Das von Herzl verfasste Programm der „Welt“. 1897

Abgedruckt in der ersten Nummer des ersten Jahrgangs (1897)

Unsere Wochenschrift ist ein „Judenblatt“.


Wir nehmen dieses Wort, das ein Schimpf sein soll, und wollen daraus ein Wort der Ehre machen.

„Die Welt“ ist ein Blatt der Juden. Welcher Juden? Etwa der Starken, denen man ohnehin hilft? Nein, nein, die brauchen keine Unterstützung.

„Die Welt“ ist das Blatt der Armen, der Schwachen, der Jungen, aber auch aller derjenigen, die sich, ohne selbst in bedrängter Lage zu sein, zu ihrem Stamme heimgefunden haben. Wage es niemand, zu sagen, daß wir den Klassenhaß in das Judentum hineingetragen, wenn wir uns der Schwachen unter unseren Brüdern annahmen. In unseren Reihen stehen Männer genug, die weder „Proletarier“ noch Umstürzler, noch Tollköpfe sind. Die Sache, der wir dienen, ist groß und schön, ein Werk des Friedens, die versöhnende Lösung der Judenfrage. Ein Gedanke, wohl geeignet, edlere Menschen — sie seien Christen, Mohammedaner oder Israeliten — zu begeistern.

Wir möchten, um es mit den unseren Freunden schon vertrauten Worten zu sagen:

Eine völkerrechtlich gesicherte Heimstätte schaffen für diejenigen Juden, die sich an ihren jetzigen Wohnorten nicht assimilieren können oder wollen.

Unter der Zionsfahne finden wir uns zusammen. Blicken wir aber auch nach einem fernen Ziele, so dürfen und werden wir doch den heutigen Zuständen der Juden unsere Aufmerksamkeit nicht entziehen. „Die Welt“ soll dem jüdischen Volk eine Wehr und Waffe sein, und zwar eine reine Waffe. Gegen wen? Gegen seine Feinde — ohne Unterschied der Konfession.

Man erwarte dabei nicht, daß wir zur Sprache des Pöbels hinabsteigen, oder daß wir alles verherrlichen werden, was Juden tun und lassen. Eine redliche, ernste Selbstkritik muß dem Judentum ersprießlich sein, und die wollen wir üben, mögen auch manche darüber wehklagen, daß es „in dieser Zeit“ geschieht.

Eine der schwersten Folgen des Antisemitismus war es, daß „in dieser Zeit“ gewisse Leute eine Art von Straflosigkeit genossen. Was die Judenfresser von ihnen sagten, galt natürlich als wüste Übertreibung, und die anständigen Juden glaubten zu allem schweigen zu müssen. Daraus konnte eine Solidarhaftung aller für die Niederträchtigkeiten einzelner durch unsere Gegner konstruiert werden. Und gerade die Minderwertigen unter den Juden hatten eine Deckung an unseren Feinden, indes unsere Besseren in ihrem Ehrgefühl tief beleidigt wurden.

Die neue nationaljüdische Bewegung will auch darin Wandel schaffen. Von unseren Universitäten ist diese Bewegung vor fünfzehn Jahren ausgegangen, und es ist ihr ein Glanz von Idealen geblieben, selbst wenn sie nun seit Jahr und Tag in das praktische Leben hinausgetreten ist und mit dessen Bedingungen rechnet. Wie viele törichte Vorstellungen sind über unser wiedergeborenes Nationaljudentum verbreitet! „Die Welt“ wird sie zerstreuen. Man schilt uns durcheinander Reaktionäre und Revolutionäre, wo wir doch nur einen maßvollen gesunden Fortschritt wünschen. Wir hängen mit unserem Gemüt am Alten, das ist wahr, wir lieben die schöne kampf- und leidensvolle Vergangenheit unseres Volkes; aber wir wollen doch nicht in irgendeine Enge des Geistes zurück. Es ist nur die Aufgabe der Dichtung und Geschichtsschreibung, die wir nach Maßgabe des Raumes in der Zeitung pflegen werden, uns von den einstigen Zuständen zu berichten.

Solche Erinnerungen gehören uns allein, die Schönheit der Hoffnungen aber teilen wir mit allen Menschen. „In dieser Zeit“ des erneuten Judenjammers gehen auch gar herrliche Dinge in der Welt vor. Die Naturkräfte werden bewältigt, die Kultur erobert sich rastlos neue Gebiete, aus dem Verkehr der Völker entwickeln sich mildere Sitten, und eine tiefe Sehnsucht nach sozialen Reformen bewegt neben den Ärmsten auch die Besten. Die junge Männlichkeit des Nationaljudentums nimmt teil an allen diesen Arbeiten und Bestrebungen — nicht etwa zum egoistischen Vorteil unseres Volkes allein, sondern auch zum Wohle anderer Menschen. Das wird sich in unserer Zeitung ebenfalls erkennen lassen.

Und zwischen Erinnerung und Hoffnung steht unsere Tat. Auf Erforschung der Zustände, Erkenntnis der politischen Weltlage und Vereinigung aller Kräfte gründet sich unser Werk.

„Die Welt“ wird das Organ der Männer sein, die das Judentum aus dieser Zeit hinauf in bessere Zeiten führen wollen.

Wien, den 3. Juni 1897.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls