Schlusswort.

Wir zeigten am Beginn dieser Schrift, daß unser Volk in Herzl eine Idealfigur gefunden hat, an der es sich begeistert und heranbildet, dem die Jugend hingebungsvoll nachzueifern sich bemüht. Und wir fragen uns am Ende der Wanderung: Weshalb hat seine Persönlichkeit eine solche außerordentliche Wirkung hervorzubringen vermocht? Der historische Herzl ist ein Mensch von wunderbar guten Eigenschaften. Aber das allein genügt nicht, um zu erklären, daß er tatsächlich in jedem von uns lebt, in eines jeden Denken und Empfinden seine stille Zelle gefunden hat, wo er wirkt und schafft.

Die Idealisten sagen, daß der Held die Geschicke der Völker bestimmt, die Materialisten meinen, daß die wirtschaftlichen Ursachen für das Geschehen bestimmend sind. In Wirklichkeit ist weder das eine noch andere richtig. Ohne die sozialen Ursachen besteht zwar kein Bedürfnis nach der Tat und dem, der sie vollbringen soll. Also fehlen auch dem „Helden“ die Möglichkeiten zum Auftreten auf der Weltenbühne. Aber ohne die berufene Persönlichkeit versandet nur zu oft der Strom der Geschehnisse und die gärende Bereitschaft der Zeit weicht wieder dumpfer Willenlosigkeit und Ergebung.


Große Männer schaffen deshalb keineswegs nur als Willenserfüller der Massen. Ihre Eigenart prägt vielmehr das unbestimmte Sehnen der Menge und preßt es in bestimmte Formen. Die Menge selbst aber bildet das erforderliche Material. Diese Synthese ist die historische Funktion der Gesellschaft.

Als Herzl auftrat, war seine Zeit für ihn bereit und er erfüllte sie mit seinem gewaltigen Wollen. Ihm standen nicht Kanonen und mächtige Heere zur Verfügung, keine Scharen geschulter Diplomaten. Kein tönender Name öffnete ihm die Türen der Regierenden, und die Truhen der Geldfürsten blieben vor ihm verschlossen. Einsam mußte er seinen schweren Weg gehen, innerlich einsam, wie jeder wahrhaft Große dieser Welt. Aber die Kräfte dazu entnahm er den starken und guten Eigenschaften der Volksseele. Seine schlichte Opferbereitschaft und sein unverwüstlicher Optimismus, seine ungeheuere Arbeitsfähigkeit und Zähigkeit, sein fester Glaube an die Zukunft der Nation und vor allem das unzerstörbare Gefühl der Sendung und Berufung — alle diese Seiten seines Wesens waren in ihrer Gesamtheit wie eine Verkörperung des guten Kernes der Volksgemeinschaft. Er war groß, wie Goethe einmal gesagt hat, „nicht durch Erbschaft, durch Glück, durch Gewalt, sondern durch das, was in ihm liegt, was auch in uns liegt“. Wir haben's empfunden und darum hat er mit so elementarer Gewalt an unsere Herzen gegriffen.

Theodor Herzl ist dahingegangen. Gestorben an der Liebe zu seinem Volke und im Kampfe erlegen, weil seinen weiten Wünschen die Mittel zur Ausführung versagt blieben. Aber der Herzl, in dem wir uns selbst gehoben und erhöht sahen, in dem das Judentum der Zukunft sich versinnbildlicht, lebt als der Bürge siegreichen Vollendens. Er lebt als Ausdruck seines wie unseres Wollens, als der Blutzeuge des Judentums, das leben will und sich selbst treu bleiben. Er ist die Fahne geworden, von der er dem Baron Hirsch gesprochen, „mit der man die Menschen führt, selbst ins gelobte Land“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls