Zweites Kapitel. - Roland schrieb auf seinem Zimmer und sagte manchmal die Worte, die er schrieb, ...

Roland schrieb auf seinem Zimmer und sagte manchmal die Worte, die er schrieb, vor sich hin. Erich saß still und starrte in die Lampe. Was nützt jetzt aber alles Sinnen? Er sah auf die Bücher, die er ausgepackt hatte; es waren nur wenige. In der letzten Viertelstunde war er noch einmal in das Arbeitszimmer des Vaters gegangen und hatte dessen hinterlassene Papiere verschlossen, und indem er die Bibliothek überschaute, nahm er ein Buch heraus; es war der erste Band der schönen Sparks'schen Ausgabe von Benjamin Franklins Werken. Dieser Band enthielt die Selbstbiographie und deren Fortsetzung. Einige Blätter waren eingeheftet, von der Hand des Vaters beschrieben.

Jetzt las Erich die Worte des Vaters. Sie lauteten:


»Seht her! hier ist ein echter Mensch, das Genie des gesunden Verstandes und des festen Willens. Elektricität ist stets in der Luft, aber nicht immer sammelt sie sich und wird zum Blitz, der die Atmosphäre läutert. Das Genie ist die in der Luft des Geistes angesammelte und frei gewordene Elektricität.

Kein Philosoph, kein Dichter, kein Staatsmann, kein Handwerker, kein Gelehrter von Profession und doch Alles das zugleich; ein Sohn der Mutter Natur und der Amme Erfahrung, der ohne wissenschaftliche Führung im Walde die Heilkräuter selbst findet.

Wenn ich einen Jüngling zu erziehen hätte, nicht zu einem bestimmten Beruf, sondern nur, daß er ein wahrer Mensch und guter Bürger würde, ich würde zu ihm sprechen: Mein Sohn, hier sieh, wie ein Mensch sich selbst bilden kann; ahme ihm nach, werde Du in Dir, wie Benjamin Franklin in sich geworden.«

Erich stützte das Kinn in die Hand und schaute hinaus in die dunkle Nacht. Er meinte, er müsse die Stimme des Vaters vernehmen, wie er nicht schrieb, sondern sprach.

Er las weiter:

»Wohl ist es gut, daß wir uns bilden an den ersten Menschen der alten Welt, aus der Zeit des zeugungskräftigen, elementarischen Daseins; die Gestalten der Bibel und Homers sind nicht Schöpfungen eines einzelnen hochbegabten Geistes, sie sind Gebilde urthümlicher gesammter Nationalgeister und gehen weit über die Spanne eines Menschenlebens hinaus.

Verstehe mich wohl. Ich sage, es gibt in der neuen Geschichte keinen zweiten Menschen, an dessen Leben und Denken sich ein Mensch unserer Tage so heranbilden ließe, wie an Benjamin Franklin.

Warum nicht Washington, der so groß und rein ist?

Washington war Soldat und Staatsmann, aber er hat die Welt nicht in sich entstehen lassen und nicht aus sich gefunden. Er hat durch Beherrschung und Lenkung Anderer gewirkt, Franklin durch Lenkung und Beherrschung seiner selbst.

Wenn die Zeit kommt, wo man von Schlachten sprechen wird, wie wir heut von Menschenfressern; wenn die ehrliche, fleißige, menschenfreundliche Arbeit die Geschichte der Menschheit bildet, dann wird ein Mann wie Franklin neu erstehen.

Moses, Jesus, Muhamed erschien Gott in der Einsamkeit der Wüste, Spinoza erkannte ihn in der Einsamkeit der Studirstube, Franklin in der Einsamkeit auf dem Meere und im Ringen mit der Arbeit.

Die Welt würde nicht besonders viel Schönheit haben, wenn alle Menschen wären wie Franklin, seinem Wesen fehlt jeglicher romantische Duft; aber die Welt würde in Rechtschaffenheit, Wahrhaftigkeit, Arbeit und Hülfeleistung leben. Jetzt sagen sie Liebe und freuen sich ihrer schönen Gefühle, aber ihr dürft nur von Liebe reden, wenn ihr jene vier bethätigt habt.

In Franklin ist etwas von Sokrates und besonders wohlthuend wirkt sein Humor; er läßt uns auch herzlich lachen.

Franklin ist gute Prosa, verständig, durchsichtig, haltbar.

Wir haben in der Welt nicht Genies zu erziehen. Jedes Genie erzieht sich selbst und kann keinen andern Erzieher haben. Wir haben gediegene, thatkräftige Bürger zu bilden. Was Du sonst noch machst, ob Schuhnägel oder Marmorstatuen, das ist nicht mein, das ist Dein.

Wir werden nie gerecht gegen die Welt, wenn wir nicht an Reinheit glauben, an die edelsten Motive; das innerste Menschenthum offenbart sich uns sonst nie. Es gibt keinen bessern Halt gegen die Anfechtungen, als der Glaube an das Gute, das Andere thun und das man selbst zu thun hat; das gibt eine innere Marsch-Melodie, nach der sich's leicht und frei durch den Kampf des Lebens marschirt.

Das ist das Günstige und Auszeichnende im Leben Franklins, daß er der erste selfmade man.

Wollten wir dem Alterthum gleich eine mythische Gestalt bilden für jene Welt, die sich Amerika nennt, von Europa die Götter – ich meine, die geschichtlichen Ideen mitbrachte und doch frei ein eigen Leben aufbaute – wollt ihr eine Menschengestalt für diesen Gedanken, da steht Benjamin Franklin. Er war voll Wissens und Niemand hatte ihn gelehrt, er war voll Religion und hatte keine Kirche, er war ein Menschenfreund und doch ein kluger Kenner ihrer Bosheit.

Er hat den Blitz zu leiten verstanden, nicht nur den aus den Wolken, sondern auch den aus den Gewitterleidenschaften des Menschengemüths; er hat jene Klugheitsregeln gefaßt, die gegen Zerfahrenheit sichern und zur Selbstführung reif machen.

Warum ich ihn aber zum Führer in der Erziehung eines Menschen nehmen möchte, ist das: er stellt den einfachen gesunden Menschenverstand dar, den festen und sichern, nicht den genial überraschenden, aber den bürgerlich, politisch, wissenschaftlich und sittlich, ruhig und stetig wohlführenden.

Luther war der Besieger des Mittelalters; Franklin ist der erste moderne, sich selbst aufbauende Mensch.

Franklin hat keine neuen Grundsätze in die Welt gebracht, aber er hat das, was ein ehrlicher Mensch in sich finden kann, rein ausgestaltet.

Was Franklin ist und gibt, hat nichts Besonderes, nichts Aufregendes, Berauschendes, Geheimnißvolles, nichts farbig Glänzendes, Blendendes; es ist das Wasser des Lebens, dessen alle Creatur bedarf. Der Mensch des vergangenen achtzehnten Jahrhunderts hatte keinen Sinn für das Volksthum, konnte ihn nicht haben; das war ein Drängen und Treiben aus dem freien Gedanken heraus bis zur Spitze am Schlusse des Jahrhunderts, bis zur Revolution.

Die in ihr schaffen, stehen dem Historischen, Gewordenen fremd und feindlich gegenüber, mindestens unabhängig.

Franklin ist der Sohn dieses Jahrhunderts, er kennt nur die dem Menschen eingebornen Kräfte, nicht die ererbten.«

Mit blasser Tinte, offenbar später, war geschrieben:

»Es ist nicht Zufall, daß dieser erste nicht nur freie – denn das waren viele Philosophen – sondern auch freithätige Mensch ein Schriftsteller und Buchdrucker war.

Im Bücherthum liegt nicht das Heldenthum – ich glaube, daß die Zeit des Heldenthums vorüber ist – sondern das Menschenthum der neuen Zeit.

Weil wir durch Bücher wirken, kann keine große persönlich erlösende Erscheinung mehr kommen.«

Am Schlusse mit lateinischen Lettern und mit blauer Tinte war geschrieben:

»Abstracte Regeln bilden keinen Menschen und schaffen kein Kunstwerk. Der lebendige Mensch und das organisirte Kunstwerk enthalten alle Regeln, wie die Sprache alle Grammatik.

Wer die echten Menschen, die vor ihm waren, so kennt, daß sie neu in ihm aufleben, der tritt ein in ihre Reihen; er betritt den heiligen Boden, der geweiht ist durch die Vorgänger, die ihn betraten.

Wer an der Staaten und Gesellschaftsbildung seiner Zeit Theil nimmt, ein Amt führt, Gesetze gibt, und wer inmitten der Wissenschaft seiner Zeit steht, der veraltet im Laufe der Neubildung, die ihm nachfolgt; er ist nicht urbildend Muster für die Zukunft. Das ist nur der, der die ewigen Gesetze des Menschengeistes, die von Uranfang und in aller Zeit sich gleich bleiben, neu erkennt, aufhellt, bestimmt und faßt; darum ist auch Franklin nicht Muster, sondern mehr Methode.«

Und nun kamen zuletzt die Worte, die zweimal unterstrichen waren:

»Mein letzter Satz heißt: Organisches Leben – abstracte Gesetze! Man kann aus Korn Branntwein, aber aus Branntwein kein Korn machen. Wer das versteht, hat Alles, was ich zu sagen weiß.«

So hatte Erich gelesen und jetzt lehnte er sich zurück und dachte sich hinein in die Seele des Vaters und in seine oft nur halb ausgesprochenen Gedanken, die noch durch Fragezeichen und Randbemerkungen offenbar zu weiterer Erwägung gestellt waren.

Erich fühlte sich wie auf einer Bergeshöhe. Er öffnete das Fenster und schaute lange hinaus in die Nacht. Die Luft war voll Rosenduft, der Himmel voll Sternenglanz; nur noch einzelne Nachtigallen sangen, und in der Ferne, wo ein Stück des Rheins abgedämmt war, lärmten die Frösche durcheinander.

Jetzt hörte er, wie eine Männerstimme – es ist die Stimme Pranckens drunten auf dem Balkon – laut sagte:

». . . zu viel Wichtigkeit! Eigentlich sollte solch ein Hauslehrer Livree tragen.«

»Sie sind heute sehr lustig,« entgegnete Sonnenkamp.

Erich schloß leise das Fenster, es war ihm unwürdig, zu lauschen.

Draußen sang die Nachtigall im Busch und lärmten die Frösche im Sumpf.

»Ein Jedes singt seine Weise,« dachte Erich vor sich hin, da er an den Zuruf des Vaters und den Ausspruch des jungen Barons dachte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Landhaus am Rhein, Band 2