Akten des Schülervereins „WIR“

Akten des vom vierzehnjährigen Herzl gegründeten Schülervereins „WIR“

a) Grundregeln


des belletristischen Vereins „Wir“, verfaßt von Theodor Herzl,

angenommen in der 1. Sitzung, 22. Februar 1874.

A. Der Zweck. Wir bilden eine Gesellschaft, in welcher wir unser Wissen bereichern, indem wir kleine Erzählungen, Märchen schreiben, wodurch wir unsere Sprache bilden. Werke werden, wenn sie nicht besonders lehrreich sind, nicht empfangen.

B. Werke. Die Werke können der Geschichte, Sage oder Erlebnissen entlehnt werden, müssen aber immer in eine angenehme Form gekleidet sein.

C. Deren Recension. Die Werke werden immer zwei Kritikern zur Recension gegeben, falls Beide sie annehmen, so wird das Couvert erbrochen, und der Verfasser liest sein Werk vor, im entgegengesetzten Falle aber wird das Werk sammt dem unerbrochenen Couvert vor den Augen der Mitglieder verbrannt, um den Verfasser nicht von neuen Versuchen abzuschrecken.

D. Deren Einreichung. Die Werke haben ohne Unterschrift des Verfassers eingereicht zu werden, jedoch hat das Werk ein Motto zu tragen, welches auch auf dem Couvert steht, das den Namen des Verfassers birgt. Die Werke müssen sauber mit Tinte abgeschrieben dem Sekretär auf eine Art übermittelt werden, durch welche er den Verfasser nicht erfährt; auch werden die Mitglieder ersucht, keinerlei Andeutungen fallen zu lassen, durch welche die Recensenten ihrer Unparteilichkeit beraubt würden.

E. Declamation. Die Mitglieder werden ersucht, wenn sie deklamieren wollen, dies einige Tage vor der Sitzung dem Präsidenten mitzutheilcn, damit derselbe das Programm verfertigen könne. Auch werden dieselben ersucht nur solche Gedichte zu deklamieren, welche sie durchfühlen, und welche sie vollständig auswendig wissen.

F. Mitglieder. Mitglied kann nur der sein, welcher wenigstens von zwei Mitgliedern vorgeschlagen wird.

G. Bedingungen. Einzahlungen werden nicht geleistet; doch werden die Mitglieder ersucht, womöglich die anzulegende Bibliothek mit Beschenkungen zu bereichern.

H. Bibliothek. Die Bücher werden numeriert, und den Mitgliedern von einer Sitzung bis zur anderen geliehen. Versehen wird das Amt durch den Präsidenten.

I. Wahl. Bei der ersten Sitzung wird durch geheime Abstimmung Präsident und Sekretär gewählt, zur Recension kann der Präsident die Werke nach seinem Belieben geben.

K. Sitzung. Über die Zeit und den Ort der Sitzungen wird immer in der vorhergehenden Sitzung abgestimmt, wobei der Präsident bei gleichem pro und contra die entscheidende Stimme hat.

b) Hausordnung des „Wir“.

In Bezug auf den Präsidenten.

1. Hat der Präsident die Mitglieder während der Sitzung pr. „Sie“ anzureden.

2. Darf der Präsident den Mitgliedern nichts beleidigendes sagen.

3. Hat der Präsident jeden ausreden zu lassen und muß jedem Mitglied die Erlaubnis ertheilen, reden zu dürfen. Thut er dies nicht, so darf man sich die Erlaubnis selbst nehmen.

4. Hat der Präsident nur Anordnungen zu treffen, mehr ist seines Amtes nicht.

5. Darf der Präsident die Vorlesungen nicht unterbrechen.

6. Wegen unbedeutender Fehler darf der Präsident eine Arbeit nicht verwerfen.

7. Einen neuen Präsidenten darf man nur nach X Sitzungen wählen.

In Bezug auf den Sekretär.

1. Der Sekretär hat alle Arbeiten zu controllieren, zu welchem Zwecke er ein Protokoll führt.

2. Hat der Sekretär alle sonstigen Vorfälle ins Protokoll zu schreiben.

3. Hat der Sekretär alles, wie Einladungen, Aufsätze etc. zu schreiben.

4. Darf man auch nur immer nach 10 Sitzungen einen neuen Sekretär wählen.


In Bezug auf den Archivar.

1. Hat der Archivar alle angenommenen Arbeiten zu verwahren.

2. Hat der Archivar ein Register zu führen, in welchem der Titel der Arbeit, der Namen des Verfassers, die wievielte Sitzung es war, als die Arbeit vorgelesen wurde und endlich der wievielte Punkt des Programmes die Arbeit war.

3) Der Archivar hat dies nach Beendigung der Sitzung ungesäumt einzutragen.

In Bezug auf die Recensenten.

1. Recension soll nur bei Gedichten und ernsteren Erzählungen stattfinden.

2. Die Recensenten sollen in verschiedener Reihenfolge nacheinander kommen, doch muß jedes Mitglied während 6 Sitzungen wenigstens einmal recensiert haben.

3. Niemand soll ungerecht recensieren, es sollen daher bei jeder Arbeit zwei recensieren. Die anderen Mitglieder sollen dann entscheiden, wenn die Recension nicht übereinstimmt.

4. Die Reihenfolge der Recensenten bestimmt der Präsident.



In Bezug auf die Mitglieder.

1. Sollen die Mitglieder einander während der Sitzung pr. „Sie“ ansprechen.

2. Müssen die Mitglieder für eine Sitzung wenigstens eine Arbeit liefern.

3. Sollen die Mitglieder erst wohl überlegen, bevor sie eine Arbeit verwerfen.

4. Dürfen die Mitglieder während den Vorlesungen nicht hin und her gehen, nicht sprechen und keine Ausrufungen machen, überhaupt soll niemand geringschätzende Andeutungen machen.

5. Fehlt ein Mitglied, so muß es sich bei dem Präsidenten entschuldigen.

6. Sollen seitens der Mitglieder gegen niemand feindliche Anschläge geschmiedet werden, auch dürfen keinerlei Verdächtigungen vorkommen, wenn man seinen Verdacht nicht auf Beweise stützen kann.

7. Soll ein neues Mitglied angenommen werden, so müssen wenigstens zwei für die Annahme stimmen, sonst kann die Aufnahme nicht stattfinden.

8. Freie Vorträge sollen vorerst wohl überdacht werden, bevor man sie vorträgt.

9. Vorträge und Vorlesungen können nur aufs Verlangen aller Mitglieder unterbrochen werden.

10. Sollen die Mitglieder auf alles achten. Denn es sollen keinerlei Beleidigungen vorkommen.



Nachtrag.

Kann der Präsident einer Sitzung nicht beiwohnen, so bestimme er einen Stellvertreter, der für die Sitzung den Präsidenten vertritt.

Gez. W. Diamant,
Sekretär des „Wir“.

Angenommen von
gez. Theodor Herzl-Präses
gez. Julius Reich, Archivar
gez. Izsaky Ernst
gez. Koloman Weißberger
gez. Deutsch San
gez. G. Schwarz.

c) Auszug aus dem Register des „Wir“.

Man trug u. A. vor:

Amazim u. der Genius, Märchen v, Theodor Herzl, Nr. 12.
Die Freunde, Humoreske von Theodor Herzl, Nr. 4.
Die verzauberte Harfe, Märchen von Theodor Herzl, Nr. 8.
Der Kampf ums Recht der Rache, Novelle von Theodor Herzl, Nr. 32.
Die Nemesis, Humoreske von Theodor Herzl, Nr. 5.
Der gelehrte Professor in der Klemme, Humoreske von Theodor Herzl, Nr. 17.
Der Schnurrbart, Humoreske von Theodor Herzl, Nr. 1.
Von Paris nach Lambessa, Erzählung von Theodor Herzl, Nr. 27.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls