Der Judenstaat.

Zwei Weltanschauungen waren zusammengetroffen. Zwei Männer von großer Opferbereitschaft für ihr Volk, die einander nicht sogleich verstanden. Herzl ist dem großen Philantropen nicht mehr begegnet, hat ihm selbst den Judenstaat nicht übersandt.

Und doch hat er in sein Tagebuch geschrieben, als er Hirschs am 21. April 1896 erfolgten Tod erfuhr: „Es kommt mir vor, als wäre unsere Sache heute ärmer geworden“*).


In der nun folgenden Zeit ist der „Judenstaat“ entstanden, der die Welt gleichzeitig verblüffen und begeistern, Herzl zum Führer der zerstreut lebenden Zionisten erheben und eine ganze Sturmflut von Hass entfesseln sollte. Herzl verwahrt sich in der Vorrede dagegen, eine Utopie geschrieben zu haben, sucht dann den Antisemitismus zu erklären und wendet sich gegen die Assimilation, die nicht unrühmlich, aber undurchführbar ist. Denn die alten Vorurteile gegen uns sitzen zu tief im Volksgemüt: das Märchen und das Sprichwort sind antisemitisch. Er verlangt, die Judenfrage als nationale Frage zu lösen. „Wir sind ein Volk. Ein Volk!“

Wer sich als israelitischen Franzosen, Deutschen fühlt, den geht die Sache nicht an. Er spricht zu den deutschen, französischen Juden. Für die Reinheit der Idee und die Kraft ihrer Ausführung fordert er Bürgschaften: Als moralische Person, die Subjekt von Rechten außerhalb der Privat-Vermögenssphäre ist, die Society of Jews. Daneben steht die juristische Person der Jewish Company, die ein Erwerbswesen ist. Die erstere soll also etwa die soziale Gemeinschaft, die staatsbildende Macht, die letztere den Staat als handelnde Organisation schon in der Diaspora vertreten. Allmählich sollen die Juden aus ihren Positionen in das neue Land abziehen. Die Jewish Co. liquidiert ihren Besitz, bereitet das neue Heim vor. Nach Palästina oder Argentinien gilt ihm gleich. Aber nicht heimlich, auf dem falschen Wege der „Infiltration“, die zu Einwanderungsverboten führen müsse. Nur auf der Grundlage gesicherter Souveränität.

*) Vgl. Anm. zu den Zionistischen Schriften, Bd. II, S. 291/92.

Die ungelernten Arbeiter finden zunächst lohnende Beschäftigung bei Erdarbeiten, Bauten und dergleichen Unternehmungen.

Der Siebenstundenarbeitstag wird eingeführt. Er gilt als „Weltsammelruf“ für die Armen, die wirklich in ein gelobtes Land kommen sollen. Jeder Bedürftige erhält leichte, ungelernte Arbeit. Aber auch die reichen Juden werden kommen: sie brauchen ihre Feste nicht mehr hinter verhängten Fenstern zu geben. Das Geld soll von der Hochbank beigebracht werden, wenn sie klug ihren Vorteil erkennt. Wenn nicht, so wird an die besitzende Mittelschicht appelliert, wie man das in katholischen Kreisen wiederholt versucht hat. Versagt auch diese, so muss man direkt das Volk, den armen Mann, auch den Christen aufrufen, ein Plebiszit durch die Zeichnung veranstalten. Das alles mit Hilfe der beteiligten Regierungen.

Man wird in Gruppen ausreisen, die Rabbiner an der Spitze; werden doch die Geistlichen den Plan zuerst begreifen. In den Gruppen werden die Stadtpläne ausliegen. Der Mittelstand wird unwillkürlich dem Zuge der Armen sich anschließen infolge seiner Beziehungen zu ihnen, der allgemeinen Wertsteigerung in Palästina während der Dauer der Wanderung und der steigenden Kultur. Das religiöse Gefühl, die Sehnsucht nach einer Heimat werden die Menge treiben.

Die Society of Jews als negotiorum gestor, der „neue Moses der Judenheit“, versteigert statt für Geld für Leistungen Plätze und Städte, verteilt als Belohnung für größere Opfer Universitäten, Hochschulen, Staatsinstitute. Sie arbeitet die Verfassung aus, möglichst in der Form der aristokratischen Republik.

Da wir nicht hebräisch miteinander reden können, wird jeder seine Sprache behalten, wie das bei der Bildung der Schweiz der Fall war. Nicht an der Sprache, am väterlichen Glauben erkennen wir uns. Dennoch soll Glaubensfreiheit herrschen. Auch der Fremdnationale soll gleichberechtigt sein, wie der Einheimische. Hatten wir doch Zeit, Toleranz zu lernen! So wird „ein Geschlecht wunderbarer Juden aus der Erde wachsen. Die Makkabäer werden wieder aufstehen. Noch einmal sei das Wort des Anfangs wiederholt: die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben*).“

Herzl wusste, als er seine Gedanken zu Papier brachte, daß eine Menge von Einwendungen und scharfe Bekämpfung seiner harrten. Dass viele ihn für einen hoffnungslosen Phantasten erklären würden. Aber das Wort „unmöglich“ hat in seinem Sprachschatz nie existiert. Er hat sich stets an Carlyle gehalten, der sagt: „Strecke deine Hand aus in Gottes Namen; wisse, daß das Wort „unmöglich“ da, wo Wahrheit und Erbarmen und die ewige Stimme der Natur befehlen, in dem Wörterbuch des braven Mannes keinen Platz hat. Dass, wenn alle Menschen „unmöglich“ gesagt haben und geräuschvoll anderswohin getaumelt sind, und du allein noch übrig geblieben bist, dann erst deine Zeit und Möglichkeit gekommen ist. Nun bist du an der Reihe! Tue es und frage keinen Menschen um seinen Rat, sondern bloß dich und Gott“**).

Und wirklich war seine Situation nach Abfassung der Schrift eine fast unmögliche. Wohl hatten die „Makkabäer“ in London ihn nach einem Vortrage am 24. November 1895 zum Ehrenmitglied ernannt. Aber wirkliche Förderung hatte er zunächst nicht erfahren, wenn auch die Führer der englischen Chowewe Zion auf ihn aufmerksam geworden waren. Bei seinen nächsten Freunden begegnete er völligem Mangel an Verständnis.

*) Ein Teil der sehr interessanten „Einfälle zum Judenstaat“ ist in der Herzl-Gedenknummer der „Welt“ Nr. 27 vom 5. Juli 1914 von Leon Kellner veröffentlicht worden.

**) „In dieser Stadt Wien habe ich mich eines Tages von meinem ganzen Lebenskreise, von allen meinen Bekannten und allen Freunden losgesagt, und bin als ein einsamer Mensch für das eingetreten, was ich für richtig gehalten habe. Ich habe nicht das Majoritätsbedürfnis, ich brauche keine Majorität. Was ich brauche, ist nur, daß ich mit meiner eigenen übers Zeugung im Reinen bin. Dann bin ich zufrieden, selbst wenn kein Hund von mir ein Stück Brot annimmt.“ (Stenogramm der Sitzung des großen A. C. vom 11. IV. 04. Rede Herzls gegen die Charkower.)

Baron Hirsch starb in dem Augenblick, als Herzl sich entschloß, ihm den Judenstaat zu übergeben. Nur ein Mann, ein Schriftsteller von europäischem Rufe und großzügiger Persönlichkeit trat entschlössen neben ihn, um in dem beginnenden Kampfe Schulter an Schulter mit ihm zu streiten: Max Nordau. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, Nordaus zionistisches Wirken zu würdigen. Es gehört der Geschichte an und kann niemals hoch genug bewertet werden. Aber es soll doch festgestellt werden, daß Herzl mit geradezu seltener Liebe und Verehrung an seinem „teuren und großen Freunde“ hing. Diese Beziehungen sind trotz mancher sachlichen Differenz, z. B. in der Ugandafrage, bis zu Herzls Tode die ungetrübtesten geblieben*).

*) Nordau war gegen Ostafrika und hatte sich nur den Wünschen Herzls folgend zu der Rede für das „Nachtasyl“ entschlossen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls