Die Jungfräulichkeit

Die Jungfräulichkeit.

Daß es für die Frage des Liebeslebens eines Volkes von eminenter Bedeutung ist, festzustellen, wie die Jungfräulichkeit im Allgemeinen bewertet wird — der Einzelne mag dabei stets seine abweichende Ansicht vertreten — versteht sich ganz von selbst. Nun habe ich es aber nicht mit dem Liebesleben eines Volkes zu tun, sondern einer großen Anzahl von Völkern, wenn ich das orientalische Liebesleben besprechen will. Die Ansichten über den Wert der Jungfräulichkeit werden nicht allein durch Landessitten, sondern auch durch religiöse Lehren und durch die allgemeine Stellung und Bewertung der Frauen stark beeinflusst. Ich glaube, daß es kaum ein orientalisches Land gibt, das so klar und deutlich die wechselnde Stellung einer orientalischen Frau zeigen kann, wie Japan.




Dort galten im hohen Altertum die Frauen außerordentlich viel, d. h. sie hatten dieselbe Stellung wie der Mann und denselben Wert, allerdings wohl auch dieselben Pflichten; sie beteiligten sich sogar an den Kämpfen, fochten Seite an Seite mit ihren Männern und waren sogar wegen ihrer großen Tapferkeit im Kriege sehr geschätzt. Es wird den japanischen Frauen des Altertums nachgerühmt, daß sie geistig und physisch den Männern in keiner Weise nachgestanden hätten. Sie waren auch von der Herrschaft nicht ausgeschlossen, und spielten im geistigen Leben dieselbe Rolle wie die Männer. Das war für die Frauen jedenfalls ein idealer Zustand; er war aber nicht von Dauer, sondern änderte sich schnell, nachdem die fremden Religionen Buddhismus und Konfuzionismus ihren Einzug gehalten hatten. Wie es scheint, haben die japanischen Frauen selbst ihre Stellung untergraben; denn drei Frauen waren es, die man zur Erforschung jener Religionen ins Ausland sendete. Selbst die Namen dieses weiblichen Dreigestirnes sind der Nachwelt erhalten: Jenshini, Jenzoni und Keigeni. Die japanischen Frauen, nicht bloß die drei Entsendeten, haben für die Einführung der fremden Religionen, gegen die sich die Männer ziemlich ablehnend, mindestens sehr gleichgiltig verhielten, mit Erfolg ihren Einfluß geltend gemacht, und entweder ist es wahr, daß die weibliche Logik nicht viel wert ist, oder daß dem Weibe die klare Einsicht und Erkenntnis des Mannes fehlt, oder die japanischen Frauen haben ihre Macht überschätzt, denn den Einfluß jener Religion auf die Stellung der Frau haben sie sicherlich nicht ins Bereich ihrer Berechnungen gezogen. Sonst würden sie sich nicht um die Einführung der fremden Religionen bemüht haben. Nachdem Japan nämlich diese Religionen akzeptiert hatte, war es mit der Herrlichkeit der Frauen sehr bald vorbei; die Japanerin sank auf das Nichts herab, das die chinesischen Frauen und die Frauen der meisten orientalischen Länder für das öffentliche Leben waren und zum großen Teile noch heute sind. Besonders unter der Tokugawa-Regierung vollzog sich ein Wandel, den der unbeteiligte Beobachter überhaupt nicht für möglich halten kann. Die Frauen, die im Krieg und Frieden vollwertige und gleichberechtigte Genossinnen der Männer gewesen waren, wurden vollständig unterdrückt; sie hatten kaum noch das Recht, das Haus zu verlassen, und waren, solange sie lebten, zum Gehorsam verpflichtet. Selbst die Ehe änderte wohl an den Personen der Gebietenden, nicht aber am Gehorsam selbst etwas. Als Mädchen waren die Japanerinnen den Eltern unbedingten Gehorsam schuldig, als Gattinnen dem Manne und als Matrone — den Kindern. Es war also eine außerordentlich untergeordnete Stellung, die die bisher so hochstehende Frau zuerteilt erhielt. Dieses Verhältnis hat sich erst geändert, als Japan dem Einfluß der westlichen Kultur sich unterwarf. Das ist aber eine Epoche, die zunächst für unsere Betrachtungen nicht von irgendwelcher Bedeutung sein kann.

Aus diesen japanischen Verhältnissen ergibt sich evident, welche Rolle die religiöse Ansicht auf die Stellung der Frau auszuüben vermag. Das gestattet aber auch Rückschlüsse auf andere Länder, die erst später den Buddhismus usw. annahmen. Ich möchte auf das alte Babylon hinweisen, das sicherlich den Frauen eine Stellung zuerkannte, die sich nicht allzu sehr von der des japanischen Altertums unterschied. Wir haben nun aber gesehen, daß im alten Babylon die Jungfräulichkeit nicht als das kostbarste Gut betrachtet wurde, das die Frau dem Manne mit in die Ehe brachte, sondern daß die Jungfräulichkeit im Tempel der unersättlichen Gottheit geopfert wurde. Vielleicht ist daraus der Schluß zu ziehen, daß die Männer keinen großen Wert auf die völlige Unberührtheit ihrer Gattinnen legten, sicher aber ist das noch kein Grund zu der Annahme, die Jungfräulichkeit sei an und für sich als etwas Wertloses betrachtet worden. Wertloses pflegt man nicht den Göttern zum Opfer zu bringen; aber die religiöse Prostitution läßt auch, wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben, eine andere Deutung zu; sie kann auch das Symptom eines starken sittlichen Verfalls sein, und das Opfer ist dann eben nicht viel mehr als eine Unsittlichkeit, der man sich zwar bewußt ist, die man aber durch ein religiöses Mäntelchen dekoriert und dann als ein Opfer einer frommen Seele paradieren läßt. Das ist wenigstens der wahre Kern, denn etwas anders liegt die Sache doch. Es ist psychologisch schon längst eine gewisse Wechselbeziehung zwischen Religion und Erotismus nachgewiesen. Es kommt nun allerdings auf den sittlichen Wert und die sittliche Auffassung an, ob diese Wechselbeziehung zu einem unsittlichen Kult ausartet, oder ob sie gar zur Askese führt. Ich möchte aber sagen, in dem einen wie in dem andern Falle ist der Zusammenhang nachgewiesen. Daß beim unsittlichen Kult, wie wir ihn bei den Dionysien und überall da finden, wo man von einer religiösen Prostitution zu reden berechtigt ist, auch die geile Lüsternheit sich breit macht, daß von vielen Personen der religiöse Kult nur benutzt wird, um die lüsternen Begierden zu befriedigen, daß sogar eine verkommene Priesterschaft, die überhaupt nicht religiös dachte, oder doch wenigstens den eigenen Vorteil anbetete, den Kult nur deshalb förderte und begünstigte, weil er ihren persönlichen Begierden Rechnung trug, das ändert an der Sache nicht das Mindeste.

Wenn man das alles erwägt, wenn man weiter bedenkt, daß den Orientalen der sexuelle Genuß das wesentlichste Bedürfnis war, daß es ihnen nicht einmal so sehr darauf ankam, mit wem sie ihn befriedigten, dann sollte man wohl zu der Überzeugung kommen müssen, daß ihnen die Jungfräulichkeit keineswegs eine besonders schätzenswerte Eigenschaft eines Weibes gewesen sein könne. Das trifft aber gleichwohl nur auf einige Völker zu.

Wir finden auch hier wieder im mosaischen Rechte äußerst wertvolle Fingerzeige. Es ist da der Beweis geliefert, daß mindestens nicht alle Völker gering über die Jungfräulichkeit dachten. Die Stelle des mosaischen Rechtes, auf die ich hier Bezug nehme, ist so interessant, daß ich sie wörtlich wiedergebe. Sie findet sich 5. Mose 22, 13—21: „Wenn jemand ein Weib nimmt, und wird ihr gram, wenn er zu ihr gegangen ist, und legt ihr was Schändliches auf, und bringet ein bös Geschrei über sie aus und spricht: Das Weib hab ich genommen, und da ich mich zu ihr tat, fand ich sie nicht Jungfrau. So sollen der Vater und Mutter der Dirne sie nehmen, und vor die Ältesten der Stadt in dem Thore hervorbringen der Dirne Jungfrauschaft. Und der Dirne Vater soll zu den Ältesten sagen: Ich habe diesem Manne meine Tochter zum Weibe gegeben, nun ist er ihr gram geworden. Und legt ein schändlich Ding auf sie, und spricht: Ich habe deine Tochter nicht Jungfrau gefunden; hier ist die Jungfrauschaft meiner Tochter. Und sollen das Kleid vor den Ältesten der Stadt ausbreiten. So sollen die Ältesten der Stadt den Mann nehmen, und züchtigen, und um hundert Silberlinge büßen, und dieselben der Dirne Vater geben, darum, daß er eine Jungfrau in Israel berüchtiget hat; und soll sie zum Weibe haben, daß er sie sein Lebtag nicht lassen möge. Ist's aber die Wahrheit, daß die Dirne nicht ist Jungfrau gefunden, so soll man sie heraus vor die Thür ihres Vaters Hauses führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen, darum daß sie eine Thorheit in Israel begangen, und in ihres Vaters Hause gehuret hat; und sollst das Böse von dir thun.“



Es mag ja auf den ersten Blick so aussehen, als sei diese Stelle keineswegs so außerordentlich interessant, wie ich sie in Aussicht gestellt habe; bei einer genaueren Zergliederung aber enthält sie ein ganzes Stück Kultur- und Rechtsgeschichte des alten mosaischen Volkes. Ich werde sie deshalb genauer besprechen und hoffe, damit die Geduld meiner sehr geehrten Leser nicht zu ermüden, wenn ich auch Dinge zur Sprache bringe, die, streng genommen, nicht in den Rahmen dieses Kapitels gehören. Zunächst verdient schon die Stelle Beachtung, an der gesagt ist, daß der Mann, der seiner Frau nachsage, er habe sie in der Brautnacht nicht als Jungfrau befunden, ihr damit etwas Schändliches auflege. Das allein schon würde beweisen, daß bei den alten Juden die Jungfräulichkeit nicht nur genügend geschätzt wurde, sondern das man sie geradezu für ein unbedingtes Erfordernis hielt, so daß ein Mädchen, das nicht die Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahrt hatte, überhaupt keinen Anspruch mehr darauf hatte, als Frau geachtet und anerkannt zu werden. Das ist eine Anschauung, die nicht einmal heutigen Tages in dieser Reinheit Geltung hat, wenn man auch nach außen hin so tut, als sei eine andere Ansicht überhaupt nicht vorstellbar.

Nun hatte der Vater das Recht oder eigentlich die Pflicht, den Mann, der seine Tochter so hart beschimpft hatte, zur Verantwortung zu ziehen. Er mußte dies aus zwei Gründen tun: einmal durfte die Schmach nicht einer Unschuldigen angetan werden, und zweitens mußte auch festgestellt werden, ob der Schimpf etwa nicht doch zu Recht erfolgt war, denn in diesem Falle mußte die junge Frau ihre Schuld furchtbar büßen, da das Böse von Israel getan werden sollte. Der Vater der Beschimpften sollte diese vor die Ältesten der Stadt „in dem Thore“ bringen. Das heißt, er sollte sie vor das Gericht führen, denn die Ältesten bildeten das Gericht, das in dem Tore der Stadt tagte, um anzudeuten, daß das Recht öffentlich ohne Winkelzüge, keinem zu Liebe und keinem zu Leide gehandhabt wurde. Im Tore tagte das Gericht auch, damit jeder Bürger, komme er aus der Stadt, wolle er in die Stadt, sein Recht sicher finden könne; die Ältesten mußten Jeden hören, und Jedem sein Recht sprechen; das wurde nicht abhängig gemacht von Vorschusszahlungen auf die Gerichtskosten oder sonst einem Hokuspokus. Das Recht war frei, es mußte frei sein, weil sich ihm jeder, gleichviel ob arm oder reich, unterwerfen mußte, weil jeder, gleichviel ob hoch oder gering, sein Recht fordern durfte. Das war also auf alle Fälle eine köstliche Zeit.

Nur mußte der Beweis in einer eigenartigen Weise geführt werden, die, wie ich später zeigen werde, heute noch bei verschiedenen orientalischen Völkern Geltung hat; die Eltern mußten das Kleid der Tochter vor den Ältesten der Stadt ausbreiten. Das ist eine Beweisführung, für die unserer Zeit das Verständnis abhanden gekommen ist, vielleicht weil unsere Zeit diese Probe auch nicht mehr vertragen könnte. Das Kleid, das die Dirne in der Brautnacht getragen hatte, mußte frische Blutspuren aufweisen, wenn die Jungfräulichkeit wirklich vorhanden gewesen wäre, denn man nahm an, daß der erste sexuelle Verkehr, bei dem das Hymen verletzt wurde, ohne Blutverlust nicht denkbar sei. Daß, wenn die frische Blutspur in dem Gewand vorhanden war, die Jungfräulichkeit bewiesen war, das konnte also keinem Zweifel unterliegen, fehlte die Blutspur, dann hielt man die Behauptung des jungen Ehemanns für bewiesen. Das war etwas summarisch gedacht, wohl auch nicht in allen Fällen nach den heutigen Erfahrungen berechtigt; aber im allgemeinen war diese Beweisführung doch ziemlich zuverlässig. Die Beleidigung wurde also auch etwas anders behandelt als heute, wo an den Klippen der „nicht erweislich wahren Tatsache“ mancher Ehrenmann zum Vorteil eines Schurken Schiffbruch erleidet. Nun aber die Strafe. Hatte der Beleidiger gelogen, in diesem Falle also wissentlich die Unwahrheit behauptet — denn er konnte sich ja sehr leicht überzeugen, ob er der Frau recht oder unrecht tat —, dann wurde er in eine Strafe von 100 Silberlingen genommen, das war eine sehr harte und empfindliche, aber auch eine sehr wohlverdiente Strafe. Hatte er aber die Wahrheit gesagt, dann wurde die junge Frau gesteinigt, also mit einer sehr schweren Todesstrafe belegt. Auch das war berechtigt, denn die Strafe dessen, der jemanden einer Tat beschuldigt, kann doch nicht schwerer sein als die Strafe dessen sein würde, der die behauptete Tat wirklich begangen hat. Leider ist das nach unserem heutigen geltenden Rechte ebenfalls gerade umgekehrt. Das ist stets da, wo die behauptete Handlung zwar die Ehre des sie Begehenden befleckt, gesetzlich aber nicht strafbar ist, selbstverständlich, weil doch sonst der Beleidiger überhaupt nicht zur Verantwortung gezogen werden könnte; aber da, wo etwa ein Ehebruch behauptet wird, ist für diesen das Strafmaß 6 Wochen Gefängnis, für den Beleidiger aber 2 Jahre Gefängnis. Daß die Strafsumme dem Vater der Beleidigten ausgehändigt wurde, läßt ebenfalls den Grundgedanken, daß dem Beleidigten die Genugtuung und Entschädigung zufließen muß, reiner zum Ausdruck gelangen als dies nach heutigem Rechte die Strafe tut, die, wenn sie Geldstrafe ist, der Fiskus erhält, und wenn es eine Freiheitsstrafe ist, den Beleidigten auch nicht entschädigt. Es ist also wirklich an jener unscheinbaren Stelle doch eine reiche Fülle des Interessanten und Lehrreichen geboten.

Ich habe gesagt, daß der eigenartige Beweis der vorhanden gewesenen Jungfräulichkeit bei einigen Völkern des Orients auch heute noch seine Geltung behalten hat. Das ist Tatsache, wenn dieser Beweis auch nicht gerade in Verleumdungsprozessen geführt wird. Bei verschiedenen arabischen Stämmen ist es noch jetzt Brauch, daß nach der Brautnacht das Gewand der jungen Frau feierlich und mit großem Jubel durch den ganzen Ort getragen wird. Das geschieht lediglich deshalb, damit männiglich sich überzeugen kann, daß die Ehe wirklich geschlossen und genossen worden ist. Beweis bilden die Blutspuren im Gewand der Frau. Diese beweisen zweierlei: erstens dass der Mann seine eheliche Pflicht getreulich erfüllt hat, zweitens daß die Frau noch im Besitz der Jungfräulichkeit gewesen ist, als sie die Ehe schloß. Es mag sein, daß sich nicht jeder über den Brauch dieser sonderbaren Sitte völlig klar ist; daß aber das Fehlen der obligatorischen Blutflecken eine furchtbare Entrüstung hervorrufen würde, ist klar. Auch das beweist, dass die Jungfräulichkeit durchaus Erfordernis ist. Für unsern Geschmack ist es sicherlich eine Ungeheuerlichkeit, die intimsten Dinge des Familienlebens derartig zur Schau zu stellen, aber wenn man von der traditionellen Moralanschauung absieht, die Dinge natürlich auffasst und mehr dem Sein als dem Schein Gewicht beilegt, wird man es den arabischen Stämmen nicht verargen dürfen, wenn sie das Seumesche Wort aussprechen: „Seht, wir Wilde sind doch bessere Menschen.“ Es ist nicht unmoralisch, wenn man das, was so selbstverständlich ist wie die Tatsache, daß dem Tage die Nacht zu folgen pflegt, auch als eine Selbstverständlichkeit öffentlich anerkennt und ausspricht. Dazu kommt, wie dies übrigens auch die oben zitierte Stelle des mosaischen Rechtes zum Ausdruck bringt, daß die Ehe erst durch das Beiliegen als wirklich vollzogen gilt, wie dies ja auch nach altem germanischen Rechte der Fall war, daß also ein Ehepaar, das als solches besondere Rechte und Achtung verlangte, gewissermaßen den Nachweis zu führen hatte, es sei nun wirklich ein Ehepaar geworden. Nimmt man das alles als die Grundgedanken der Ehe an, dann versteht es sich beinahe von selbst, daß die anscheinende Unmoralität der arabischen Stämme in Wirklichkeit weit über „Europas übertünchte Höflichkeit“, über unsere wurmstichige und innen hohle Moral emporragt. Man wird zu dieser Ansicht umsomehr gelangen müssen, wenn man erwägt, daß durch das uns so sonderbar und abstoßende Verfahren zugleich festgestellt wird, daß in der Tat die Eheschließenden, insbesondere die junge Frau auch nicht der mindeste sittliche Einwand treffen kann, daß vielmehr die Frau für alle Zeiten gegen den etwaigen Vorwurf, sie sei vor ihrer Ehe schon defloriert worden, geschützt ist. Wie stellt sich dagegen der schon einmal erwähnte Ausspruch eines Berliner Geistlichen, daß bei uns keine Braut als Jungfrau in das Ehebett steige? Wie stellt sich dazu die Tatsache, daß auch die Frau, die das verwerflichste Vorleben vor ihrer Verheiratung geführt hat, doch in der Regel jeden, der ihr einen solchen Vorwurf macht, wegen Beleidigung bestrafen und in einer großen Anzahl von Fällen ihn hinter Schloß und Riegel abführen lassen kann, weil der Beleidiger zwar von der vollen Wahrheit seiner Behauptung mit Recht überzeugt war, sie aber nicht klipp und klar zu beweisen vermochte? Die Bestrafung eines solchen Menschen ist vom Standpunkte der Gerechtigkeitsliebe mindestens ebenso tief bedauerlich wie die doch ebenfalls nicht seltene Erscheinung, daß ein wirklich zu Unrecht Beleidigter keine Genugtuung erhalten kann. Unser Recht macht beide Fehler nicht nur möglich, sondern auch unvermeidlich. Ich möchte damit nun freilich nicht etwa gesagt haben, daß wir jene arabische Sitte auch bei uns einführen sollten, denn sie läßt sich absolut nicht in unsere Anschauungen einfügen; ich meine aber, man soll nicht über einen Brauch, den man nicht versteht, einfach hohnvoll lächeln, sondern ernstlich prüfen, ob er nicht doch ganz gerechtfertigt sein kann, ob er nicht vielleicht gar noch Vorzüge aufzuweisen hat, die sich bei einer ganz objektiven Prüfung von selbst ergeben.



Nun haben wir aber schon früher gesehen, daß bei verschiedenen Völkern die Jungfräulichkeit nicht nur nicht als eine notwendige Voraussetzung betrachtet wurde, sondern daß es sogar Vorschrift war, die Braut vor der Hochzeit durch andere Personen deflorieren zu lassen, damit die „lästige Eigenschaft“ des tugendhaften Weibes beseitigt würde. Das mag seinen Grund in sanitären oder rein ästhetischen Ideen gehabt haben. Die arabischen Volksstämme, die stolz das blutbefleckte Hochzeitsgewand durch die Straßen tragen ließen, gewissermaßen als „corpus delicti“, das einmal die Tugend der Braut und ferner die Potenz des Bräutigams beweisen mußte, haben jedenfalls vor dem Blute, von dem Goethe seinen Faust sagen läßt, daß es ein ganz besonderer Saft sei, keine Aversion gehabt. Daß andere Volksstämme darüber anders gedacht haben oder noch denken, das ist an sich keineswegs ausgeschlossen, sondern viel eher wahrscheinlich. Wir wissen, daß sehr pervers veranlagte Menschen es lieben, die Freuden der Liebe durch Blutopfer zu erobern, d. h. daß sie sich ohne ein blutendes Opfer keinen rechten Genuß zu denken vermögen, daß sie deshalb für ihre Liebesakte Weiber nahmen, die vor normal veranlagten Männern gerade zu derselben Zeit völlig sicher sind. Ich möchte sagen, es ist normaler, kein Blut zu wünschen, und das mag die Ursache sein, daß vielleicht einzelne Völkerstämme diese Abneigung vor dem Blute so weit treiben, daß sie selbst in der Hochzeitsnacht lieber auf die Jungfräulichkeit Verzicht leisten, als daß sie diese Blutabneigung überwinden. Auch aus rein hygienischen Rücksichten rechtfertigt sich diese Abneigung besonders im Orient, und selbst in der mosaischen — man darf wohl sagen — Gesetzgebung finden wir sehr eingehend geschildert, daß im Zustand des Blutflusses das Weib als unrein zu gelten habe. Das war, wie gesagt, aus rein hygienischen Gründen durchaus berechtigt und konnte deshalb — was bei den Juden allerdings nicht ohne Entstellung angenommen werden darf — sehr wohl auf die Defloration ausgedehnt werden. Mindestens wird man das ohne weiteres überall da annehmen dürfen, wo die Defloration den Knechten überlassen wurde. Daß dies bei verschiedenen Völkern durchaus Brauch gewesen sei, das wird von alten Schriftstellern und besonders von Reiseschriftstellern mit solcher Entschiedenheit behauptet, daß es doch wohl nicht berechtigt erscheinen kann, diese Behauptung ohne ausreichenden Beweis für ein Märchen zu erklären. Mindestens wird man nicht sagen dürfen, daß die Sitte — man könnte besser sagen Unsitte —, die Bräute vor der Hochzeit durch dritte Personen deflorieren zu lassen, nicht bestanden habe. Sie war zum Teil ein Vorrecht der Herrscher und Gebieter, wurde sie aber als Vorrecht geduldet, dann war die Defloration durch Dritte mindestens Gewohnheitsrecht, und war es das, dann wäre damit wieder bewiesen, daß die Jungfräulichkeit nicht erstes Erfordernis für die Braut war. In Cypern war sie es so wenig, daß man es durchaus für richtig hielt, die Mädchen sich ihre Aussteuer erst durch Prostitution verdienen zu lassen, ehe man sie als Gattinnen heimführte. Das kennzeichnet freilich ein so absolutes Freisein von Eifersucht und — Vorurteil, daß man wohl darüber staunen darf.

Anders dachten die Völker von „Goa“ über diesen Punkt, wenn man alten Schriftstellern trauen darf; sie wollten auch die Bräute defloriert haben, da sie die Defloration für etwas Schändliches, Unanständiges und Unwürdiges hielten; aber sie waren doch nicht so vorurteilslos und auch nicht frei von Eifersucht, daß sie sich hätten überwinden können, diese unwürdige Aufgabe durch eine andere Person lösen zu lassen. Wohl defloriert, aber nicht kohabitiert wünschten sie die Braut. Sie wußten sich zu helfen und brachten dem Gotte der Liebe das Opfer der Jungfräulichkeit auf eine ganz ungefährliche und sicherlich auch die Familienheiligkeit nicht antastende Methode. Der Gott durfte sich nämlich nicht, wie dies anderwärts bei solchen Gelegenheiten Usus war, durch seine Priester bei der Annahme dieses Opfers vertreten lassen, sondern er war nur persönlich zum Empfange berechtigt. Da nun aber der Gott in Wirklichkeit nichts war als ein Gebilde von Menschenhand, und zwar ein Gebilde, das für die Defloration ganz besonders eingerichtet war, so war die Sache wirklich ohne jede Eifersuchtsanwandlung des Gatten zu ertragen. Das einzige Bedenken, wenigstens nach dem Geschmacke und den Moralanschauungen des Abendländers war bei dieser Sache der Umstand, daß diese Defloration mit einer großen Feierlichkeit verbunden war. In feierlichem Zuge wurde die Braut durch den Ort geleitet, bis der Zug zu dem Götzenbilde kam. Dort aber erfolgte die Prozedur in vollster Öffentlichkeit. Da dies nun einmal Landessitte war, konnte es nicht die Sittlichkeit verletzen, und man ist niemals auf den genialen Gedanken verfallen, daß etwas das Schamgefühl verletzen könne, ohne unsittlich zu sein. Es ist damit eigentlich der dritte Typ gekennzeichnet. Wir finden demnach: 1. Völker, bei denen die Jungfräulichkeit einer Braut unerlässliche Bedingung war, so daß, falls sich herausstellte, daß diese Bedingung nicht erfüllt war, die Ehe als nichtig galt, oder daß sogar die Braut der Todesstrafe verfiel; 2. Völker, bei denen die Jungfräulichkeit der Braut beseitigt werden mußte, ehe die Hochzeit stattfand. Es war dabei Vorschrift, daß der sexuelle Akt mit einem andern Manne wirklich vollzogen sein mußte, ehe der Bräutigam ihn vollzog. Die Jungfräulichkeit wurde also nur als ein Hindernis betrachtet, das nicht mehr vorhanden sein durfte, wenn der Gatte das Beilager hielt. Es kommt dabei nicht darauf an, durch wen, ob durch Priester, Herren oder Knechte die Defloration vollzogen wurde. Und 3. finden wir Völker, bei denen die Braut noch Jungfrau sein mußte, nicht aber die physiologischen Symptome der Jungfräulichkeit besitzen durfte, so daß tatsächlich trotz der Defloration die Braut noch Jungfrau blieb, weil die Defloration auf rein mechanischem Wege wie durch eine Operation erfolgte. Die Jungfräulichkeit war aber an sich ebenfalls Bedingung, und die Operation erfolgte öffentlich, doch jedenfalls auch nur deshalb, damit, ähnlich wie bei den arabischen Völkern der Beweis der geschlechtlichen Unbescholtenheit noch vor der Eheschließung erbracht werden konnte.

Anders lag die Sache wohl in den Harems. Ich bin der Ansicht, daß zwar auch dort im allgemeinen Wert darauf gelegt wurde, die Jungfräulichkeit einer Braut zu besitzen. Daß aber alle Insassinnen des Harems etwa als Jungfrauen hätten aufgenommen werden können, das ist wohl völlig ausgeschlossen und wird auch wohl niemals verlangt worden sein. War es doch üblich, Frauen und Jungfrauen besiegter Völker als willkommene Beute abzuführen und sie in die Harems aufzunehmen oder sie sonst den Siegern zu überlassen. Daß dabei die entsetzlichsten Gräueltaten begangen wurden, das haben wir schon in früheren Kapiteln gesehen.



Wenn man nun erwägt, wie verschieden die Ansichten schon bei der Bewertung der Jungfräulichkeit waren, dann kann man sich ungefähr eine Vorstellung von der Vielgestaltigkeit des orientalischen Liebeslebens machen. Es gibt in der Tat kaum eine Übereinstimmung. Das kann aber auch im Orient bei der großen Menge verschiedener Volksstämme durchaus nicht auffallen, wenn man bedenkt, daß nicht, wie bei uns, eine bestimmte Kultur die einzelnen Völker so weit eint, daß ihre Sittenansichten, mögen die Formen, unter denen sich das Liebesleben abspielt, auch noch so vielgestaltig sein, doch in der Hauptsache völlig übereinstimmen. Im Orient ist das anders; da gibt es noch Kulturperioden, die kaum über die Landesgrenze sich ausdehnen, und die im Nachbarland schon völlig andern Ansichten begegnen, als sei die berühmte chinesische Mauer um das Gebiet eines jeden Volksstammes gezogen. Viel hat sich hierin allerdings im Laufe der Zeit schon geändert; aber gleichwohl finden wir bis auf den heutigen Tag noch die größten Verschiedenheiten, die zum großen Teil auch schon in den verschiedenen religiösen Bekenntnissen ihren Grund haben.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Liebesleben im Orient