Die Wirkung Herzls auf die Juden.

Auch heute sind diese Stimmungen noch nicht überwunden. Auch heute sehen wir noch in einzelnen Kreisen des jüdischen Volkes dieses gleichgültige Dahindämmern, hören wir die halbdurchdachten kosmopolitischen Reden und erleben die traurigen Akte würdeloser Selbstverleugnung. Und doch haben wenige Jahre genügt, das Volk in seinem Kern zu verändern. Rings um uns erwacht neues Leben, organisiert sich das Judentum zum Kampf um seine Fortexistenz. Eine neujüdische Literatur entsteht, die alte Stammessprache erwacht zu neuem Leben, und durch die Jugend, insbesondere an den Universitäten, geht ein begeisterungsfrischer Zug. Und die ganze, ihrer selbst bewusste Judenheit, sie mag zionistisch sein oder nicht, arbeitet mit dem Gedankenschatz, der vom Wirken jenes einzigartigen Mannes ausging, dessen Andenken jedem Juden teuer sein sollte. Tausend winzige Ideenbäche sind vom Strome seines Denkens in den dürren Acker des modernen Judentums gerieselt und haben dort sprießende Keime geweckt. Er hat den Juden nach langer Zeit den Idealismus wiedergegeben, indem er durch sein Auftreten die notwendige Folge des Materialismus, den Fatalismus, zerbrach. Die Jugend hat gelernt, sich an seinem Wesen heranzubilden zur freien Tat. Zu lieben, was er liebte, zu kämpfen, wie er gekämpft, selbstlos und freudig gleich ihm für die Gemeinschaft zu leiden. Zum ersten Male seit langen, langen Tagen hat sie in Theodor Herzl wieder eine Idealfigur gefunden, deren Eigenschaften sie begeistert nacheifert. Bereits bildet sich im Osten ein Legendenkranz um unseren großen Toten, und um den Volkshelden wird getrauert in all den weit zerstreuten Zelten Jakobs. —

Im Gedächtnis derer, welche das Glück hatten, Theodor Herzl zu kennen, lebt sein Bild als das des Lenkers der zionistischen Kongresse. Waren sie doch seine große Schöpfung, mit der er die zerstreuten Träger der Nationalidee einigte in dem einmütigen Bekenntnis zur Zukunft des Volkes auf eigenem Boden, im alten Stammeslande. Schlank und groß, mit den feinen, blassen, bartumrahmten Gesichtszügen eines alten Assyrerkönigs und den Träumeraugen der Propheten, die doch so scharf und klug blicken konnten. Er erhebt die Hand mit jenen charakteristischen, abgerundeten Bewegungen — und das Tosen des erregten Kongresses weicht atemloser Stille. Und seine klare, weittragende Stimme, die auf alle rhetorischen Effekte verzichtet, weckt rauschartige Begeisterungsstürme, über all seinem Wesen liegt schlichte Ruhe, die selbstverständliche Sicherheit und Anmut, welche sonst nur das Erbteil alter Aristokratenfamilien mit Generationen dauernder Hochkultur ist und aus dem leichteren Kampfe ums Dasein, dem Bewusstsein völliger Unabhängigkeit und unangefochtenen Ansehens folgt. Unter Juden finden wir diese Eigenschaften fast nur bei den Spaniolen, den Nachkommen spanischer Juden, deren Körper und Geist frei geblieben war von den Folgen mittelalterlicher Bedrückung. Und wirklich entstammt Herzl einer spanisch-jüdischen Familie, als deren einziger Sohn er am 2. Mai 1860 in der Tabakgasse zu Budapest geboren wurde.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls