Zwölftes Kapitel. - Roland rieb sich die Augen; vor ihm stand ein Kind, ein Mädchen, schneeweiß ...

Roland rieb sich die Augen; vor ihm stand ein Kind, ein Mädchen, schneeweiß angethan, mit einer blauen Schärpe. Ihr Antlitz war rosig, große blaue Augen schauten daraus hervor, und vom Kopfe hingen lange, aufgelöste, dunkelblonde, wellige Haare weit über den Nacken herab. Das Kind hielt mit beiden Händen einen Strauß von Waldblumen.

Greif stand vor dem Kinde und ließ es nicht weiter.


»Greif! Zurück!« rief Roland sich aufrichtend. Der Hund trat hinter den Rücken seines Herrn.

»Der deutsche Wald! der deutsche Wald!« sagte das Kind in fremdländischem Ton und mit einer Stimme, die der Prinzessin aus dem Märchen angehören konnte. »Das ist der deutsche Wald! Ich habe mir nur Blumen geholt. Bist Du der Waldprinz?«

»Nein. Wer bist denn Du?«

»Ich bin aus Amerika. Der Onkel hat mich vom Schiff geholt und jetzt bleib' ich in Deutschland.«

»Lilian, komm! Wo bleibst Du so lange?« rief eine Männerstimme vom Rande des Walds her.

Roland sah durch die Bäume hindurch einen offenen Wagen und einen großen stattlichen Mann mit schneeweißen Haaren.

»Ich komme schon,« antwortete das Kind, »ich habe schöne, schöne Blumen.«

»Hier nimm diese von mir,« sagte Roland und pflückte eine voll aufgeblühte Maiblume vom Boden.

Das Kind warf alle Blumen, die es in der Hand hatte, weg, faßte die eine, rief: »Good bye!« und rannte schnell nach dem Wagen. Der Mann hob das Kind, das nach dem Walde zurückdeutete, in den Wagen, der davon rollte.

Roland hielt sich die Hand an die Stirn.

War das wirklich geschehen oder hatte er nur geträumt? Aber noch hörte er das Rollen des Wagens, und die abgebrochenen Blumen am Boden zeigten, daß er in der Wirklichkeit lebte. Hatte das Kind in der That gesagt, es sei aus Amerika? Warum bist Du ihm denn nicht nachgegangen? Warum hast Du nicht mit dem Alten gesprochen? Und Niemand kann Dir sagen, wer das Kind war und wohin es geführt wurde.

Eine Weile starrte Roland auf die vor ihm liegenden Blumen, er hob aber keine auf. Greif bellte ihm zu, als wollte er sagen: Ja, und da behauptet man, man erlebe keine Wunder mehr! Er schnüffelte an den abgebrochenen Blumen herum, dann rannte er der Spur des Kindes und dem Wagen nach, als wollte er den Wunsch seines Herrn erfüllen, die Leute anhalten, damit er noch mit ihnen reden könne. Roland pfiff und schrie; Greif kam und Roland schalt:

»Für deine Untreue verdienst du, daß ich dir die Wurst nicht gebe.«

Greif legte sich bittend zu seinen Füßen nieder; er konnte ihm ja nicht sagen, wie gut er es gemeint.

»So, nun wollen wir abziehen,« sagte Roland. Und weiter ging's des Weges.

Er hörte den Pfiff der Locomotive aus der Ferne, er ging dem Pfiffe nach. Der Wald war bald durchschritten; nun ging's wieder durch Weinberge.

An einem Wege abseits sah Roland, wie mehrere Frauen ab- und zugingen; sie trugen Schiefererde in einen neu angelegten Weinberg. Am Rain neben einer Hecke brannte ein Feuer, an welchem Töpfe standen. Eine Alte rührte mit einem dürren Zweige in den Töpfen. Roland stand still und die Alte rief ihn an, ob er mithalten wolle. Er ging auf die Gruppe zu und sah, daß hier Kaffee gekocht wurde. Nun kamen auch die anderen Frauen herbei, junge und ältere, es gab viel des Lachens und Scherzens; man stülpte die Körbe um und setzte sich darauf. Roland wurde auch solch ein Sitz bereitet, man legte noch einen Bausch unter und fragte, ob er vielleicht ein Prinz sei. Roland verneinte lachend.

Ein alter Winzer, der die Arbeit leitete, sagte zu Roland, er trinke keinen Kaffee, das sei eine dumme Mode, damit ginge das Geld aus dem Lande nach Amerika und käme gar nicht mehr zurück.

Die Frauen hörten aufmerksam zu, wie Roland berichtete, daß nicht der Kaffee, sondern der Zucker aus Amerika käme.

»Und unser Zucker,« sagte die Alte, »ist ganz und gar in Amerika geblieben, denn wir haben keinen.«

Die erste Tasse und der Rahm von der Milch wurde Roland gegeben, auch ein Stück Schwarzbrod bekam er. Er hätte gern den Leuten etwas dafür gegeben, aber jetzt merkte er, daß er sein Geldtäschchen nicht mehr habe. Im Wirthshause hatte er's noch gehabt; hatte er es im Walde verloren oder hatte ihn der schelmisch blickende, betastende Hausknecht bestohlen?

Weiter wanderte er und erreichte bald den Bahnhof.

Mit Bedacht hatte er vermieden, auf einer der nächsten Stationen einzusteigen, denn da kannte man ihn und seine Flucht wurde verrathen; er wollte, die Eisenbahn in einem Bogen umgehend, erst auf einer entfernten Station einsteigen.

Auf dem Bahnhofe wurde Roland von einem Manne in zertragenen Kleidern, der einen Stiefel und einen abgetretenen Pantoffel an den Füßen hatte, wie ein alter Bekannter begrüßt.

»Guten Morgen, lieber Baron! Guten Morgen, lieber Baron!« rief ihm der Verwahrloste zu und drängte sich an ihn.

Ein Bahnbeamter bat in höflicher Weise den halb Betrunkenen, halb Wahnwitzigen, er möge den Fremden in Ruhe lassen.

Der Zudringliche ließ sich beseitigen, winkte aber Roland immer von ferne vertraulich zu, wie wenn sie ein tiefes Geheimniß mit einander hätten.

Roland hörte, daß dies der Sprosse einer angesehenen Adelsfamilie sei; seine Verwandten hätten ihm helfen wollen und ihm ein Jahrgehalt ausgesetzt, aber er thue nicht gut. Nun sei er hier in Kost bei einem Packknecht und seine einzige Freude sei der Bahnhof. Man habe alle Rücksicht mit ihm, er sei doch ein Baron und sehr zu bedauern.

Roland fürchtete sich vor dem Manne wie vor einem Gespenst. Die Aufregung der Nacht und Alles, was er erlebt, wirkte nach, und doch ging der Gedanke nebenher, wie wunderbar es ist, daß der Verkommene noch rücksichtsvoll behandelt wird, weil er eben ein Baron ist.

Roland verpfändete seinen Brillantring bei dem Wirth des Bahnhofs. Er aß und gab auch Greif die versprochene Wurst; dann löste er ein Billet nach der Universitätsstadt. Nun saß er endlich im Wagen und konnte sich nicht enthalten, einem Nachbar zu sagen:

»Ach, wie schön, daß wir jetzt fortgezogen werden.«

Der Nachbar sah ihn groß an; er konnte ja nicht wissen, wie es den Knaben glücklich machte, daß er, schwer ermüdet, nun ohne weitere Selbstbestimmung fortgerollt wurde zu Erich.

»Wohin geht der Weg, Herr Baron?« fragte der Nachbar.

Roland nannte sein Ziel, aber er sah den Mann groß an, daß er ihn Baron nannte. Ist er es denn über Nacht geworden? Bei einer Abzweigung, wo andere Schaffner antraten und der Nachbar ausstieg, sagte dieser zu dem neuen Schaffner:

»Geben Sie auf den jungen Baron Acht, der da drin sitzt.«

Roland ließ sich's gefallen, daß er so genannt wurde, und ein eigenthümliches Gefühl kam über ihn, wie schön es doch sein müsse, wenn man ein Baron sei; da habe man in der ganzen Welt einen Titel mit festen Ehren. Der Gedanke streifte ihn nur, verflog aber bald, denn er dachte sich jetzt die Freude, die Erich haben würde; sein Antlitz glühte vor Ungeduld und Sehnsucht.

Plötzlich überfiel ihn ein Schreck. Wo war denn der Hund geblieben? Er hatte ihn verloren oder vergessen. Aber fort rollten die Wagen durch Thäler, Bergeinschnitte und Tunnels, und Roland war's, als sei er schon ein Jahr von daheim fort.

Nicht weit von der Universitäts-Stadt, wo die Bahn sich wieder abzweigte, stiegen Studenten ein. Sie sangen lustige Lieder und waren sehr freundlich gegen Roland.

Es war Dämmerung eingetreten, als man in der Universitätsstadt ankam.

Roland fragte nach Doctor Dournay. Einer der Studenten, ein Jüngling mit seinem Antlitz, sagte, er möge mit ihm kommen, er wohne neben der verwittweten Professorin. Roland ging mit ihm. Und jetzt überfiel ihn eine seltsame Angst. Wie ist's, wenn er Erich nicht mehr findet? wenn Erich nichts mehr von ihm will? Wie viel kann geschehen sein in dieser Zeit!

Klopfenden Herzens ging er die steile, dunkle, hölzerne Treppe hinaus. Oben öffnete sich eine Stubenthür und eine Frauenstimme fragte:

»Zu wem wünschen Sie?«

»Zu Herrn Hauptmann Dournay.«

»Er ist verreist.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Landhaus am Rhein, Band 2