Dritte Kapitel. - Alsbald nach Tische wurde dem Doctor gemeldet, daß viele Hülfesuchende ...

Alsbald nach Tische wurde dem Doctor gemeldet, daß viele Hülfesuchende auf ihn warten, denn es war bekannt, daß er am Sonntag auf der Villa speiste. Rasch ließ er sich von Sonnenkamp eine Cigarre geben und sagte zu Erich, er solle ihn begleiten, denn er habe mit ihm zu sprechen. Er sagte dies in einer Weise, die des Gehorsams gewiß war.

Als Erich mit ihm um die Ecke bog, reichte er ihm die Hand und sagte herzlich:


»Ich bin der Schüler Ihres Großvaters und kannte auch Ihren Vater auf der Universität.«

»Das freut mich; aber warum sagen Sie mir das erst hier?«

Der Doctor betrachtete ihn von oben bis unten, dann legte er ihm beide Hände auf die Schultern und sagte kopfschüttelnd in herzlichem Tone:

»Ich habe mich in Ihnen geirrt. Ich glaubte, die Species der Idealisten sei ausgestorben. Sie sind Doctor der Weltweisheit, aber nicht der Weltklugheit. Lieber Hauptmann Doctor, wozu brauchen denn die dort zu wissen, wie ich zu Ihnen stehe? – Also Sie wollen mit Herrn Sonnenkamp leben?«

»Warum nicht?«

»Der Mann könnte nicht weinen, wenn er wollte, und Sie . . .?«

»Und ich?«

»Bei Ihnen füllt sich der Thränenbeutel bei jeder Gemüthsbewegung; wie Sie von Ihrem Vater sprachen, von der großen Krankenpflege . . . Sie haben Talent zur Hypochondrie.«

Erich war betroffen. Noch ehe er erwidern konnte, wandte sich der Doctor gegen die harrende Bauerngruppe, die beim Hause des Castellans stand.

»Ich komme gleich!« rief er, und zu Erich gewendet, sagte er: »Warten Sie hier auf mich, ich komme bald wieder.« Er ging auf die Gruppe zu, in welcher Alle ehrerbietig grüßten. Er sprach mit dem Einen und dem Andern, zog ein Heft mit fliegenden Blättern heraus und schrieb auf dem Rücken eines breiten Mannes mehrere Recepte, Anderen gab er nur mündlichen Bescheid.

Erich stand in Gedanken versunken.

Der Arzt kam zurück und sagte mit heiterer Miene:

»Nun bin ich frei. Graf Clodwig hat mir von Ihnen erzählt, aber er hat mir eine falsche Vorstellung von Ihnen gegeben. Immerhin! Jeder sieht, in seinem Horizonte stehend, nur seinen eigenen Regenbogen. Ich wollte nur noch sagen, was man Ihnen thut, ist kaum Zinsenzahlen, denn kein Mensch hat Anderen mehr Gutes gethan, als Ihr Großvater und Ihr Vater. Nun lassen Sie sich einmal ordentlich betrachten. Ich habe Sie vor Jahren gesehen, als Sie mit dem Prinzen zusammengekoppelt waren.«

Der Doctor stellte sich einen Schritt entfernter von Erich und fuhr fort:

»Die Kreuzung ist gut. Vater von hugenottischem Stamm . . . Mutter echt germanisch, blond, fein . . . richtige Mischung der Nationalitäten. Kommen Sie hier mit in die Laube. Wollen Sie mir schnell und kurz eine Diagnose gestatten?«

Erich lächelte; diese ganze Art, wie der Arzt ihn gemustert und über ihn verfügt, kam ihm höchst seltsam vor, und doch versetzte es ihn in heitere Stimmung und er sagte:

»Stellen Sie Ihre Diagnose.« Der Doctor fragte:

»Können Sie mit Jemand tagtäglich umgehen, ohne ihn zu lieben oder mindestens zu achten?«

»Ich habe es bis jetzt nicht versucht, aber ich glaube nicht, daß ich es kann, und solch ein Verkehr schädigt gewiß die Seele.«

»Diese Antwort habe ich erwartet. Ich meinerseits bekenne mich zu dem Worte Lessings: Es ist besser, unter bösen Menschen leben, als fern von Menschen leben. Darf ich noch mehr fragen?«

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, fuhr er fort:

»Haben Sie schon Undank erfahren?«

»Ich glaube noch nichts gethan zu haben, wofür ich Dank verdiene. Es fragt sich ja überhaupt, ob wir Dank ansprechen dürfen, denn Alles, was wir Andern erzeigen, vollführen wir doch zunächst zu unserm Selbstgenügen.«

»Gut, gut . . . weiß schon. Nur noch Eins. Glauben Sie an die Gemeinheit, und wenn das, seit wann?«

»Wenn Sie unter Gemeinheit die bewußte Lust verstehen, Andere zu schädigen, so glaube ich nicht an dieselbe; denn ich bin überzeugt, daß alle Uebelthat nur Grenzverschiebung des an sich berechtigten Selbsterhaltungstriebes ist, nur eine durch Sophistik oder Leidenschaft bewirkte Grenzverschiebung. Vielleicht ist der Glaube an die Gemeinheit auch nichts als Leidenschaft.«

Der Doctor nickte mehrmals, dann sagte er:

»Nun nur noch Eine Frage. Sind Sie empfindlich? verletzlich?«

»Ich dürfte vielleicht Ihre freundliche Prüfung als Beweis geltend machen, daß ich es nicht bin.«

Der Doctor lachte und sagte:

»Entschuldigen Sie, ich habe mich geirrt, meine letzte Frage hat noch eine allerletzte. Also zum Schluß: Ueberrascht es Sie, wenn Sie ein Männlein oder Weiblein von modischer Kleidung und gebildeten Worten ganz einfach dumm finden? Gestatten Sie sich, solche Menschen als dumm anzunehmen, und muthen Sie ihnen nicht Gründe ihrer Handlungsweise und Verständniß für die Gründe Anderer zu?«

Erich merkte wohl, daß der Doctor ihm Verhaltungsregeln geben und in seiner Weise ein Recept verschreiben wollte. Halb scherzhaft sagte er, er habe schon mehrere seltsame Examina hier durchgemacht, aber das jetzige sei doch das überraschendste.

»Sie werden sich mein Examen vielleicht später erklären,« sagte der Arzt leise und drückte Erich verstohlen die Hand, denn er sah Fräulein Perini des Weges daherkommen und gesellte sich zu ihr.

Die Tischgesellschaft traf sich wieder beim Springbrunnen, man plauderte noch eine Weile, dann trennte man sich. Der Pfarrer und der Major luden Erich ein, daß er sie besuche; der Arzt fragte Sonnenkamp, ob Erich und Roland mit ihm auf Praxis fahren dürften. Sonnenkamp war überrascht, daß Erich bereits als Erzieher Rolands betrachtet wurde; er ließ das aber nicht merken und bejahte. Erich stieg mit dem Doctor in den offenen Wagen, Roland nahm den Sitz beim Kutscher ein, der ihm die Zügel gab.

Der Tag war frisch und voll Blüthenduft, Glocken klangen und Lerchen sangen.

Man fuhr in ein landeinwärts gelegenes Dorf. Aus einem Garten, wo der Flieder blühte, tönte schöner vierstimmiger Gesang; unter Linden an einem umhegten Platze turnten Jünglinge und Knaben.

»O unser herrliches Deutschland!« konnte sich Erich nicht enthalten auszurufen. »Das ist Leben! Das ist unser Leben! Die Seele im frischen Gesange, den Körper in muthiger Bewegung gestärkt, das gibt ein Volk von Kraft und Schönheit; ihm muß die Ehre und Freiheit werden! Wir besitzen und erlangen alles Herrliche, das der klassischen Welt eigen war.«

Der Doctor legte still die Hand auf das Knie Erichs und schaute ihn hellen Auges an, dann sagte er:

»Wenn Sie hier bleiben, dann lassen Sie sich von mir in das Intimere des rheinischen Lebens einführen. Und wenn Sie es vermögen, dem Knaben vor uns Freude zu geben nicht blos an dem, was er hat, sondern auch an dem, was er nicht zu eigen hat, am großen Leben des Volkes und der Gesammtheit, dann haben Sie eine brave Arbeit gethan.«

Erich erklärte, daß er jetzt noch nicht endgiltig abschließen wolle; er kehre vorher nochmals heim, er müsse selbst Zeit zur Ueberlegung haben und auch eine solche Herrn Sonnenkamp lassen.

Der Doctor stimmte bei, dann rief er:

»Roland, halte hier an.«

Er stieg aus und trat in ein kleines, säuberlich aussehendes Haus; Erich und Roland gingen nach dem Turnplatze und sahen den Turnübungen zu. Der Doctor kam wieder, der Wagen fuhr hinter ihm drein, es läutete von der Kirche, alle Umstehenden falteten die Hände, auch der Doctor that's und sagte:

»Ein Mensch ist gestorben; er hat seine zweiundsiebzig Jahre gelebt. Noch auf seinem Sterbebett erquickte er sich in der Erinnerung an eine kleine Wohlthat. Im Hungerjahre 1817 wanderte er als Küfergeselle über die Lüneburger Haide – er nannte sie immer die Hamburger Haide – da war noch keine Straße, und erst nach Stunden fand er eine elende Hütte; in dieser waren Kinder, die weinten vor Hunger. Der Küfer hatte getrocknete Aale in einer Blechbüchse bei sich und auch Brod. Das gab er den Kindern Alles zu essen und die Kinder betrachteten ihn wie einen Engel, der vom Himmel gekommen wäre, sie zu speisen. Sehen Sie, sagte er mir noch gestern, sehen Sie, das thut mir wohl und freut mich noch jetzt, daß ich die Kinder damals satt machen konnte, und sie haben's wol auch nicht vergessen, wie ihnen einmal ein fremder Mann den Hunger stillte.«

Der Doctor hielt inne, er bezwang offenbar eine Rührung, dann fuhr er fort:

»Der Mann hat viel gelitten, der Tod ist eine Erlösung für ihn. Ja, junger Freund, das ist die Welt! Da draußen blüht es und die Menschen singen und turnen und scherzen und derweil stirbt ein Mensch . . . Pah!« rief er, sich ermannend, »ich habe Euch nicht zur Trauer mitgenommen. Roland, fahre durch das ganze Dorf nach dem letzten Hause. – Wir fahren zur fröhlichen Armuth,« wendete er sich zu Erich, »Ihr sollt nun auch Lustiges sehen. Der Mann ist ein armer Winzer, hat sieben Kinder, vier Söhne und drei Töchter. Sie sind in ihrer Armuth die lustigsten Menschen, die man finden kann, der Lustigste von Allen aber ist der Alte. Er heißt eigentlich Pfeifer, aber weil er, so oft er nur kann, mit seinen Kindern singt und sie vortrefflich einübt, heißt er der Siebenpfeifer.«

Man fuhr nach dem Hause und schon von fern hörte man aus der Stube im Erdgeschoß singen.

Der Doctor, Erich und Roland standen auf der Straße und schauten durch die offenen Fenster, wo die Familie ungestört weiter sang. Als das Lied geendet war, traten sie ein und wurden fröhlich bewillkommt. Der Doctor fragte, wie es gehe.

»Ach, Herr Doctor,« erwiderte der Siebenpfeifer, »es ist immer so, mein Jüngstes hat immer die beste Stimme.«

Es wurden neue Lieder angestimmt und Erich sang mit. Der Alte nickte ihm zu und nach Beendigung des Liedes sagte er:

»Herr, Sie können ja meisterlich singen.«

Der Doctor hatte in seinem Wagen ein Flaschenfutter, das setzte er nun auf; man trank und der Siebenpfeifer rief: »Das Beste auf der Welt ist doch, wenn man gesund ist und sich selber Musik macht.«

Der Arzt verabschiedete sich.

Als es Abend wurde, verließen Roland und Erich mit frohem Herzen das Haus. Die zwei ältesten Söhne des Siebenpfeifers gingen mit ihnen nach dem Ufer, wo sie den Kahn lösten und die Beiden nach der Villa fuhren.

Der Strom war heute wundersam ruhig und klar, das Abendroth durchglühte ihn. Erich saß still, er hatte eine glückliche Stunde, wo man nichts denkt und doch Alles hat. Roland ruderte gleichmäßig mit den Söhnen des Siebenpfeifers, dann ließen sie ohne Ruderschlag den Kahn dahinschwimmen, der geräuschlos in der Strömung fortglitt.

Die Sterne glitzerten am Himmel, als man bei der Villa anlangte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Landhaus am Rhein, Band 1