Das Wesen der Politik Herzls.

Die Reise zu Plehwe, die Herzl für einen seiner größten Erfolge gehalten hat, zeigt deutlich das Wesen seiner Politik im Gegensatz zu anderen Strömungen in der Bewegung. Für ihn ist das Ausschlaggebende nicht die Schaffung eines geistigen Mittelpunkts, der das Judentum erhält und die Diaspora befruchtet, auch nicht die praktische Kleinarbeit, die dem einen oder anderen zu helfen sucht; vielmehr erstrebt er die schnelle und umfassende Erlösung des ganzen Volkes oder doch seiner leidenden Überzahl durch politische Verhandlungen. Er versteht sehr wohl die Notwendigkeit, auch praktisch etwas zu tun*), verhandelt über den Ankauf geschlossener größerer Landkomplexe und freut sich über Fortschritte der hebräischen Sprache.

*) Unterstützt z. B. auf Ussischkins Bitte die „Geulah“, s. „Welt“ vom 30. Oktober 1903 und Stenogramm der Sitzung vom 10. bis 15. April 1904. Er beschäftigt sich schon 1902 mit der Frage des Anbaus von Baumwolle auf Plantagen. Korrespondenz mit Herrn Said-Ruete.


Er veranlaßt Bewilligungen für die Nationalbibliothek und die Schule in Jaffa. Aber das alles sind ihm nur Einzelbestrebungen, die niemals das Wesen der Bewegung ausmachen dürfen, wenn sie nicht vom Wege abirren soll. Die Kulturbewegung erscheint ihm verfrüht und überhastet. Nicht, weil er sie nicht verstünde, sondern weil er von ihr Kämpfe im Innern und nach außen, das Ausfechten religiöser Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation und als Folge kultureller, besonders weitgehender sprachlicher Sonderbestrebungen politische Schwierigkeiten in den Aufenthaltsländern fürchtet, weil er nur an eine organische Kulturentwicklung auf dem Boden Palästinas im eigenen besiedelten Lande glaubt und sie im Golus für unorganisch und unmöglich hält*). Und die in der Kleinkolonisation liegende Hilfe für den einzelnen hält er für die Aufgabe der Kolonisationsvereine.

*) Vgl. Stenogramm des III. Kongresses. Außerdem zahlreiche Äußerungen in Privatgesprächen.

Ihr kann und will er nicht seine Existenz widmen, sie ist eben nur eine Wohltätigkeitssache, Almosenfrage, wenn sie auch mit noch so viel Geld betrieben wird, und kann nie die Judenfrage lösen. „Argentinien ist eine Art Königsgrab für Hirsch“*). Auch er lehnt die Wohltätigkeit nicht ab, aber er verdammt ihre Ausübung am einzelnen: „Wohltätigkeit an einem ganzen Volke ausgeübt, heißt Politik, und die Wohltätigkeit, die ein Volk zu seinem eigenen Gedeihen auszuüben versucht, ist die Politik eines Volkes. Es gibt keine Politik, die nicht von Absichten der Wohlfahrt durchdrungen ist“**). Dem Volke will er helfen, nicht dem Lande. Allerdings dem Volke in seinem Lande. Wem immer der Leiter solcher Politik der großen Volkshilfe, der Erlösung durch Wiedergewinnung des Heimatbodens, die Hand reichen muß, wem er auf solchen von Liebe zu den Seinen diktierten Pfaden zu begegnen gezwungen ist, das muß ihm gleich gelten. Er strebt nach geheiligten Zielen und darf sich nicht von kleinbürgerlichen Bedenken leiten lassen. Darum schweigt er über seine Erfolge in Rußland und läßt lieber die Nörgler und Kritiker, denen seine Arbeit ja erst Bedeutung und ein öffentliches Forum geschaffen hat, gegen sich angehen, als daß er das Ergebnis seines Handelns durch Rechtfertigungen gefährdet, die ihm persönlich nützen könnten.

*) Rede in Berlin 1898.

**) Ebendaselbst.


Man hat Herzl auch Ruhmsucht und Haschen nach schnellen Erfolgen vorgeworfen. Gewiß war er ehrgeizig, aber nur im höchsten Sinne des Wortes. Optimus ipse gloria ducitur. Er verlangte Anerkennung, aber nicht vom lebenden Geschlecht. „Ruhm besteht nicht im Beifall der Menge,“ pflegte er zu sagen, „sondern im Urteil der Geschichte. Je größer ein Mensch ist, desto länger kann er darauf warten, daß man ihn versteht, sei es auch erst in fernen Tagen.“ Vor dem Richterstuhl der Nachwelt bestehen zu können, das war sein Ehrgeiz, aber eine Triebfeder zum übereilten Handeln im eigensüchtigen Sinne ist er ihm nie gewesen. Für sich selbst hatte er keine schnellen Erfolge nötig. Aber er brauchte sie allerdings für sein Volk. Er brauchte sie, weil das Leben der Seinen unerträglich war, und noch aus einem anderen Grunde: weil er wußte, daß er mit den Lebensjahren rechnen mußte und daß er nicht lange würde helfen können*)**). „Skorej“, schneller, war das erste Wort, das er auf russisch erlernen wollte. Er war sich nur zu klar, daß er Eile hatte. Und er schont sich nicht. Wenn er 28 Stunden ins Pustertal fährt, um Vámbéry für drei Stunden zu sprechen, ruhelos von Konstantinopel nach London eilt, unaufhörlich Europa durchquert, so folgt er dem kategorischen Imperativ der Pflicht, der ihn selbst das eigene Leben in die Schanze zu schlagen heißt, um seine Mission zu erfüllen. —

*) Schon im Jahre 1902 befallen ihn heftige Herzkrämpfe und während des V. Kongresses hat er Anfälle von hochgradiger Herzinsuffizienz.

**) Herzl hat immer an das Fortbestehen der Bewegung — nicht nur der Idee — nach seinem Tode geglaubt. Er sagte dem Verfasser am 15. März 1903 in Wien: „Wenn ich ein Verdienst habe, ist es, alles unpersönlich eingerichtet zu haben. Wenn ich heute sterbe, geht die Maschine glatt weiter. Man wird mir einen schönen Nekrolog halten, so und soviele Vereine werden mich ins Goldene Buch eintragen lassen. Aber sonst ändert sich nichts. Alle Herren des kleinen AC. sind unterrichtet, und wenn mein Nachfolger nicht dieselbe Autorität genießt, so ist es ganz gut. Er soll sich Vertrauen erwerben.“ Andererseits wußte er, daß die politische Arbeit bei seinem Hingang gefährdet sei, denn diese Tätigkeit hing an der Personenfrage: „Da können Sie nichts machen. Wenn Sie z. B. eine sehr starke mit großen Mitteln, z. B. der ICA, ausgestattete Organisation wären, und wenn Sie Millionen von Anhängern hätten und eine Führung hätten, die nicht jeden Augenblick herunter greift in die allgemeine Lage, heute in Frankreich, morgen in Italien, übermorgen in England, so ist die zionistische Bewegung das Spiel von Redensarten . . . Die Organisation kann's nicht, nicht weil sie dümmer wäre oder einzelne ungeschickter sind als ich, sondern weil sie eine Vielheit, eine Menge ist. Das kann nur von einzelnen geschehen. Ich hätte nur den Wunsch, daß ich viele Gehilfen hätte. Ich habe einige. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß man aus der Organisation heraus das Ziel erreichen könnte . . . Was sie kann, ist, sich mit dem Volke in Verbindung setzen, seine Wünsche erforschen.“ (Stenogramm der AC-Sitzung vom 12. April 1904, S. 452ff.)



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls