An Dr. H. Hildesheimer, Berlin. 1897

Wien, 9. Mai 1897.

Sehr geehrter Herr!


Von Ihrer bekannten Loyalität erwarte ich die Aufnahme dieses Briefes in die nächste Nummer der „Jüdischen Presse“. Zunächst bescheinige ich Ihnen hiermit, daß Sie sich vom Münchener Zionisten-Congreß zurückziehen. Ich bedaure diesen Ihren Entschluß, der mich überraschte, lebhaft, denn es wird nicht leicht sein, für das Referat, welches Sie übernommen hatten — „Die Aufgaben der jüdischen Wohltätigkeit in Palästina“ — sofort einen Ersatzmann zu finden, der in dieser Frage so bewandert ist wie Sie. Der Congreß findet natürlich auch statt, wenn wir keinen Referenten über „die Aufgaben der jüdischen Wohltätigkeit in Palästina“ ausfindig machen könnten. Dieser Congreß ist überhaupt nicht mehr rückgängig zu machen; der Gedanke einer solchen Versammlung gehört gleich anderen publicirten Gedanken nicht einmal mehr dem, der ihn zuerst aussprach. Viele Juden haben den Congreß acceptirt, damit ist die Frage erledigt. Die vorbereitende Commission, die auch nach Ihrem Rücktritte vom Referat über „die Aufgaben etc.“ fortbesteht, und zwar hier in Wien u. A. den Präsidenten des Verbandes der österreichischen Zionistenvereine Dr. M. T. Schnirer, Prof. Dr. Kellner, Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. O. Kokesch zu Mitgliedern hat und im Auftrage unserer Kölner, Pariser, Londoner Freunde, im Einverständnis mit den Landeskomitees von Galizien, Rumänien und Bulgarien wirkt — die vorbereitende Commission hat nur noch für die Ordnung der Congreß-Geschäfte Sorge zu tragen. Wir hegen die feste Zuversicht, daß der Congreß einen würdigen Verlauf nehmen wird, daß wir die Sache, die ja auch Ihnen am Herzen liegt, um ein gutes Stück vorwärts bringen werden, und namentlich, daß es gelingen wird, manche nebelhafte und thörichte Vorstellung von den Bestrebungen der Zionisten zu berichtigen. Man wird in weiteren Kreisen erkennen, daß man unserer Bewegung unrecht tut, wenn man ihr nichts als Schwärmerei und Gewaltsamkeit — Sie gestatten, daß ich mich nicht der kräftigeren Worte unserer Gegner bediene — nachsagt. Ich glaube, Sie selbst werden sich recht von Herzen freuen, wenn der Congreß solche Resultate zeitigt. So fasse ich wenigstens die Schlußworte Ihrer Rücktrittserklärung auf, wo Sie freundlich zugeben, daß es eine „zweifellos in bester Absicht geplante Veranstaltung“ sei, wenn Sie sich auch nur von einer anderen Form der Veranstaltung versprechen, daß sie „wirklich Segen bringen kann“. Hierüber gehen unsere Meinungen, wie es scheint, auseinander.

Zu dem Bedauern, welches ich über Ihren Rücktritt empfinde, weil dem Congresse eine sehr geschätzte Kraft entzogen wird, gesellt sich noch ein anderes Bedauern. Ich fühle einen schweren Vorwurf aus den Worten Ihrer Erklärung heraus: „Da Herr Dr. Herzl trotzdem mit der Versendung seiner Vorankündigung fortfährt, sieht sich der Herausgeber dieses Blattes zu der Erklärung gezwungen, daß er selbstverständlich nie die Absicht gehabt hat, an einem „Zionisten“-Congreß theilzunehmen, sondern seine Anwesenheit und seine Mitwirkung einzig und allein für den Fall in Aussicht gestellt hat, daß die geplante Versammlung einer Besprechung der mannigfachen Aufgaben des palästinensischen Hilfswerkes insbesondere der Colonisation gewidmet sein würde.“

Was heißt das „trotzdem“? Herr Bambus, bisher Mitglied der den Congreß vorbereitenden Commission, hatte, ohne mich vorher zu benachrichtigen, eine unsere ganze Arbeit abschwächende Erklärung veröffentlicht, wonach es scheinen konnte, als ob „die ganze Angelegenheit sich noch durchaus im Stadium der Vorbereitung“ befinde. Ich war davon verblüfft, ersuchte Herrn Bambus um eine neuerliche Richtigstellung, die ich nicht selbst vornehmen wollte, weil ich der Meinung war, daß es sich nur um oberflächliche Divergenzen handle. Ich sollte ja mit Ihnen am 29. April in Prag zur Berathung einiger Congreßfragen zusammentreffen. Das Stelldichein wurde am letzten Tage als „noch verfrüht“ abgesagt. Jedenfalls hatte ich keinen Grund anzunehmen, daß Sie sich lossagen wollten, da Ihre Einwendungen mir nicht als principielle vorkamen. Sie hatten gewünscht, daß es „Congreß der Chowewe Zion“ statt „Zionisten-Congreß“ heiße, worin ich keinen größeren Unterschied zu sehen vermochte als zwischen bonnet blanc und blanc bonnet. Ferner war Ihnen der folgende Passus meiner „vorläufigen Anzeige“ nicht recht: „So erhalten die gemeinsamen Bedürfnisse ein Organ. (Nämlich durch den Congreß.) Es wird ein Zufluchtsort für die Wünsche und Beschwerden unserer Brüder geschaffen. Die Judensache muß dem Belieben vereinzelter Personen — wie gutwillig diese auch seien — entrückt sein. Es muß ein Forum entstehen, vor dem jeder für das, was er in der Judenfrage thut und läßt, zur Rechenschaft gezogen werden kann. Dem wird sich kein redlicher Mann widersetzen.“

Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen. Ich citire das nicht in tückischer Absicht für die Bedürfnisse meiner heutigen Polemik, sondern um darzulegen, wie geringfügig unsere Differenz war, wie ich annehmen durfte, daß Sie mit solchen Selbstverständlichkeiten, die eigentlich nur für die Fassungskraft einfacher Leute gedacht und gesagt waren, einverstanden wären. Zu dem konnte ich mindestens bis zu der von Ihrer Seite vorgeschlagenen Zusammenkunft in Prag annehmen, daß wir d'accord seien. Wenn ich seither und bis zur Veröffentlichung Ihrer Absage vielleicht einem halben Dutzend Personen, denen ich zufällig schrieb, die gedruckte Voranzeige mitschickte, so kann, glaube ich, von einer „trotzdem“, also mala fide geschehenen Versendung der Vorankündigung, worunter man eine massenhafte Expedition verstehen könnte, nicht gut die Rede sein. In einzelnen dieser Briefe habe ich geradezu auf die aufgetauchte geringfügige Differenz hingewiesen. Ich fasse den ganzen Zwischenfall so auf, daß Sie Rücksichten zu nehmen haben, die für mich nicht existieren. Ich bin der Erste, der Ihre Entschlüsse respectiert, als die eines Mannes von bekannter Selbstlosigkeit und bewährtem Eifer für die Judensache. Wir wollen einander ja nicht heruntermachen, auch wenn wir im Einzelnen verschiedener Ansicht sind.

(Bis hier diktiert. Nun eigene Schrift.)

Der Congreß findet statt. Das ist jetzt die Hauptsache u. dabei bleibt es.

Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener

Dr. Theodor Herzl.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls