„Altneuland“.

In der Vorkongreßnummer der „Welt“ ist ein Probekapitel aus „Alt-Neuland“ veröffentlicht*). Da es uns bei dem beschränkten Umfange dieser Schrift nicht möglich ist, uns eingehend mit diesem umfangreichen Werke Herzls zu beschäftigen, wollen wir an die vorgedruckte Inhaltsangabe anschließen, die vielleicht aus Herzls Feder herrührt: „Zum Verständnis der Vorgänge in diesem Abschnitt sei vorausgeschickt, daß im Jahre 1920 nach 20 jähriger Verschollenheit Dr. Friedrich Löwenberg, der mit dem reichen Sonderling Mr. Kingscourt in völliger Weltentfremdung auf einer Insel im Stillen Ozean gehaust und nichts von den Weltbegebenheiten erfahren hat, nach Europa zurückkehrte. In Port Said hörten die Reisenden vom neuen Aufschwunge Palästinas, sie beschließen, einen kleinen Umweg zu machen, um diese unerwartete Kultur kennen zu lernen. Als sie im Hafen von Haifa ans Land steigen, wird Friedrich Löwenberg von einem unbekannten Manne angerufen und herzlich begrüßt. Dieser Mann ist David Littwak, dessen Eltern Friedrich vor zwanzig Jahren aus tiefstem Elend errettet hat. Damals war David Littwak ein kleiner, hungernder Betteljunge. Heute ist er ein stattlicher und freier Mann.“ Unter seiner Führung besichtigen sie das Land mit seinen gartengleichen Pflanzungen und nach neuesten Kulturerrungenschaften errichteten Städten, seinen Industriezentren, Handwerkerdörfern, Badeorten und Villenkolonien auf dem Karmel und am Tiberiasee. Ein gewaltiger, zehn Meter breiter und drei Meter tiefer Kanal führt das Wasser des Mittelmeeres in das Becken des Toten Meeres. Sein riesiges Gefälle von mehr als dreihundert Metern liefert die fünfzigtausend elektrischen Pferdekräfte zum Betriebe von Lichts und Kraftanstalten aller Art. Auf den Höhen des neuerbauten Jerusalem steht neben dem wiedererrichteten Tempel der Friedenspalast als Zeichen neuer Ziele der Menschheit dieses Landes und als Mittelpunkt der großzügigen Hilfstätigkeit der ganzen Welt — bei Bränden, Überschwemmungen, Hungersnot, Epidemien. Hierher wenden sich auch Erfinder, Künstler, Gelehrte um Unterstützung ihrer Arbeit. Als Zeichen des Geistes, der ihn errichtete, trägt der Palast die Inschrift: nihil humani a me alienum puto.

*) „Welt“ vom 10. August 1900. Es ist abgedruckt das 2. Kapitel des 2. Buches.


Und die Träger dieser neuen Ziele sind die Juden der „Neuen Gesellschaft“, die dieses neue, alte Palästina bewohnen. Menschen, die frei sind von den häßlichen Erscheinungen des Konkurrenzkampfes, die den Geist freiester Duldung als Lehre langer Leidenszeit unter sich pflegen, den Fremdling als ihresgleichen betrachten, und dem Besten und Bescheidensten ihre Leitung anvertrauen. „Zion ist nur dann Zion“. Nur, wer die Führung nicht erstrebt, ist ihrer wert. Berufspolitiker ist ein Schimpfwort. Die Bewohner beiderlei Geschlechts leisten zwei Jahre öffentlichen Dienstes. Sie sind gleichberechtigt, doch sind die Frauen vernünftig genug, sich nicht auf Kosten des Privatwohls mit den allgemeinen Angelegenheiten abzugeben. Der Boden ist Einzel- oder Gemeingut. Letzteres überwiegt und wird bis zum nächsten Jubeljahr verpachtet; so wird dem Landwucher vorgebeugt. Die Zeitungen gehören Genossenschaften. Sie brauchen deshalb keine Sensationen, sondern erziehen das Volk. Überhaupt ist der größte Teil des Wirtschaftslebens genossenschaftlich organisiert. Jedermann hat ein Recht auf Arbeit im siebenstündigen Arbeitstage. Selbst der Verbrecher wird an nützliche Arbeit gewöhnt und so der Menschheit wiedergegeben. Das alles haben die zionistischen Ideen und ihre Träger bewirkt, Männer, die der Menschheit dienen wollten, indem sie ihrem eigenen verfolgten Stamme dienten. Und die Klugheit wie die Dankbarkeit fordern, daß sie das allgemein Menschliche nie engherzig über der Sorge für die Ihrigen vergessen. „Denn Neudorf ist gar nicht in Palästina gebaut worden. Es ist gebaut worden in England und Amerika, in Frankreich und in Deutschland. Es ist entstanden aus Erfahrungen, Büchern und Träumen . . . Alle eure Pflanzungen werden verdorren, wenn bei euch Freisinn, Großmut und Menschenliebe nicht gedeihen ... Es wäre unsittlich, wenn wir einem Menschen, woher er auch komme, welchen Stammes und welchen Glaubens er auch sei, die Teilnahme an unseren Errungenschaften verwehren wollten . . . Unser Wahrspruch muß sein: Mensch, du bist mein Bruder.“ Das ist der engherzige Zionismus, — über den man sich in den Kreisen unklarer Kosmopoliten so erhaben dünkt!

Das Buch hat aber nicht nur eine glänzende Diktion und eine wahre Überfülle von Gedanken. Es ist auch durchzogen von wundervollen Naturschilderungen und erhebt sich gelegentlich zu großem dichterischen Schwünge. So in dem Nachruf, den David Littwak seiner toten Mutter hält, einem Hohenliede der Mutterliebe, und im Nachwort des Verfassers.

Es ist eine Mischung von realistischer Weltauffassung und reinster Schönheitspreisung. Wie sein Verfasser selbst es war, der von eisernem Willen, nüchtern, gegenwartsfreudig und doch ein Träumer von Größe und Schönheit gewesen ist. Und der gesagt hat: „Das Träumen sei immerhin auch eine Ausfüllung der Zeit, die wir auf der Erde verbringen. Traum ist von Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum Traume.“

Herzl hat das Buch neben dem „Palais Bourbon“ selbst für sein bestes Werk gehalten*). Wir möchten hinzufügen: und neben dem leider lange nicht genug gelesenen „Judenstaat“. Er hat in „Alt-Neuland“ sein eigenes Wesen gegeben, sein Wollen, seine Ziele, seine Hoffnungen. Und einigen von denen, die mit ihm rangen, treuen Mitarbeitern, hat er ein Denkmal gesetzt, indem er sie zu handelnden Figuren des Buches gemacht hat. Politische Feinde, Intriganten, sind in der gleichen Weise für immer festgenagelt worden. Die Namen sind leicht zu erraten. Aber auch dem jüdischen Volke errichtete er ein Ehrenmal. Nicht der von Elend und Bedrückung entstellten Menge, deren Fehler und Schwächen er wohl kannte und an sich selbst erfuhr. Sondern dem Stamme mit den großen Anlagen und dem unverwüstlichen und reinen Streben nach fernen Menschheitszielen. An ihn hat er geglaubt, er war ihm die Summe der Juden, wie sie sein sollen. In den Eichelbaum, Littwak, Steineck ehrt er das Volk der Zukunft. —

Über den Zukunftsträumen durfte die Gegenwart nicht vergessen werden.

*) Brief an den Verfasser vom 8. Oktober 1902. Siehe Anhang S. 120.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Leben Theodor Herzls