Das Judentum vor Herzl.

Zehn Jahre sind vergangen, seit Theodor Herzl uns entrissen wurde — ein langer Zeitraum im Dasein des einzelnen, dessen ganzes Wesen, Denken, Empfinden er oft umgestaltet. Die Völker leben langsamer, und ihre Persönlichkeit unterliegt sehr allmählichen Wandlungen, Deutsche, Engländer, Russen blieben viele hunderte Jahre unverändert, so daß man typische Charaktere für ihre Wesensart erfand. Unter gleichbleibenden oder doch wenig veränderten Verhältnissen schuf sich die Menge ein Volksideal. Der einzelne bildete sich nach dieser Idealfigur aus, nahm durch Willen und Vererbung ihre Eigenschaften an. So entstanden der deutsche Michel, Ilja von Murom, John Bull. Aber im Leben jedes Volkes kommen Momente, meist begleitet von schweren äußeren oder inneren Erschütterungen, die seine ganze Wesensart umformen, indem sie ihm andere Ziele geben, für welche es neue und bisher weniger geschätzte Eigenschaften herausbilden muss. Dann verändert die Menge ihr Ideal, schafft sich neue Vorbilder, und ihr ganzer Charakter gestaltet sich um. In solchen Tagen jubilieren die Jungen, und die Alten klagen, weil wieder mal eine „gute alte Zeit“ zugrunde geht. Was ist im Zeitalter der Maschinen und des Militarismus vom deutschen Volkscharakter der Zeit Goethes geblieben? Damals wimmelte Deutschland von empfindsamen jungen Werthers und Lotten, von Romantikern der Tat und der Feder. Damals lebte der fromme, schwärmende, naivgeduldige Michel noch. Heute wird man ihn vergeblich suchen. Die Romantiker werden belächelt, die Frommen bespöttelt. Und man wird den Durchschnitt unserer Jugend weder für naiv noch besonders geduldig erklären dürfen! Ob man sich nun über diese Entwicklung freut, oder sie beklagt — sie war selbstverständlich für ein Volk, das unter normalen Verhältnissen lebt und mit seinen Aufgaben fortschreitet.

Nur die Art der Juden war es durch viele Jahrhunderte, den Dingen und Ereignissen nachzuhinken. Sie waren immer das, was sie hundert oder zweihundert Jahre früher hätten sein sollen: Scholastiker zur Zeit der Luther und Reuchlin, Mystiker und Anhänger des Sabbatai Zewi, als die Naturphilosophen zu lehren begannen und die Schranken zwischen den Völkern fielen. Sie waren Kosmopoliten, als die ganze Welt von nationalistischen Theorien widerhallte, und die Völker in blutigen Kriegen ihre Eigenexistenz errangen. Die Juden tragen heute noch im europäischen Osten die Tracht deutscher Hausväter des Mittelalters. Sie reden dort den altdeutsch-jüdischen Jargon, im Orient das Idiom des alten Kastilien. Sie waren, unter Elend und Not endloser Bedrückung, Menschen geworden mit erstorbenen Sinnen, lebend in einer fremden Welt, unberührt von dem Wirken und Treiben des großen Menschheitsstromes. Nach innen gekehrt war ihr geistiges Empfinden, nach rückwärts ihr politisches Denken. Ihr Stolz erschöpfte sich im Preisen der Taten biblischer Helden und des Umstandes, daß Don Joseph dereinst Herzog von Naxos geworden war. Die Gegenwart war nüchtern und vom Alltag des Kleinbürgertums erfüllt, die irdische Zukunft leer und ohne Hoffnungen. Eine Generation nach der anderen wuchs heran, gelangweilt von den matten, glanzlosen Bildern halbverblasster und leidenerfüllter Historie, immer kritischer durch Wissen und Erkenntnis, ohne Tradition und ohne Ideale. Nach welchem Vorbilde sollte sich die jüdische Jugend Deutschlands, Rußlands Englands, Österreichs erziehen? Dem jüdischen Wesen behagten die Werther und Lord Byron so wenig, wie englischer Sportsinn und preußisches Reserveoffizierstum. „Es war niemand da,“ sagt Herzl dem Baron Hirsch, „der uns — wäre es auch nur aus monarchischem Eigennutz — zu rechten Männern erzogen hätte.“ So zerfiel das Judentum mehr und mehr. Die fatalistische Auffassung, daß die Auflösung nicht mehr abzuwenden sei, war in Westeuropa wenigstens Gemeingut der gebildeten Kreise. Und im Streben nach äußerlicher Assimilation, nach finanziellen und gesellschaftlichen Erfolgen, suchte das intellektuelle Judentum Ersatz für jenes idealistische Gesellschafsstreben, das man als zwecklos, ziellos empfand, da man doch einer untergehenden Gemeinschaft angehörte.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls