Der IV. (Londoner) Kongress.

Montag, den 13. August, trat der vierte Kongreß in der Queens Hall in London zusammen. Herzl war kurz vorher im Langham Hotel erkrankt und man zweifelte bereits an seinem Erscheinen. Aber sein Wille zwang den Körper. Vom Krankenlager fuhr er zwei Tage vor dem Kongreß in die Great Assembly Hall, wo 8000 Menschen seiner harrten. Die erregte Menge erbrach die Türen des Hauses und trotzte einem Heer von Ordnungsbeamten. Cowen, Gaster, Zangwill, Nordau, Mandelstamm, Herzl sprachen unter endlosem Jubel; das ganze East End war in fiebernder Bewegung. Herzl selbst trug noch deutliche Spuren der eben überstandenen Krankheit, aber am Tage der Kongreßeröffnung hatte er die alte Spannkraft wiedergefunden. Er will in seiner Eröffnungsrede die Frage nach der bereits erfolgten Erlangung des Charters mit „Nein“ beantworten. Aber ebenso laut gibt er der Hoffnung Ausdruck, daß er ihn erreichen werde. Dann verläßt er die Verteidigungsstellung und geht selbst zur Frage über an seine jüdischen Gegner: „Was sind eure Resultate zur Linderung der Judennot in all diesen Jahren? Wo sind die Resultate? Heraus mit den Leistungen! Heraus mit den Ergebnissen! Wir möchten sie gern bewundern und ihnen im Namen der Armen danken.“ Das Ganze wird zu einer bitteren Anklage der Gleichgültigkeit und Trägheit seiner Zeit.

Dann folgt Nordau mit seiner Rede über die Lage der Juden. Er spricht besonders von den rumänischen Judenverfolgungen. Mit seinem großartigen Bilde des Zuges der Vertriebenen, „die planlos wandern wie ein Zug nordischer Lemminge, über dem Raubvögel schweben, um den Raubtiere schweifen, die sich nach Belieben ihre Opfer aus dem Zuge herausholen“, die jedermann von sich scheucht, ins Unbekannte, ins Blaue, nur weg, weit weg — erzielt er eine namenlose Erschütterung der nach Tausenden zählenden Zuhörer. Es ist einer der Höhepunkte der Kongresse, wie man sie heute nicht mehr kennt. Mandelstamm spricht über die körperliche Hebung der Juden, die Lebensweise des Ghettos und die nötigen Reformen. Auch er ist von großer Wirkung, wie denn überhaupt der Londoner Kongreß nach außen hin eine ganz außerordentliche Demonstration bedeutet hat. Nach innen hin wird wiederum über agitatorische und Organisationsfragen beraten. Herzl versichert wiederholt, man werde nichts gegen die Religion und ihre Vorschriften tun, verlangt aber auch Einstellung der Agitation gewisser orthodoxer Kreise gegen die Kongresse. Er beherrscht diesen Kongreß wie keinen zuvor, es findet sich kaum eine Opposition. In seinem Schlußworte gibt Sokolow der Stimmung Ausdruck, wenn er sagt: „Ich fühle das Unzulängliche in dem Titel, wenn ich den Mann, der unseren Stolz, unser Programm bildet, nur unseren Präsidenten nenne.“ Dem entspricht der publizistische Erfolg. Daily News, Globe, Graphic, Sun, St. James Gazette und viele andere erklären, die Verwirklichung der politischen Bewegung hänge nur von dem zielbewußten Willen der Judenheit ab. Die English Zionist Federation verlangt in einem Rundschreiben an die Kandidaten für die eben stattfindenden Parlamentswahlen deren Stellungnahme zum Zionismus. Fast hundert versprechen im Falle der Wahl ihren Einfluß im Parlamente zu seinen Gunsten einzusetzen.


Auch die Regierung, insbesondere Lord Salisbury, beginnt sich zu interessieren*). Der Zionismus gewinnt in England außerordentlich an Bedeutung.

*) Z. B. vgl. „Welt“, Nr. 44, S. 12 von 1900: Salisbury erklärt den Judenstaat in einem Interview für möglich und nützlich.

Der Ausbau der Organisation beginnt sich bemerkbar zu machen. In Deutschland verlangen die Zionisten in zahlreichen Versammlungen einen Judentag nach dem Vorschlag Professor Philippsons, den die liberale Presse, soweit sie Juden gehört, bekämpft. In Österreich beteiligen sie sich an den Gemeindewahlen und erringen in Wien starke moralische Erfolge. In Bulgarien erobern sie das Landeskonsistorium. Herzl führt oder unterstützt alle diese inneren Arbeiten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls