Vorwort

Die drei linguistischen Bücher: „Sprache ohne Worte“, „Stromgebiet der Sprache“ und „Rätsel der Sprache“, die ich im Laufe von vier Jahren nacheinander herausgegeben habe, lege ich hiermit unter Einem Titel vor, wie es von vornherein in Aussicht genommen worden war. Sie bilden ein geschlossenes System der Sprachwissenschaft, sofern man darunter die Lehre vom Leben und Weben der Sprache selbst, keine Spezialuntersuchungen, versteht. Das erste beschäftigt sich mit der Sprache im denkbar allgemeinsten Sinne, sogar mit einer ohne Absicht der Mitteilung und ohne Gedankenaustausch — das zweite mit der Laut- und Wortsprache, deren Entwickelungsgeschichte in großen Umrissen — das dritte mit dem Sprachbewusstsein der Menschheit, der Wortdeutung oder Etymologie, wie sich das fertige Werkzeug des Gedankens im Kopfe der Gelehrten und Ungelehrten spiegelt. Ungesucht hat sich mir in Bezug auf die Sprachphilosophie eine ähnliche Dreiteilung ergeben, wie sie Hegel mit dem System der abstrakten Philosophie vorgenommen hat, indem er dasselbe in drei große Gedankenkreise: die Wissenschaft der Idee an sich, die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes gliederte. Wie dort das unbestimmte Sein, spitzt sich hier im dialektischen Prozess die Sprache zu drei Haupterscheinungen: der Gebärdensprache, der Schrift und der Lautsprache zu, welche letztere sofort die Führerschaft übernimmt und, nachdem sie durch mehrere Stufen der Existenz hindurchgegangen ist, endlich im grammatischen Satze, im ersten vernünftigen Worte gipfelt; und wie sich dort die Idee aus ihrer Entfremdung in der Natur wiederzusammenfasst und als Geist zu sich kommt, so kommt hier gleichsam die Sprache zu sich, erblickt sie in dem denkenden Geiste, der sich ihrer bediente, ihren Wiederschein, beginnt ihre Selbsterkenntnis, die, weil sie so spät eintritt und inzwischen Laute und Begriffe ihre eigenen Wege gegangen sind, so sehr erschwert wird. Sie steht vor lauter Rätseln, derselbe Mensch, der die Sprache hervorgebracht hat, weiß nicht mehr was er spricht; er ist auf einmal im Besitz eines wundervollen Werkzeugs und begreift nicht, wo er dasselbe her hat. Die Antwort auf diese Frage erteilt die Sprachwissenschaft, zu der sich das sprechende Volk erhebt, die am Ende des zweiten Teiles das Problem vom „Ursprung der Sprache“ aufwirft, im dritten ihre eigenen Gesetze und Grundregeln untersucht.

Möge das ganze Werk, das den ernsten und den ersten modernen Versuch darstellt, die Sprache als solche wissenschaftlich zu begreifen, allgemeine Gesichtspunkte für die Sprachforschung anzugeben und ihre Gebiete abzustecken, den Erfolg haben, den die Verlagshandlung wünscht und der Gegenstand verdient, und den Fachgelehrten nicht wertlos, den Laien nicht unnütz, niemand langweilig sein.


Leipzig 1893.

Rudolf Kleinpaul


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben der Sprache und ihre Weltstellung. 1. Band