Viertes Kapitel. - »Gib mir die Hand, Roland,« sagte Erich. Der Knabe bot sie ihm ...

»Gib mir die Hand, Roland,« sagte Erich.

Der Knabe bot sie ihm und sah ihn treuherzig und fröhlich an.


»Mein junger Freund,« fuhr Erich fort, »ich bin Dir dankbar für Deine Ehrenbezeugung, nun aber laß uns allein, Dein Vater hat mit mir zu sprechen.«

Vater und Sohn sahen staunend auf den Mann, der so ungezwungen und frei schaltete. Der Knabe nickte Erich zu und ging davon.

Herr Sonnenkamp bot Erich eine große, krumme und dunkle Cigarre, er trug die Cigarren immer offen in der Tasche. Erich empfing das Angebotene, und als ihm Herr Sonnenkamp Feuer darreichte, nahm er ihm das angebrannte Hölzchen nicht aus der Hand, sondern brachte rasch seine Cigarre in Brand und mit den ersten Zügen sagte er:

»Sie werden gewiß mit mir übereinstimmen, daß es eine ungeschickte Höflichkeit ist, wenn Manche bitten, man möge ein brennendes Hölzchen ihnen in die Hand geben; mit solchem Hin und Her verbrennen sich Beide in der Regel die Finger.«

So unbedeutend diese Bemerkung war, schien sie doch zu weiterer Einleitung zu dienen; Herr Sonnenkamp legte sich im Stuhle zurück, hielt den Rauch von der Cigarre lang im Munde, rundete die Lippen und stieß nacheinander wohlgeordnete Rauchringe, sogenannte Nullen, in die Luft, die immer größer wurden, bis sie ganz zerflossen.

»Sie haben schon viel Gewalt über den Knaben,« sagte er endlich.

»Ich glaube, daß beiderseits ein Zuneigen nicht fehlt, und dies gibt mir die Hoffnung, daß ich hier Erzieher sein könnte.«

»Gut. Aber Roland bedarf der Strenge.«

»Die Liebe schließt die Strenge nicht aus, sie stellt die höchsten Forderungen.«

Sonnenkamp lächelte sehr freundlich, aber es war etwas Grinsendes in seinen Mienen, und indem er sich vorbeugend die beiden Arme auf die Kniee legte und zu Boden schaute, sagte er:

»Sprechen wir persönlicher, für Derartiges kann sich ja später Zeit finden. Sie sind also . . . .?«

»Ich bin von Fach Philologe.«

»Das weiß ich – das weiß ich,« sagte Sonnenkamp immer noch in den Boden hineinsprechend; »ich möchte um Persönlicheres bitten.«

Erich war es peinlich, daß er als Arbeitsuchender noch einmal sich selber schildern sollte.

Er schaute auf das breite Hinterhaupt und den Nacken des Mannes, der ihm nicht einmal den Blick gönnte; aber schnell verflog die Empfindlichkeit, indem er sagte:

»Ich hatte gehofft, daß die Einführung des Herrn Grafen von Wolfsgarten –«

»Ich schätze Herrn Grafen von Wolfsgarten sehr hoch, höher als irgend Jemand,« versetzte Sonnenkamp, »aber –«

»Sie haben Recht, ich werde Ihnen erzählen.«

»Gut,« sagte Sonnenkamp, indem er die rechte Hand mit gekrümmten Fingern auf den Tisch legte und wieder zurückzog, als ob er einen Einsatz beim Spiele ausgelegt hätte.

Kurz und bündig gab Erich nochmals einen Abriß seines Lebens und schloß:

»Ich bitte, mich nicht für einen schwankenden, nirgends Ruhe findenden Menschen zu halten, weil ich meinen Beruf geändert.«

»Im Gegentheil,« fiel Sonnenkamp ein, »ich habe genug in der alten und neuen Welt gelebt, um zu wissen, daß gerade das die Tüchtigsten sind, die nicht da verharren, wohin der Zufall sie gestellt, sondern sich selbst ihre Bestimmung geben. Wer seinen Beruf ändert, muß eine wirkliche andere Berufung oder eine äußere Nöthigung dazu haben. – Gestatten Sie mir eine Frage: Halten Sie es für möglich, daß ein Mann, der wesentlich aus . . . sagen wir aus Resignation, eine solche nicht eigentlich dienende aber doch abhängige Stelle übernimmt, zu derselben geeignet ist? Wird er sich nicht gebunden, dienstbar und oft unglücklich fühlen?«

»Ihr offener Einwurf ehrt mich,« erwiderte Erich; »ich weiß wohl, der Erzieherberuf erheischt eine Botmäßigkeit vom Erwachen bis zum Niederlegen. Nichts kann mir erwünschter sein, als die Wahrnehmung, daß Sie die Sache so ernst nehmen.«

Wieder zuckte etwas durch das Antlitz Sonnenkamps. Erich schien es nicht zu bemerken, denn er fuhr mit bewegter Stimme fort:

»Es ist nicht Resignation, die mich zur Bewerbung um die Erzieherstelle in Ihrem Hause bewegt. Ich stimme Ihnen bei, daß wer bloß aus Noth in eine solche Stellung träte, diese nur schwer erfüllen könnte, obgleich auch aus Noth Neigung, oder wie man sagt, aus der Noth eine Tugend werden kann. So weit ich mich beurtheilen kann, darf ich sagen, ich würde, auch in die besten Verhältnisse gestellt, den Erzieherberuf übernommen haben.«

»Sehr ehrenwerth . . . sehr ehrenwerth!« rief Sonnenkamp. In einer triumphirenden Art fügte er hinzu:

»Die Liebhaberei ist gut, aber ich ziehe den Mann von Profession vor.«

»Ich erkenne das vollkommen,« erwiderte Erich. »Ich biete Ihnen meine freie Arbeit.«

Bei diesen Worten hob Sonnenkamp rasch den Kopf, ohne seine Lage zu ändern, stierte den Sprechenden an und senkte schnell wieder den Blick.

»Ich biete Ihnen und Ihrem Sohne,« fuhr Erich fort, »die Kraft alles Dessen, was ich bin und bisher an Wissen und Erkennen mir anzueignen strebte. Ich fühle mich dabei frei, denn was ich zu leisten vermag, leistete ich zugleich mir selbst, da ich bewähren möchte, was ich mir zumuthete.«

»Ich weiß, was freie Arbeit ist,« sagte Sonnenkamp in den Boden hinein, dann richtete er sich auf und lächelte so verbindlich, als hätte ihm Erich einen großen Gefallen erwiesen.

»Im Interesse der Sache möchte ich einen Wunsch aussprechen,« fügte Erich hinzu.

»Und der ist?«

Sonnenkamp setzte wieder die Hand auf den Tisch, als ob ein Einsatz zu machen wäre.

»Ich wünsche, daß Sie es nicht ungenehm fänden, mich vorerst einige Tage als Gast Ihres Hauses zu betrachten.«

Erich hatte gehofft, daß Sonnenkamp sofort bejahe, aber dieser knackte eine Cigarre, die er eben angezündet und die nicht gut im Zuge schien, gewaltsam mitten durch und warf sie ins Gebüsch. Wiederum röthete sich sein Antlitz und ein Grinsen spielte um seine Lippen, denn er dachte: sehr zuversichtlich! Der junge Mann glaubt, wenn er nur erst einige Tage sich eingenistet, dann hat er Alles so bezaubert, daß er nicht mehr zu entlassen ist. Wollen sehen.

Da er beharrlich schwieg, sagte Erich:

»Es dürfte sowohl für Sie als auch für mich erwünscht sein, daß wir vor einer festen Vereinbarung uns näher kennen lernen, besonders aber wünsche ich das um Rolands willen.«

»Welche Summe würden Sie fordern?« fragte Sonnenkamp, ohne auf die Darlegung Erichs einzugehen.

Erich erwiderte, daß nicht er, sondern der Vater dies zu bemessen habe.

Sonnenkamp brachte eine frische Cigarre durch rasche Züge ins lebendige Feuer und erklärte dabei mit großer Salbung, wie er wohl wisse, daß eigentlich keine Summe groß genug sei, um als Lohn für das mühselige Amt der Erziehung und des Unterrichts zu gelten.

Dann fragte er, sich zurücklehnend und die Beine über einander schlagend, indem er das linke Bein mit der rechten Hand heraufzog und festhielt.

»Wollen Sie mir nicht in kurzen Worten angeben, wie Sie bei Erziehung meines Sohnes verfahren möchten?«

»Die Methode im Unterrichte zeichnet der Lehrgegenstand bestimmt vor, das Verfahren bei meiner erzieherischen Thätigkeit weiß ich selbst noch nicht.«

»Wie? Sie wissen das selbst noch nicht?«

»Ich werde mir von Roland hierin meine Methode geben lassen, denn diese kann nur nach der Natur des Zöglings eingerichtet werden. Gestatten Sie mir ein Bild aus Ihrer Umgebung. Wenn Sie bemerken, daß Ihre Dienerschaft zwischen dem Hause und der Dienerschaftswohnung gern den Weg über ein wohl abgezirkeltes Rasenbeet nimmt, so werden Sie, wenn nur irgend thunlich, diesem Naturweg nachgeben und nicht eigensinnig die Form des Beetes erhalten, so angemessen sie auch nach den Gesetzen der Gartenkunst sein möge. Sie werden den Naturweg in einen freiwillig angelegten verwandeln. Dies ist die Methode, die durch die Verhältnisse gegeben ist. Solche Wege sind auch in einem Menschen.«

Sonnenkamp lächelte; er hatte in der That nur mit schwerer Mühe und strengem Verbot ein in der Mitte des ersten Hofes mit Gesträuchen bepflanztes Beet vor dem Betreten zu wahren gesucht und endlich doch einen Weg dort angelegt.

»Einverstanden,« erwiderte Sonnenkamp. »Aber nach welchen Grundsätzen würden Sie Roland erziehen?«

»Da muß ich etwas weiter ausholen,« nahm Erich auf. »Denn wenn auch die Methode der Erziehung sich nach den Umständen richtet, so muß doch das Princip derselben klar erkannt und fest verfolgt werden. Der große Kampf, der die Geschichte der Menschheit und das ganze menschliche Leben durchzieht, zeigt sich in der Erziehung des einen Menschen durch einen Anderen am schärfsten; die beiden Mächte treten da als lebendige Personen einander gegenüber. Ich möchte sie kurzweg Individualität und Autorität, oder Geschichte und Natur nennen.«

»Ich verstehe . . . ich verstehe, fahren Sie fort,« entgegnete Sonnenkamp, als Erich ein wenig anhielt in der Besorgniß, daß er sich zu sehr ins Allgemeine verliere.

»Der Erzieher muß die Autorität darstellen, der Zögling ist eine werdende Individualität,« fuhr Erich fort. »Es ist also fortwährend ein Ausgleich, ein Friedensschluß zwischen beiden kämpfenden Mächten herzustellen, der zur Harmonie werden soll. Blos individuell erziehen, hieße ein Menschenkind außerhalb des Lebens stellen und um der Freiheit willen ihm die Gemeinschaft des Daseins versagen und erschweren; ihn blos gegebenen Gesetzen unterthan machen, hieße ihm seine angebornen Rechte rauben. Der Mensch bringt sein Gesetz mit, aber er tritt auch in ein Gesetz ein.«

Sich ganz aufrichtend fiel hier Sonnenkamp ein: »So ist's! So ist's! Jeder Mensch hat Ahnen, auch der als gemeiner Bürgerlicher Geborene.«

Erich fuhr fort:

»Das war der große Irrthum Jean Jacques Rousseau's und der französischen Revolution, daß man aus Verdruß über die vernunftwidrigen Traditionen glaubte, ein Mensch und ein Zeitalter könne Alles aus sich allein haben. Der Mensch ist aber ein Naturprodukt und ein Geschichtsprodukt, ist Erbe der ihm vorgearbeiteten, angesammelten Kraft; Aufgabe der Erziehung ist es nun, die eingeborene und die ererbte Kraft gehörig verwenden zu lehren.«

»Wie bringen Sie,« fragte Sonnenkamp, »die Erziehung eines Amerikaners in Ihrem System unter?«

»Soll Ihr Sohn Amerikaner bleiben?«

Warum fragen Sie das?«

»Weil ein großes Erziehungsmittel fehlt, wenn ihm das Bewußtsein der Staatspflicht entzogen bleibt in einem fremden Lande. Soll also Roland sich als Amerikaner fühlen oder als Deutscher?«

»Nehmen Sie an, als Deutscher.«

Sonnenkamp war ermüdet von dieser Erörterung, die er eigentlich zu seiner Unterhaltung veranlaßte; dabei hatte er das Mißgefühl, daß, während er dem Fremden zu imponiren gesucht, dieser ihn zu Darlegungen verleitet hatte, die er nur widerwillig gab.

»Verzeihung, gnädiger Herr,« unterbrach ein Reitknecht, als eben Erich von Neuem weit ausholen wollte. Sonnenkamp stand rasch auf, sagte, es sei die Stunde seines Ausritts und nickte Erich vornehm herablassend zu, das Weitere auf später vorbehaltend.

Roland kam des Weges und rief:

»Nicht wahr, Vater, ich darf mit Herrn Dournay ausreiten?«

Sonnenkamp willigte ein und ging eiligen Schrittes davon. Er stieg zu Pferde und bald sah man ihn auf einem muthigen Rappen am Ufer entlang die weiße Straße dahinreiten. Er sah gewaltig aus, wie er zu Pferde saß; hinter ihm drein folgte der Reitknecht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Landhaus am Rhein, Band 1