Der Dreifußprozess.

Da kommt der Dreifußprozess und erschüttert ihn im tiefsten Innern.

Er sieht „den Wunsch der ungeheuren Mehrheit in Frankreich, einen Juden und in ihm alle Juden zu verdammen . . . Seither ist das „Nieder mit den Juden“ ein Feldgeschrei geworden. Wo? In Frankreich, im republikanischen, modernen, zivilisierten Frankreich; hundert Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte . . . Wenn ein im übrigen fortschreitendes, gewiss hochzivilisiertes Volk auf solche Wege gelangen konnte, was war von anderen Völkern zu erhoffen, die heute noch nicht auf der Höhe sind, auf der die Franzosen bereits vor hundert Jahren hielten ?“*).


Beim Anhören der Verhandlungen in Paris, beim Anschauen der aufgepeitschten Instinkte der vor Hass heulenden Menge, geriet Herzl in schwere seelische Konflikte. Sein eigenes Ehrgefühl war in dem französischen Capitaine zu Tode getroffen, seine eigene Würde in der eines ganz fremden, ihm nicht einmal sympathischen Juden aufs schwerste verletzt. Und aus der klaren Erkenntnis, daß er sich selbst nur wiederfinden könne, wenn er die eigene Persönlichkeit auf neuen Voraussetzungen wieder aufbaue, erstand das starke und tiefe Gefühl der Zugehörigkeit zu seinem Stamme. Das halbschlummernde Volksgefühl erwachte in ihm von neuem mit der Kraft einer Offenbarung. Einer Offenbarung, die ihn gerade deshalb bis zum Missionsgefühl begeisterte, weil er von anderen Männern mit gleichartigem Empfinden nichts wusste, seine Ideen für völlig original hielt und ihm nicht einmal der Gedanke kam, daß sie sich logisch aus dem Werdegang, der vererbten Empfindung gleichzeitig seelisch Erschütterter ergeben mußten. „Was ist eine Nation?“ so meditiert er, „eine historische Menschengruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit, die durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten wird . . . Der Feind macht uns ohne unseren Willen zum Volke.“ Herzl erkennt also zunächst nicht einmal die nationalen Instinkte. Und gerade deshalb erscheint ihm der Gedanke des Juden-Staates wie eine Art von Erleuchtung aus einer anderen Welt.

*) „Zionismus“ a. a. O.

Freilich gehört zu solchen Bekenntnissen und Erlebnissen ein Mensch ganz ohne Vorurteile, eine Persönlichkeit von jener Größe der Anschauung, der das gesellschaftliche, religiöse und politische Milieu nicht zur Denkeinschränkung geworden ist. Wer im Alltag wurzelt, das Glück oder ein Surrogat davon im Behagen seiner Tätigkeit sucht, kann sie niemals finden. Nur wer sich gewöhnt hat, die Dinge voraussetzungslos von der höchsten Warte zu betrachten, sub specie aeternitatis, kann im Ahnen der großen Zusammenhänge ein Werkzeug der Macht werden, die wir empfinden, wenn auch nicht verstehen. Deren Zwecken die höchststehenden von uns dienen dürfen, weil sie in der Weite ihres Verständnisses wenigstens ein undeutliches Klingen aus anderen Sphären vernehmen, wo nicht in Worten, sondern in Empfindungen geredet wird, wo durch sie Ziele gesucht werden in fernen Weiten. Der Alltagsmensch fühlt nichts davon und belächelt sie selbstzufrieden und überlegen. Im Genie aber entzündet das kurze Aufblitzen höherer Erkenntnis eine seltsame Unruhe, die erhabene Gemütsstimmung der Produktion. Kunstwerke und Ideen und große Taten werden geboren, geschaffen aus dem Geiste, dessen Adlerschwingen Herzl über seinem Haupte rauschen zu hören glaubte, als er den Judenstaat schrieb. Es war ein Nachfühlen des ewigen Schöpfungsdranges, wie es stets der große Staatsmann gleich einem Künstler erfährt. Denn beide stellen das vor ihrer Seele fertig erstandene Werk durch ihre Tätigkeit plastisch in die Wirklichkeit hinein. In Unruhe, krankhaftem, sich übersprudelndem Tätigkeitsdrang, wie ihn Herzl von sich selbst berichtet: „stehend, gehend, liegend, auf der Gasse, bei Tisch, bei Nacht, wenn es mich aus dem Schlafe aufjagt“, muss er schreiben. Ein Freund nimmt ihm große Teile der Berufsarbeit ab, weil er sie nicht leisten kann. Der Drang ist zu qualvoll erregend. Denn der Gedanke wird voll Glücksgefühl empfangen. Geboren wird er gleich seinem menschlichen Träger mit Schmerzen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls