Der VI.(Baseler) Kongress.

Diesen von hochherziger Gesinnung diktierten Vorschlag Englands hat Theodor Herzl dem ereignisreichen sechsten Kongreß unterbreitet, der am 23. August 1903 in Basel zusammentrat. Aber er hat auch sogleich in der Eröffnungsrede seine, die Entscheidung stark beeinflussende Meinung dahin ausgedrückt, daß es sich zwar nur um eine „Kolonisationsaushilfe“ handele; daß das jüdische Volk kein anderes Endziel haben könne als Palästina, und seine Anschauungen über das Land seiner Väter unabänderlich seien; daß aber der Kongreß Mittel finden könne, von dem Anerbieten Gebrauch zu machen. Denn es handle sich darum, die Lage des jüdischen Volkes zu bessern und zu erleichtern, ohne daß irgend etwas von den großen Grundsätzen aufgegeben werde, auf denen die Bewegung gegründet sei. „Zion ist dies freilich nicht und kann es nie werden. Das Zeichen zum Aufbruch können und werden wir unseren Massen daraufhin nicht geben.“

Herzl hat diese Form der Kundgebung in der Eröffnungsrede, die ihm von den sogenannten „Neinsagern“ sehr verübelt worden ist, nicht eigenmächtig gewählt. Sie ist vielmehr in einer Vorversammlung von Führern der Bewegung gewünscht worden, die vor dem Kongreß stattfand*).


*) Bei Mr. Cowen in Basel. Anwesend waren, soweit ich feststellen konnte, u. a. Mandelstamm, Wolffsohn, Jelski, Marmorek, Cowen, Kohan-Bernstein, Zangwill, Tschlenow, Katzenelsohn. Herzl war während der Beratung abwesend. Als man ihm das Ergebnis mitteilte, trug er den Entwurf der Kongreßrede vor. Man debattierte dann über den einschränkenden Satz: „Zion ist dies freilich nicht und kann es nie werden“.

Aber bald erwuchs unter den Delegierten eine starke Opposition gegen den Vorschlag. Der Kongreß ist in zwei Parteien gespalten und es kommt zu dramatischen Szenen. Man verlangt heftig, Herzl solle El Arisch nehmen, das sich wohl zur Ansiedlung eigne, und er solle Ostafrika ablehnen, das gänzlich außerhalb des Baseler Programms liege. Man verdächtigt ihn, er wolle Palästina aufgeben, obwohl er die Unabänderlichkeit seines Festhaltens an Erez Israel wiederholt beteuert, und obwohl Greenberg sehr klar die Intentionen der Verhandlungen von zionistischer Seite mit den Worten kennzeichnet: „Der Weg nach Palästina ist nicht nur notwendigerweise immer ein geographischer Weg, der politische Weg darf auch nicht aus den Augen gelassen werden.“ Ein Teil des Kongresses gerät in einen Erregungszustand, der ruhigen Erwägungen überhaupt nicht mehr zugänglich ist und am besten mit Nordaus Worten gekennzeichnet wird: „Wir sagen: Das Ziel bleibt unverrückbar. Dieses Ziel heißt Zion. Wir stehen auf dem Baseler Programm. Man kann uns die Füße abhauen; man kann durch die äußere Gewalt das Baseler Programm zerstören, niemals aber wird man uns mit heilen Beinen, lebendig, vom bestehenden Baseler Programm wegrücken.“ Und Sie erwidern: „Wir haben ungeheuer viel Vertrauen zu Ihnen; folglich nehmen wir an, daß Sie sicher vom Baseler Programm abgehen wollen.“

Nach einer überaus stürmischen Debatte wird schließlich der Antrag angenommen, eine Kommission von neun Mitgliedern zu ernennen, die dem AC. bei Entsendung einer Expedition nach den zu erforschen» den Gebieten beratend zur Seite stehen soll. Der Beschluß über die Besiedelung Ostafrikas selbst wird einem besonderen Kongresse vorbehalten. Infolge der Abstimmung verlassen die „Neinsager“ oder „Zione Zion“, wie sie sich selber nennen, den Saal. Sie glauben, daß Palästina aufgegeben sei und ein Teil von ihnen bricht in Jammern und Klagen aus. Schließlich geht Herzl, den diese grundlose Verzweiflung tief ergreift, in ihre Versammlung, die bis zum Morgen tagt. Er weiß sie in seiner gütig-überlegenen Art zu beruhigen und zur Wiederkehr in den Kongreß zu bewegen*),

*) „Man kam zu mir und sagte: ,Diese Leute weinen draußen’. Da verstand ich, daß Ihr nicht demonstriert habt, sondern daß Ihr einer unwillkürlichen Regung gefolgt seid, weil Ihr das Baseler Programm für angegriffen hieltet. Deshalb kam ich zu Euch, um Euch Erklärungen abzugeben. Es ist ein Mißverständnis, das Baseler Programm bleibt ganz und unangetastet.“ Rede Herzls vor den Neinsagern nach der Niederschrift von Wladimir Jabotinsky; vgl. Nummer der Welt vom 5. Juli 1914. Jabotinsky, selbst ein Neinsager, bemerkt hierzu: Es gab Augenblicke, wo ich dachte, jetzt würden Proteststimmen laut werden — aber alles schwieg. Beim ersten Satz schon verstand ich nach dem Ausdruck, den fast jedes Gesicht im Saale annahm, nach der besonderen Stille, die sofort eintrat, die Bedeutung der historischen Worte Lomonosows: „Eher kann ich die Akademie ausschließen, als die Akademie mich“.

Neben diesen Vorgängen sind alle anderen Verhandlungen zu halber Interesselosigkeit verurteilt.

In der Schlußrede — den letzten öffentlichen Worten, die er gesprochen! — sagt Herzl: „In keiner Stunde und mit keinem Gedanken ist das Baseler Programm verlassen worden . . , Brauche ich denn Bürgen? Es ist vielleicht das erste unbescheidene Wort, das man mir vorwerfen kann, das ich von dieser Stelle spreche: Der Bürge bin ich selbst, daß an diesem Baseler Programm, an dem ich mitgewirkt habe, nichts geändert wird . . Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, verdorre meine Rechte!“

Unmittelbar nach dem Kongreß wird er auf die Mainau zum Großherzog von Baden beschieden, der sich eingehend unterrichten läßt und sein erneutes Interesse erweist.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls