Einleitung

Das sechzehnte Jahrhundert unsrer christlichen Zeitrechnung ist nach jener Zeit, in welcher das Christentum in die Welt eintrat, für jeden ernsten und unbefangenen Beobachter unstreitig das anziehendste und belehrendste und macht um der großen Taten willen, die darin geschehen sind, die gerechtesten Ansprüche an unsere Aufmerksamkeit und Teilnahme. Beide Zeiten, jene des Erscheinens Christi in der Welt, und diese unsrer Kirchenreformation haben auch eine besondere Ähnlichkeit mit einander, die wir am besten mit dem Worte des Apostels bezeichnen können: „Das Licht scheinet in der Finsternis.“ Jesus Christus ist dieses Licht. Die Finsternis, die seinem Erscheinen vorherging, war der Zustand einer immer größeren Verdunkelung jenes göttlichen Funkens gewesen, den der Schöpfer der Menschen in ihre Seele gelegt hat und der zu einem immer helleren Lichte werden soll. Aber abgesehen von einzelnen hervorragenden Geistern, die jenen ursprünglichen Funken in sich nährten, wandelten die Völker doch in Bezug aus das Höchste und Heiligste, in Bezug aus die Erkenntnis von Gott und seinem Willen in Finsternis. Da wurde endlich der geboren, welcher mit dem Vater Eins ist in Heiligkeit und Reinheit des Herzens, ohne Sünde, und daher auch voll des ungetrübtesten, göttlichen Geistes, der alle Dinge erforscht, auch die Tiefen der Gottheit. Und wie viele seitdem diesen reinsten Strahl des göttlichen Lichts in sich ausnahmen, denen gab er auch Macht, Gottes Kinder zu werden, die den Vater kennen; in ihren Herzen wurde es wieder Licht, und auch der Friede Gottes war ihnen, als Gotteskindern, zu Teil worden.

Und Solcher hat es zu allen Zeiten gegeben von jenen ersten Hochbegnadigten Jüngern des Herrn an, die ihn gehöret haben und gesehen mit ihren Augen, und von jenen ersten Gemeinden an, die sich treu und fest an sein Wort hielten und beständig blieben in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet, wie die heiligen Urkunden ihr Leben schildern. Ja, welche große Verdunkelungen auch später das Licht in der Welt wieder durch die Schuld der Menschen erfuhr, dennoch hat es zu allen Zeiten Solche gegeben, die unter Gottes Obhut in ihren reineren Herzen auch die göttliche Wahrheit reiner auffassen und vor Andern wieder bezeugen konnten. Und zwar treten uns bei solcher Betrachtung einesteils einzelne hervorragende Persönlichkeiten entgegen, die durch ihr Leben und ihre Schriften Zeugnis von jenem göttlichen Lichte, das sie in sich ausgenommen hatten, gegeben haben, ein Augustinus von Hippo, ein Chrysostomus, ein Bernhard von Clairveaux, Johannes Gerson, Thomas von Kempen und Andere; anderenteils wissen wir auch von ganzen Gemeinschaften, die hier und da in stiller Abgeschiedenheit ihrem Herrn und seinem Worte treu blieben mitten unter einem „unschlachtigen und verkehrten Geschlecht“, wie jene alten ehrwürdigen Waldensergemeinden in den versteckten Gebirgstälern Italiens und Frankreichs, und wie die sogenannten böhmischen Brüder und die Brüder vom gemeinsamen Leben in den Niederlanden.


Aber wie vielen Millionen, die sich doch auch nach dem Namen Christi nannten, blieb jenes wohltätige göttliche Licht, das in Ihm erschienen war, verborgen! Diese Alle hatten statt dessen nur ein trübes Schatten- oder Nebelbild, das sie täuschte und oft gespenstisch erschreckte. Vielen blieb Christus nur ein leerer toter Name; ihr ebenfalls für und zu Gott geschaffenes Herz war dem Unglauben oder dem rohesten Aberglauben, der an die heidnischen Fabeln erinnern kann, hingegeben, und dann bald auch sittlicher Entartung und Verwilderung, ja oft der Verzweiflung. „Die Finsternis hatte das Licht nicht begriffen.“

Da sollte endlich nach manchen vorbereitenden Ereignissen und manchen scheinbar vergeblichen Kämpfen das himmlische Licht, die Wahrheit des Evangeliums, wieder siegreich in die Dunkelheit der Welt hereinbrechen und seine Segnungen verbreiten.

Und die von der göttlichen Vorsehung dazu vornehmlich ausersehenen Werkzeuge waren unsere deutschen Reformatoren.

Fassen wir nun diese Zeit ins Auge, so wird unstreitig Luthers Name immer zuerst genannt werden müssen. Denn Er war es, dem es zuerst gelingen sollte, dem bisher versteckten und verbauten Lichte der evangelischen Wahrheit wieder eine offene Bahn zu machen, und er steht als ein Held und Streiter Gottes wie kein zweiter neben ihm da mit seinem großartigen, gewaltigen Charakter, mit seiner unerschütterlichen Glaubenskraft, mit seinem tapfern und doch milden Herzen, mit seinem genialen, schöpferischen Geiste, der in allen Verwicklungen das Richtige und Wahre schnell erkannte und fest ergriff; er steht als der Erste da unter allen seinen Mitkämpfern, seinen Freunden und Genossen. Und dennoch hätte er allein das große Werk einer Reformation der Kirche nicht auszurichten vermocht bei den grenzenlos verworrenen Zuständen der entarteten Kirche und gegenüber den mächtigen Gewalten, die die Finsternis mehr liebten als das Licht und denen jene verworrenen Zustände bequem und ergiebig waren. Aber Gott erweckte ihm Beschützer und Freunde, edle Fürsten, welchen der Sieg der Wahrheit zum Segen ihrer Völker mehr galt als irdische Ehre und bequemes Wohlleben, und treue, geschickte Mitarbeiter und Streitgenossen im edlen großen Kampfe gegen die Finsternis.

Unter diesen letzteren sind besonders zwei Männer unvergänglichen Ruhmes und Dankes wert, die, ein Jeder mit seinen eigentümlichen großen Gaben und Kräften, Luthern zur Seite standen. Diese beiden Männer sind Philipp Melanchthon und Johann Bugenhagen. Wohl mag Melanchthon verdienen, als das größere der beiden Nebengestirne, die Luthern aus seiner kühnen und wohltätigen Bahn begleiteten, gerühmt zu werden, Melanchthon der tiefe und seine Kenner der Sprachen, und dadurch der rechte Ausleger der Schrift, und welcher zugleich die aus dem Schachte der heiligen Urkunden gewonnenen Wahrheiten zuerst mit ordnendem Geiste, als ein übersichtliches Ganzes lichtvoll dargestellt hat, Melanchthon, der edle milde Geist, welcher der Feuerseele, Luthern, gleich einem versöhnenden Friedensengel zur Seite stand. Aber auch dem praktisch-tüchtigen Manne, dem unerschrockenen unermüdlichen und vielgewandten, der mit immer frischem frohem Mute und klugem Geschick in die verderbtesten kirchlichen Zustände an vielen Orten Deutschlands, ja noch über die deutschen Grenzen hinaus verständig eingreift, und überall heilsame Einrichtungen, Zucht und Regel ins Leben ruft, und der dazwischen immer wieder mit treuem Hirteneifer seiner Wittenbergischen Gemeinde so wie der dortigen Hochschule sich widmet, von wo ihn weder angebotene hohe kirchliche Würden und Ehren noch Trübsale und Gefahren trennen können, auch diesem Manne und seinen Tugenden und Verdiensten, die Luther selbst stets anerkannt hat, gebührt unsere dankbare Erinnerung.

Ja, diese beiden Männer, Melanchthon aus dem Süden Deutschlands, und Bugenhagen von der nordischen Küste her gekommen, sie bilden mit Luthern, dessen Heimat im Herzen Deutschlands lag, ein seltenes Triumvirat, welches durch die Waffen des Geistes und durch einmütigen Sinn die großen Siege errungen hat, deren wir uns in unserer evangelischen Kirche noch zu erfreuen haben.

Dem Andenken Bugenhagens sind diese Blätter geweiht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben des Johannes Bugenhagen