht etwas Selbstverständliches gewesen sein, wer nicht wollte, der erlag der Gewalt. Das gehörte zum Kult und war bei einer Feier des Bacchus oder Priapos sozusagen das Amen in der Kirche. Daß man zu solchen Akten besonders die frische, kräftige und noch nicht verlebte Jugend heranzuziehen bestrebt war, kann nicht auffallen. Man suchte dies dadurch zu erreichen, daß man erklärte, es solle niemand mehr, der über 20 Jahre alt sei, in den Bund aufgenommen und in die Mysterien des Bacchuskults eingeweiht werden. Einmal eingeweiht, d. h. zu den Festen erschienen, konnte sich, wie schon gesagt, niemand den letzten Konsequenzen entziehen, da die schwerste Notzucht eben nichts war als ein erlaubter und sogar notwendiger Akt der Einweihung. Die Bacchanalien arteten immer mehr aus und wurden auch schließlich von der Obrigkeit etwas schärfer aufs Korn genommen.

Es war ja freilich weniger die entsetzliche Ausartung der Liebesexzesse, die den Staat so lebhaft interessierte als vielmehr die politische Gefährlichkeit der Bacchanalien. Die Eingeweihten beschränkten sich nämlich nicht darauf, bei den Festen die empörendsten Ausschweifungen als Sport zu betreiben, sondern sie schlossen förmlich Bündnisse, durch die sie sich auch außerhalb der Feiern Begehung schwerer Verbrechen verpflichteten. Besonders wurde die Vernichtung persönlicher und politischer Feinde betrieben. Die entsetzlichste Unsittlichkeit mußte eben die allgemeine Moral untergraben. Im Jahre 186 v. Chr. folgte deshalb ein schwerer Schlag gegen die Bacchantengesellschaft. Die Priester und Priesterinnen wurden verhaftet und streng bestraft; man verstand es bekanntlich im alten Rom sehr, die Strafen auf jede Weise zu würzen. Die Bacchanalien aber wurden verboten, und damit dieses Verbot auch die genügende Beachtung finden sollte, wurden für die Abhaltung weiterer Bacchanalien die schwersten Strafen angedroht.

Das hat sicher sehr heilsam gewirkt, aber doch keinen dauernden Erfolg gezeitigt, denn wenn es auch zunächst den Anhängern des Kults gewaltig in die Glieder gefahren war und die ihnen Lust zu einer öffentlichen Betätigung benommen hatte, so wurden doch heimlich Bacchanalien gefeiert, denn die Orgien hatten den Eingeweihten doch viel zu gut gefallen, als daß sie auf diesen schönsten Teil ihres Liebeslebens verzichten mochten. Bald wagte man es in verschiedenen Teilen Italiens auch wieder, sich etwas freier zu bewegen, und, wie es scheint, wurde das Verbot auch nicht allzu streng gehandhabt. Die Feiernden werden ja auch wohl so vorsichtig gewesen sein, sich wenigstens außerhalb der eigentlichen Feste nichts zu Schulden kommen zu lassen. Jedenfalls hat auch zu Rom selbst der alte Brauch sehr bald seine Auferstehung gefeiert, denn zur Kaiserzeit bestand er noch, und es ist dann auch dem Treiben kein so erhebliches Hindernis in den Weg gelegt worden.

Es läßt sich wohl nicht bestreiten, daß die Bacchanalien vielleicht das wichtigste und lehrreichste Stück altertümlich orientalischen Liebeslebens bilden. Ich darf getrost sagen, des orientalischen Altertums, denn nicht auf Griechenland und Rom blieben diese Feste schrankenloser Ausschweifungen beschränkt, sondern sie teilten sich dem ganzen Orient mit, und die Mythe berichtet ja auch vom Bacchus die seltsamsten Dinge, auf die ich aber nur soweit eingehen will, wie sie offenbar späteren Dichtungen entstammen. Es wird dem Bacchus da ein gewaltiger Siegeszug durch den Orient angedichtet. Durch Ägypten, Syrien und quer durch den asiatischen Orient bis tief ins Innere Indiens geht der Zug. Bacchus thront auf einem Wagen, der von Löwen oder Panthern gezogen wird. Eine große Schar wilder Männer und Frauen in den fantastischsten Kostümen, wie sie bei den Bacchanalien beliebt waren, Halbgötter usw. begleiteten den Gott, der überall über die rohen Sitten und die rohen Naturkräfte siegt und den Segen der Bachuskultur verbreitet, d. h. er lehrt die Kunst des Weinbaues und die Kunst des Lebens, also die Kunst, des Lebens Unverstand mit Würde und Vergnügen zu genießen. Er soll aber mit der Kunst des heiteren Lebensgenusses auch den Segen der griechischen Kultur gebracht haben in alle jene Länder, in denen roher Barbarismus herrschte. Roher Barbarismus wenigstens nach der Auffassung der Hellenen, deren Kultur sich ja auch in der Tat hoch über die der meisten orientalischen Länder erhob, mochten diese sonst auch ganz gewiß wenigstens zum großen Teile alles andere eher sein als kulturlos. Auf der Insel Naxos traf der Zug die schöne Ariadne, und der Gott, der so viel Verliebtheit protegiert hatte, dem zu Ehren so viele Liebesexesse gefeiert wurden, der fiel nun dort selbst der Liebe in die Hände, er heiratete die schöne Ariadne.

Das ist Dichtung und doch zugleich Wahrheit. Dichtung ist die persönliche Weltreise des Bacchus, Wahrheit ist aber, daß Bacchus die Welt bis ins tiefste Innere Indiens erobert hat. Die griechische Kultur, die er verbreitet hat, ist allerdings nicht gerade geeignet gewesen, die Völker zu veredeln, mehr vielleicht, sie zu beglücken, wenn man das als ein Glück bezeichnen will, was doch eigentlich nichts ist als ein Sinnentaumel, der zwar die Schale des augenblicklichen Vergnügens bis zum Überlaufen erfüllt, aber dann auch umso sicherer die Depression folgen läßt. Nun ist allerdings für das orientalische Altertum die sittliche Gefährdung durch die Einführung des Bacchuskults ganz gewiß so gering gewesen, daß sie als solche überhaupt nicht erwähnt werden darf, denn alles das, was nach unseren heutigen Moralanschauungen, die allerdings alles andere eher als logisch sind, als unsittlich zu gelten hat, war so stark kultiviert, daß selbst die griechischen und römischen Bacchanalien höchstens noch als eine Verfeinerung der Sitten hätten gelten können. Davon kann kaum ein Volk ausgenommen werden, wenn auch nicht zu bestreiten ist, daß der sittliche Wert des Liebeslebens doch bei den verschiedenen Völkern nicht völlig der gleiche war. Aber selbst das streng religiöse Judentum mit seinem Glauben an einen einzigen persönlichen Gott, der als der Gesetzgeber galt, weil von ihm alle die weltlichen, religiösen und moralischen Gebote direkt herrühren sollten, war sittlich doch von Ansichten beherrscht, die wir sicher nicht mehr für sittlich halten würden, und was sonst noch über diese offiziellen Sittlichkeitslehren hinaus getrieben wurde, das ist erst recht geeignet, auch da mit dem allgemeinen Maße zu messen. Schon Tacitus nannte die Juden „Gens ad libidinem projectissima“. Das ist doch mindestens ein Beweis dafür, daß in den Augen der Römer, die selbst wahrlich nicht den Vorwurf verdienten, allzu sehr die Keuschheit als das erstrebenswerteste Ziel zu betrachten, die Juden als übertrieben sinnlich galten. Tacitus hat bekanntlich in der Unsittlichkeit seiner Landsleute eine große Gefahr gesehen, er hat in tendenziöser Weise die Germanen in der lichten Farbe der Unschuld, die Römer als moralisch schwarz gemalt, um ihnen den Spiegel vor Augen zu halten und sie zur Umkehr zu ermahnen. Wenn ein solcher Mann die Juden als das sinnlichste Volk schilderte, so darf man wohl annehmen, daß deren Sittlichkeit nicht allzu kräftig war. Und dennoch durften die Juden mit dem Gefühl des Zöllners auf die übrigen Völker des Orients blicken und Gott danken, daß sie nicht waren wie jene.



Der Unterschied ergibt sich aus der Verschiedenheit der religiösen Ansichten. Wie sehr der Götzendienst — nicht bloß die Verehrung des Bacchus — die orientalischen Heiden zur Unsittlichkeit geradezu veranlaßte, darauf werde ich noch gelegentlich zurückkommen.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Liebesleben im Orient