Herzls Ugandapläne.

Allmählich beginnt unter der Last von Mühen, Reisen, Erregungen und Anfeindungen das ohnehin kranke Herz zu versagen. Die Anfälle mehren sich und mit Kummer sehen die Freunde die Verschlimmerung der Krankheit in diesen Monaten. Aber alle Bitten, sich zu schonen, sind vergebens.

Waren die Angriffe gegen Herzl berechtigt? Hatte er wirklich die Absicht, Palästina zu opfern und in Uganda den Judenstaat zu errichten?


Man kann seine Absichten mit völliger Sicherheit aus der Korrespondenz entnehmen, vor Allem auch aus der vor dem sechsten Kongreß entstandenen.

Als Chamberlain Herzl zuerst Uganda anbot als ein Land „wo Zucker und Baumwolle wächst und der weiße Mann leben kann, ein Land, besser als Wales“, hatte er sich als selbstloser und aufrichtiger Freund des jüdischen Volkes gezeigt. Ein solches Angebot konnte nicht kurzerhand abgelehnt werden, ohne daß man Güte mit Kränkung vergalt. Vor allem aber konnte das Land von Nairobi eine Augenblickshilfe für einige Zehntausende*) sein. Für einige wenigstens aus dieser verhungernden, getretenen Masse, die er in Rußland gesehen**). Und diese — so glaubte Herzl — würden einen Stamm erfahrener und disziplinierter Pflanzer für den Moment bilden, wo der Charter bezüglich Palästinas erreicht sei.

*) Brief an Nordau vom 19. Juli 1903.

**) In der Rede zur Einleitung der Versöhnungssitzung des AC. vom 11 . bis 15. April 1904 in Wien sagt er nach dem stenographischen Protokoll:

„Mein persönlicher Standpunkt in dieser Sache war und ist, daß wir kein Recht haben, einen solchen Vorschlag einfach abzuweisen, vom Tische zu schleudern, ohne das Volk befragt zu haben, ob es will oder nicht. Diesen Vorschlag werde ich nicht mit dem vielangefochtenen Worte ,Nachtasyl‘ kennzeichnen, sondern sagen: ,Das ist ein Stück Brot‘.

Ich, der ich vielleicht ein Stück Kuchen zu essen habe, habe nicht das Recht, das Stück Brot, das Armen angeboten wird, abzuweisen, weil ich es nicht will, oder weil ich es nicht brauche. Ich werde vielleicht davon entzückt und begeistert sein, wenn selbst in der Not und Hungersnot aus idealen Trieben geantwortet wird: Nein, wir wollen dieses Brot nicht haben. Aber diese Frage zu stellen bin ich verpflichtet. Das ist meine Überzeugung, daß es unsere Pflicht war und ist, und dabei bin ich geblieben. Und in dieser Linie, die ich für streng korrekt und für nichts weniger als autokratisch oder eigenmächtig, sondern für vollkommen volksmäßig und berechtigt ansehe — in dieser Linie bin ich geblieben und jede Aktion wird es beweisen.“


Noch ein weiterer Gedanke bestach ihn: hier war zum ersten Male der Judenstaatsgedanke völkerrechtlich anerkannt und der Zionismus als „staatsbildende Macht“ ernsthaft von einer Großmacht mit dem Stempel ihrer Billigung versehen*). Wenn von Rußland der Charter für das Nairobiland erteilt wurde, mußten auch Chartered Companys in anderen Staaten möglich sein, in Argentinien, Amerika, vielleicht Tripolis**). Eine Anzahl von solchen mußte die Zukunft erleichtern***). Dann waren „lauter Nester und Kraftstationen“ geschaffen, wo die Vorbereitung für die Wanderung nach Palästina erfolgen konnte. Man würde nicht mehr mit Bangen das mögliche Mißlingen der Großkolonisation zu befürchten brauchen, denn die erfahrenen und zu leidlichem Wohlstand gelangten Kolonisten konnte man sofort gefahrlos in Erez Israel ansiedeln.

*) Brief an Nordau vom 19. Juli 1903.
**) Vgl. oben S. 91. Mit dem Minister des Äußern Tittoni hat Herzl in Rom über die Möglichkeit der Ansiedlung von Juden in Tripolis verhandelt. Mitteilung von Dr. Margulies-Florenz.
***) „Unser Weg nach Zion wird mit Charters gepflastert sein müssen.“
Brief an Nordau vom 19. Juli 1905.


Ein umgekehrtes englisches Kolonialreich in Taschenformat. „Dieser historische Ostafrikaanfang ist politisch ein Rischon le Zion“*). Palästina aber blieb das Ziel der ganzen Aktion. Nicht mit einem Gedanken hat Herzl es je aufgeben wollen, und er hätte auch gar keinen Anlaß zu einem solchen Mißgriff gehabt. Ein sehr wesentliches Hindernis war ja mit dem Widerspruch Rußlands in Konstantinopel aus dem Wege geräumt. An Stelle des Widerstandes war Unterstützung getreten, das war ein mächtiger Schritt vorwärts. Und man konnte dem Sultan gegenüber das englische Projekt in die Wagschale der Verhandlungen werfen. Man konnte Abdul Hamid sagen, daß man nicht mehr auf ihn angewiesen sei**), und daß man als Entgelt für finanzielle Hilfe mehr beanspruchte, als zerstreute Kolonisation: den Charter für Erez Israel.

*) Brief an Nordau vom 15. Juli 1905.

**) Tatsächlich wurde im Winter 1903 — und zwar schon in seiner ersten Hälfte — in Konstantinopel kräftig gearbeitet.


War aber das Ugandaplateau unbrauchbar, erstattete die Kommission einen ungünstigen Bericht, so hatte man immerhin die Dankesschuld an die englische Regierung abgetragen und konnte versuchen, mit dem Hinweis auf die bewiesene kostspielige Willfährigkeit vielleicht doch noch Nilwasser für Pelusium herauszuschlagen.

Das ist Herzls Plan von Anfang an gewesen und geblieben. Andeutungen genug für seine Ideen finden sich schon in den Reden auf dem Kongreß, vor allem in seinen Ansprachen an die Landsmannschaften und die sogenannten „Neinsager“. Aber seine Briefe — besonders die schon vor dem Kongreß an Nordau gerichteten — und seine privaten Erklärungen an seine Freunde vor, während und nach dem Kongresse schließen jeden Zweifel aus.

Die Opposition hat die Durchführung dieser Absichten unmöglich gemacht. Schon Mitte November verständigt die englische Regierung Greenberg, daß sie mit Rücksicht auf den Widerstand zionistischer Kreise ihr Anerbieten nicht aufrecht erhalten könne. Sie bietet statt dessen das Tanaland an, das abgelehnt wird. Herzl will das Scheitern der Verhandlungen in der Form eines an Sir Francis Montefiore gerichteten Briefes der Öffentlichkeit mitteilen, und man beratet über die Fassung des Schreibens hin und her. Inzwischen sagt Greenberg am 16. Dezember dem Foreign Office, daß man auf Einhaltung der Zusage rechne. Danach kann Herzl das vorerwähnte Schreiben nicht vollständig publizieren, weil er vermeiden muß, den Anschein eines Doppelspiels zu erwecken. Und auch die Schüsse in der Salle Charras machen öffentliche Erklärungen unmöglich, da Herzl die Behauptung fürchtet, er habe das Projekt aus Schwäche infolge des Attentats fallen lassen*). Aus diesen Gründen kann die Ugandasache nicht mehr öffentlich aufgegeben werden, und alle Bemühungen sind nur noch darauf gerichtet, im Austausch Nilwasser zu bekommen.

*) Brief an Nordau vom 50. Januar 1905.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls