Herzl und die russischen Juden.

Die Bewegung schwoll von neuem riesig an. Fast alle jüdischen Blätter, auch die assimilatorischen, bezeugten dem Ernste der Veranstaltung und dem ganz außerordentlichen Elan, mit dem sie sich durchgesetzt hatte, ihre Achtung. Aber nicht nur für die Judenheit — auch für Herzl war der Kongreß eine Quelle von Überraschungen gewesen. Er hatte dort die russischen Juden entdeckt. In seinem Artikel der „Welt“ vom 8. Oktober 1897, später in der „Contemporary Review“, spricht er von ihnen, ihrer Begabung, seelischen Einheitlichkeit, kulturellen Geschlossenheit in der wärmsten Art und Weise. Schon vor dem Kongreß hatte er mit einigen von ihnen in Korrespondenz gestanden, die ihn gefesselt hatte. Nun traten ihm die Mandelstamm, Jasinowsky, J. L. Goldberg, Ussischkin persönlich gegenüber. Er empfindet zum erstenmal die Juden als geschlossene Menschen und sucht den Juden in sich selbst. Während er im Judenstaat noch die Assimilation für nicht unrühmlich erklärt, ist er später sehr entschieden anderer Ansicht gewesen. Aber sie war für ihn immer nur ein Verleugnen der Eigenart, der Bande des Blutes, der Abstammung, des Gemeinsamkeitsgefühls, des Stolzes auf unsere große Tradition. Nicht der Bruch mit einer Kulturgemeinschaft. Denn er war eben ein Westler nach Bildungsgang- und Empfinden.

Herzl war ein Tatenmensch und viel zu sehr erfüllt von seiner Aufgabe, die ihm eine Mission bedeutete, als daß er sich mit dem Versuch der Durchdringung einer Kultur hätte plagen können, die ihm nach den Tatsachen fern lag. Es fehlte ihm dazu die Zeit und die abstrakte Denkweise.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls