Innere Wandlung.

Auch dem gesellschaftlichen Kreise begann er skeptisch gegenüber zustehen. Seine philosophierende Natur empfand tief die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft, die doch die feingeistigste Europas in sich schloss. Diese Empfindungen verstärkten sich, als die Dreifußaffäre entstand, und der mit unheimlicher Gewalt aus den Tiefen der Volksseele emporschießende Antisemitismus alle die schönen, auf französischer Erde erwachsenen Begriffe von Gleichheit und Brüderlichkeit wie ein aus dem Boden brechender Schlammstrom überflutete.

Herzl war stets ein Jude von Ehrgefühl gewesen. Der in seinem religiösen Judentum gekränkte Knabe hatte in Budapest die Realschule verlassen und war ins Gymnasium eingetreten. Aber der nationale Gedanke war ihm unverständlich geblieben.


Noch 1894 hatte er in einer Rezension von Dumas' „femme de Claude“ geschrieben:

„Der gute Jude Daniel will die Heimat seines Stammes wiederfinden und seine zerstreuten Brüder heimführen. Doch gerade ein solcher Daniel weiß, daß den Juden mit ihrer historischen Heimat nicht gedient wäre. Es ist kindisch, die geographische Lage dieses Landes zu suchen . . . Und wenn die Juden wirklich „heimkehrten“, so würden sie am anderen Tage entdecken, daß sie längst nicht mehr zusammengehören. Sie wurzeln seit Jahrhunderten in neuer Heimat, entnationalisiert, voneinander verschieden, in einer Charakterähnlichkeit nur durch den sie überall umgebenden Druck erhalten.“

M. Paul-Schiff erzählt*), daß er Herzl nach dem Erscheinen des Judenstaats und der Gründung der zionistischen Organisation anlässlich eines Besuches diese Worte entgegenhielt.

Herzl schwieg einen Augenblick und rezitierte dann folgendes Gedichtchen Paul Heyses:

„Wer heute klüger ist als gestern
Und es mit frohem Mut bekennt.
Den werden die Biedermänner lästern
Und sagen: er sei inkonsequent.“


Die Wandlung war also scheinbar eine sehr plötzliche gewesen. Die Erleuchtung war gekommen, wie der erwachende Frühling über Nacht.

*) Frankfurter Zeitung vom 22. Juli 1904.

Und doch hatte sich diese Wandlung lange vorbereitet; wie denn überhaupt äußerlich überraschende seelische Vorgänge meist nur die Folgen einer innerlichen, oft der eigenen Persönlichkeit unerkennbaren Entwicklung sind.

Die Anfänge liegen weit zurück. Schon die Geschehnisse in der studentischen Verbindung Albia, der Herzl in Wien angehört hatte, und die plötzlich beschloß, neue jüdische Mitglieder nicht mehr aufzunehmen, hatten ihn nachdenklich gemacht. Ohne Zögern sandte er „den edlen, jungen Leuten“ das Band zurück.

Dann begann der Siegeszug des Antisemitismus, der von Deutschland nach Ungarn kommend, die Gemüter in Osterreich zu vergiften begann. Dr. Bernhard Beck, der Hausarzt der Familie Jakob Herzl, erzählt, daß schon damals der jugendliche Theodor Herzl sich in seinem Stolz aufs tiefste verletzt fühlte und den Gedanken der Auswanderung nach Palästina zu erwägen begann*). Noch als Student, im Jahre 1882, las er Dürings Buch über die Judenfrage, jene Schrift „voll von Hass wie von Geist“, die auf ihn wirkte, „wie wenn er einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte“**). Es brachte ihm nach eigenen Worten sein Volkstum zuerst wieder in Erinnerung: die Antisemiten haben es in ihm wieder aufgeweckt. Aber nur erweckt! Ein langer Reifeprozess war erforderlich, bis der durch äußerliche Vorgänge erzeugte Gedanke des rein deutsch empfindenden Literaten zum bewussten jüdisch-nationalen Fühlen sich entwickeln konnte. War er doch seelisch ganz auf sich selbst angewiesen. Die Gedankengänge und Schriften der Pinsker, Lippe, Rülf, die gerade damals die jüdisch-nationale Bewegung einleiteten, drangen nicht in seinen Lebenskreis.

*) Vgl. Gedenknr. der „Welt“ vom 20. Mai 1910. Wolffsohn berichtet, daß Herzl 1878 nach dem Lesen einer Stöcker'schen Brandrede in sein Notizbuch schrieb: „Eigentlich sind die Juden dumme Kerls, wenn sie sich das bieten lassen und sich nicht nach einem eigenen Lande umsehen“.

**) Vgl. Zionistische Schriften II, S. 121.


Und die literarischen und gesellschaftlichen Erfolge haben das jüdische Empfinden Herzls wieder eingeschränkt, überhaupt muss man sich stets vor Augen halten, wie wenig er für eine jüdisch-politische Rolle von Hause mitbrachte, und wie schwierig es gerade für ihn sein musste, sich zur Klarheit durchzuringen.

Sein Elternheim war das typische jenes Kreises, der wohl noch in der Religion und einem gewissen Rasseempfinden wurzelt, dem Abfall verächtlich gegenübersteht, aber doch den Kindern nur wenig an positiven jüdischen Werten mit ins Leben zu geben vermag. Herzl lernte ein wenig Hebräisch und vergaß es wieder. Nicht viel anders ging es mit dem Studium der jüdischen Geschichte. Wenn er den Eltern die übliche Neujahrsgratulation abstattete, so war es wichtig, daß er sich dabei des Französischen bedienen konnte.

Die dem Judentum entstammenden Morallehren, die Jeannette Herzl ihren Kindern mit großem Eifer einzuprägen sich bemühte, und die in den Schriften und Reden ihres Sohnes oft und prägnant wiederkehren, waren in ihrem Munde doch nur allgemeine ethische Grundsätze. Herzl hat bis zu seinem Ende nur über ein geringes jüdisches Wissen verfügt, und das konnte auch gar nicht anders sein. Denn die Richtung seiner Erziehung wie der eigenen geistigen Neigungen drängte zu Gebieten allgemein kultureller Art. Eine oberflächlich jüdische Erziehung, die nur eben leidlich der Form gerecht wird, prädestiniert vielleicht mehr zur späteren Vernachlässigung oder dem Verlassen des Judentums, als eine ganz unjüdische. Denn wer nichts vom Judentum weiß, entdeckt oft bei zufälliger Berührung Reize, die ihm die eindringliche Beschäftigung wertvoll machen. Wer aber in der Kinderzeit einige Kenntnisse erworben hat, ohne daß man verstand, sie seinem Empfinden innerlich nahezubringen, ist später oft geneigt, die Beschäftigung mit der ganzen Angelegenheit gleichgültig abzulehnen. Besonders dann, wenn starke, allgemein menschliche Interessen ihn beschäftigen. Das Judentum, schlecht gelehrt und folglich nur halb erfasst, als Gegenstand eines Glaubens, dem sich wissenschaftliche Erkenntnisse scheinbar entgegenstellen, wird dann schnell überwunden. Es erscheint als beengend, rückständig gleichgültig gegenüber den großen allgemeinen Problemen, und wird schließlich abgestreift.

Diesen Weg sind die Söhne von unzähligen jüdischen Familien in Westeuropa gegangen, die Sprösslinge alter angesehener und in ihrer Art ganz gut jüdischer Kreise. Die Überraschung der Eltern pflegt in solchen Fällen nicht geringer zu sein, als die der Fernerstehenden. Und dabei ist der Vorgang für den psychologischen Betrachter doch ein ganz klar verständlicher!

Vielleicht wäre ohne den starken Appell des Antisemitismus auch Theodor Herzl diesen Weg geschritten. Denn auch ihm erschien das Judentum gleichgültig, die Judenheit kleinlich, enge, und er hing nicht an den Juden als Menschen. Er sah nur das gedrückte Volk mit dem Ghettogeist. Erst später verstand er, daß man die Juden betrachten muss als die Gesamtheit, die sie sein wollen und nach ihrem Innersten sein können.

Auch das Milieu der Familie seiner Gattin beeinflusste ihn wenig genug nach der bewusst jüdischen Seite. Hier überwogen — wohl noch mehr als bei der Familie Herzl — die allgemeinen Interessen. Dazu kam die österreichische Leichtlebigkeit. Jüdische Anregungen hat Theodor Herzl jedenfalls auch von dieser Seite her nicht erhalten.

Aber der Antisemitismus schritt vor. Er vergiftete das öffentliche Leben und verpöbelte seine Formen. Man begann, die Juden aus dem Staats- und Gemeindedienst zu verdrängen; Herzl selbst bekam den „Antisemitismus“ der Verwaltung zu spüren. Denn er wäre gern in Salzburg, in der Richterlaufbahn verblieben. Aber er erkannte bald die Aussichtslosigkeit seines Strebens und musste seinen Hoffnungen entsagen. Er hat diese Notwendigkeit manchmal noch in späten Jahren bedauert, und sich das friedliche, schöne Leben, das er hätte führen können, ausgemalt; besonders dann, wenn die Wogen des politischen Lebens ihn allzuscharf umbrandeten. Nie hatte er sich ja eine öffentliche Tätigkeit ersehnt, und er wäre oft gerne zu seinen Büchern heim gekehrt — wenn er gedurft hätte.

Dazu kam die wirtschaftliche Schädigung der Juden in Osterreich, die große Judenverfolgung in Russland. Sicherlich sind auch diese Vorgänge nicht ohne Einfluss auf ihn geblieben. Sprach er doch später stets von ihnen mit jener Mischung von zornigem Mitleid und verletztem Selbstgefühl, die nicht erst mit der zionistischen Idee in ihm geboren sein kann. Herzl empfand überhaupt das Elend außerordentlich tief. Er spricht in seinen Feuilletons von dem elenden Leben der städtischen Massen, von der traurigen Wiese, auf der die Kinder der Armen spielen, unter kränklichen Bäumchen, die „wohl nie im Leben stark werden und Schatten spenden, so wenig wie die Menschenpflänzchen, die hier kümmerlich gedeihen“. In Ägypten rührt ihn tief das Sklavendasein der Fellachen, und als der Ankauf der Jesreelebene besprochen wird, erklärt er, „man könne doch nicht arme, arabische Bauern von der Scholle treiben“*).

Immerhin wurden alle diese Eindrücke verletzten Selbstgefühls und mitleidiger Erregungen stets wieder verdrängt von der „Hoffnung auf die allmähliche Entwicklung der Menschheit zur Duldung“**). Gab es doch freie und gerechte Völker! Gab es doch ein Frankreich als lebendes Beispiel der Entwicklung zu freiem Menschentum. Gewiss ging es den Juden schlecht. „Es geht den Maschinenmenschen ähnlich wie den Juden, die zufällig in einer antisemitischen Zeit ihr Leben verbringen müssen. Spätere Juden werden lichtere Tage sehen, die jetzigen sind einfach übel daran“, so klagt er im Palais Bourbon. Aber durch alle diese Betrachtungen geht doch immer noch der hoffnungsvolle Unterton.

*) Im Mai 1903 gegenüber dem Verfasser.

**) „Zionismus“ in der North American Review, abgedruckt in Herzls Zionistischen Schriften II, S. 124.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls