Herzls Lage nach dem Erscheinen des Judenstaates.

Verstreut in Rußland, Österreich, Deutschland, Rumänien bestanden zionistische und national-jüdische Organisationen. Ihre Zahl war nicht groß, ihre Stoßkraft gering. Schon im September 1893 hatten sie eine Vorkonferenz in Wien gehalten, an der acht Kämpfer für den Gedanken der Wiedererstehung des jüdischen Volkes teilgenommen hatten**). Man hatte die Einberufung eines zionistischen Weltkongresses nach Berlin für Ostern 1894 beraten, war aber nicht über die Vorarbeiten hinausgelangt. Nun war es die Wiener Studentenverbindung Kadimah, die im Verfasser des Judenstaats den fehlenden Führer sah und ihn auf den Schild erhob. Im Mai 1896 erstattete Dr. M. T. Schnirer im Verband Zion in Wien ein Referat über den Judenstaat, und der Verband erließ gemeinsam mit den Studentenverbindungen der Universitäten Wien, Graz und Czernowitz einen Aufruf zur Unterzeichnung einer Adresse an Herzl, die sich bald mit tausenden von Unterschriften bedeckte***). Ohne dieses studentische Pronunziamento wäre Herzl schwer ich schnell zu einer unbestrittenen, führenden Stellung gelangt.

**) Bambus, Belkowsky, Birnbaum, Brainin, Dornbusch, Ehrenpreis, M. Moses, Salz.


***) Vgl. Anhang, S. 128.


Denn von den vorher maßgebenden Persönlichkeiten sind ihm eine ganze Anzahl — selbst der verdienstvolle greise Dr. Rülf — nur zögernd gefolgt*). Sie hegten Bedenken gegen Herzls Selbstsicherheit, deren Gründe sie nicht verstanden. Weil sie nicht wußten, daß ihm tatsächlich bei der Arbeit die ganze nationale Bewegung unbekannt gewesen war, glaubten sie, daß ein Ehrgeiziger sie beiseite schieben wolle. Sie zweifelten am Ernste des Mannes, der aus so ganz unjüdischem Lebenskreise zu seinem Volke kam und mit Selbstverständlichkeit ihre Erbschaft antrat. Und auch sein Plan, die breite Öffentlichkeit mit einer Diskussion zu befassen, die man für eine innerjüdische Angelegenheit hielt, kam manchem wenig gelegen.

*) Rülf sagt im „Zion“ vom 17. Mai 1896: „Das alles hat nicht gehindert, daß wir nicht auch in Deutschland und Osterreich warme und begeisterte Anhänger, ganz besonders unter der studierenden Jugend gefunden haben. Ob wir zu diesen auch den Verfasser der jüngst erschienenen Schrift „Der Judenstaat“, Dr. Theodor Herzl, rechnen dürfen, ist mir noch nicht ganz klar geworden. Der Mann tritt so sicher und selbstbewußt auf, als ob er der erste wäre, welcher mit solchen Gedanken und Ratschlägen hervorgetreten wäre, und doch hat schon Dr. Pinsker in seiner Schrift „Autoemanzipation“ ganz und gar dasselbe gesagt und zwar noch viel besser und eindringlicher, vor allem mit weit größerer Herzenswärme und Geistesschärfe.

So ist es nun mal unter uns Juden. Jeder will der erste sein und, ,drängt sich an die Spitze' — kein Gemeingeist, kein Zusammenwirken, kein pietätvolles Anknüpfen an die frühere Leistung und Bestrebung, auf diese Weise kommen wir nicht vorwärts im Erlösungsstreben. Man berücksichtigt allzuwenig das Wort des Weisen : wer da sagt ein Wort im Namen seines Urhebers, der bringt die Erlösung in die Welt.

Jedenfalls hat sich auch Herzl in den schärfsten Gegensatz zu allen den „Staatsbürgern jüdischen Glaubens“ gesetzt, das allein schon bringt ihn uns näher und macht ihn uns vertraut.“

Als Herzl den Aufsatz Rülfs gelesen hatte, äußerte er zu Wolffsohn: „ Ich hatte keine Ahnung von Pinskers ,Autoemanzipation'. Hätte ich sie gekannt, so wäre der Judenstaat wahrscheinlich ungeschrieben geblieben“


Aber der Stein war einmal ins Rollen gebracht und die Zauderer und Zögerer standen einem Manne von ungeheurer Willenskraft und Arbeitsfähigkeit gegenüber. Einem Manne, der entschlossen war, jede Chance auszunutzen. Bald zeigte sich, daß Herzl Gedanken aussprach, die im Empfindungsleben Unzähliger geschlummert hatten. Die Massen im Osten gerieten in Unruhe. „Schon habe ich meinen Lohn“, schreibt er am 8. April 1896 an seinen späteren Freund Gustav G. Cohen in Hamburg, „die armen Leute unseres Volkes erkennen mich als ihren Freund; aus Rußland, Galizien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn bekomme ich jubelnde Zustimmungen; die akademische Jugend stellt sich hinter mich, in England nimmt man die Sache sehr ernst ... Ich kenne meine Juden, ich weiß, was in uns steckt, was in uns stecken mußte, wenn wir die schwersten Prüfungen überstanden, die je ein Volk der Geschichte durchmachte.“

Und sobald er dies erkannt hatte, begann er zu handeln.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls