Aufenthalt in Wilna.

Auf der Rückreise von Petersburg besucht er Wilna, denn er will das Volk sehen und kennen lernen. Schon bei der Ankunft ist er Gegenstand einer unbeschreiblichen Begeisterung. Er wird wie ein König begrüßt. Eine schwarze, unabsehbare Menschenmasse erwartet ihn und drängt sich lebensgefährlich in den engen Gassen. Die Polizei muß ihn bitten, in einem Hotel an breiter Straße abzusteigen, damit kein Unglück geschieht. Beim Empfang im Gemeindehaus erweist man ihm die ganz besondere Ehrung der Überreichung „des heiligsten und teuersten aus dem Besitz der Gemeinde“, der Thorarolle. Als der greise Rabbiner ihm mit zitternden Händen im Namen des auf Zion thronenden Gottes den Priestersegen erteilt, bricht die Versammlung in Schluchzen aus. Das Leiden und der Jammer eines ganzen Volkes durchbebt die Herzen der Umstehenden und mischt sich mit dem Empfinden der Dankbarkeit und Liebe für den Mann, auf dem alle ihre Hoffnung sich aufbaut.

Er ist gekommen, den Alltag des Volkes zu beobachten, aber die wachsende Erregung der Menschenmenge macht dies, wie den Besuch der Synagoge und anderer Anstalten unmöglich. Herzl muß sich darauf beschränken, in einzelne Häuser nahe dem Dorfe Werke zu gehen, wo man ihm ein Bankett gibt. Das Elend der Heimarbeiter, das er erschaut, erschüttert ihn tief, aber mehr noch die stumpfe Gleichgültigkeit, mit der diese Armut ihr Schicksal wie selbstverständlich trägt. „Wie könnt Ihr nur so leben?“ fragt er immer wieder seine Begleiter.


Bei der Abreise spielen sich wilde Szenen ab. Obwohl es ½ 2 Uhr nachts ist, halten Tausende die Straßen besetzt und belagern den Bahnhof, um nur einen Blick auf den geschlossenen Wagen werfen zu können. Die gegenüber diesen Gefühlsausbrüchen ratlose und mißtrauische Polizei requiriert Kosaken, welche die Menge mit der Nagaika auseinandertreiben, und in die brausenden Hedadrufe mischt sich das Jammern der Geschlagenen und Niedergerittenen. Herzl lernt nicht nur die Armut kennen, sondern auch die ganze Rücksichtslosigkeit brutaler Polizeiwillkür. Bleich und furchtbar erregt besteigt er den Eilzug, den noch immer und allen Maßregeln zum Trotz Menschen umdrängen, die gerade heute ihre bittere Hilflosigkeit dreifach empfinden. Und denen der Helfer scheidet, der sie aus Kummer und dumpfer Verzweiflung hinüber retten wird ins gelobte Land der Verheißung.

Die Not und der Jammer umschweben seine Träume, als der Zug durch die lithauische Ebene dahinbraust. Sie wollen nicht aus seinem Empfinden weichen und veranlassen ihn, wieder und wieder den Brief zu lesen, der ihn während des Aufenthalts im Hotel St. George in Wilna erreicht hat. Er war am 14. August von Sir Clement Hill, dem Abteilungsvorsteher für die Schutzgebiete im Foreign Office, an Mr. Greenberg gerichtet worden und sollte für den kurzen Rest von Herzls Leben bestimmend sein.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls