Haltung Plehwes.

In Petersburg wird er viermal von Plehwe empfangen, der zwar eigentlich nur Minister des Innern, tatsächlich aber allmächtig ist und auch die äußere Politik macht. Auch der Finanzminister Witte, der Minister von Lambsdorff und der Departementchef Hartwig*) empfangen ihn. Der Eindruck, den er macht, ist bei allen Beteiligten hervorragend. Der ganze Komplex der politischen Fragen wird eingehend erörtert und es gelingt Herzl, Plehwe davon zu überzeugen, daß eine Förderung der zionistischen Bewegung im Interesse der russischen Regierung liege. Die Ergebnisse der Besprechungen werden dem Kaiser vorgelegt. Plehwe erklärt, daß der Zionismus Wohlwollen, moralische und auch materielle Unterstützung für seine Ziele bei der russischen Regierung finden werde, wenn er politisch außerhalb Rußlands dahin wirke, ein Gemeinwesen in Palästina zu schaffen, und wenn er die Auswanderung einer gewissen Anzahl jüdischer Untertanen Rußlands zu organisieren verspreche. Irre die Bewegung von diesem Ziele ab und ersetze sie ihr früheres Programm durch eine einfache Propaganda der jüdisch-nationalen Zusammenfassung, so könne sie von der Regierung nicht geduldet werden; denn das Ergebnis werde die Schaffung von Gruppen von Individuen sein, die den vaterländischen Gefühlen, welche die Stärke eines jeden Staates ausmachen, vollkommen fremd und sogar feindlich gegenüberstehen würden.

*) Letzterer war zugleich Präsident der kaiserl. russ. Palästinagesellschaft, die neben wissenschaftlichen auch politische Zwecke verfolgte und deshalb unter der Zarenherrschaft sehr einflußreich war.


Sollte aber das alte Aktionsprogramm wieder aufgenommen werden, so würde die russische Regierung bereit sein, die zionistischen Bevollmächtigten bei der ottomanischen Regierung zu protegieren, die Tätigkeit der Auswanderungsgesellschaften zu erleichtern und sogar aus den jüdischen Sondersteuern die Tätigkeit dieser Gesellschaften zu bestreiten.

Plehwe richtet am 12. August einen Brief an Herzl, der die Ergebnisse der Unterredung festhält und dem die vorstehenden Zeilen fast wörtlich entnommen sind*).

*) Der französische und übersetzte Wortlaut findet sich in der „Welt“ vom 25. August 1903.

Tatsächlich ist diese Zusage sehr ernsthaft gemeint gewesen, und es sind in Konstantinopel Schritte geschehen, deren Wirkung durch Herzls allzufrühes Abscheiden illusorisch gemacht worden sind.

Während diese Dinge mehr oder weniger bekannt sind, hat Herzl es stets vermieden, sich eingehender über die Unterredungen, welche die Lage der Juden in Rußland selbst betrafen, und über die Vorschläge zu äußern, die er Plehwe nach dieser Richtung hin unterbreitet hat. Wenn es heute auch noch nicht an der Zeit ist, das ganze Tatsachenmaterial zu veröffentlichen, so kann doch gesagt werden, daß Herzl sehr wesentliche Erleichterungen des Wohnrechts der russischen Juden angeregt und auch das Versprechen des Ministers erlangt hat, dafür tätig sein zu wollen*).

*) Nach mündlichen Mitteilungen von Dr. Katzenelsohn.

Graf Witte verspricht Herzl die Zulassung von Filialen der jüdischen Bank in Rußland*) und auch Lambsdorff und Hartwig sagen ihre Unterstützung zu. Herzl wird dann noch von einem der einflußreichsten Großfürsten empfangen. Hier macht sich bereits die Wirkung der vielen Anfeindungen und Angriffe auf Herzl seitens der Opposition geltend; sie werden ihm als Beweis für die politische Unreife der Juden und die mangelnde Kraft einer Bewegung vorgehalten, die nur bei größter Einheit ihr Ziel erreichen könne. Herzl entkräftet den Einwand mit großer Geistesgegenwart: auch gegen Columbus habe die Mannschaft seines Schiffes gemeutert. Aber als Amerika in Sicht kam, habe man allen Streit vergessen. „Ich versichere, in dem Augenblicke, wo wir ,das Land‘ erblicken, sind wir alle einig“**). Der Großfürst ist bewegt und verspricht zu helfen.

[/i]*) Das Ergebnis scheiterte am Sturze Wittes.

**) „Welt“ vom 20. Mai 1910 aus „Meine Erlebnisse mit Herzl“ von Dr. Katzcnelsohn. [/i]

Der Einwand war leider nicht grundlos. Wirklich war Herzls Tätigkeit in den letzten Monaten der Anlaß immer heftigerer und manchmal sehr persönlich gehaltener Kritiken gewesen, und er sah — wie seine Briefe ergeben — voraus, daß sie sich andauernd steigern würden. Schon Achad Haams wenig wohlwollende Besprechung von Alt-Neuland hatte ihn schwer gekränkt, weil sie seine Intentionen nicht erfaßte. Er hatte zeigen wollen, daß 20 Jahre nach Beginn die geschilderten Zustände wirklich erreicht werden könnten. Damit wollte er die Zweifler gewinnen und darum durfte nichts Unbekanntes zum Aufbau dieser Kultur verwendet werden. Achad Haam verstand ihn nicht, kritisierte das Buch als unjüdisch und erschütterte so in seinem Kreise das der Bewegung notwendige Ansehen des Führers*).

*) Herzl spricht sich in diesem Sinne in Briefen an Nordau aus.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls