Ein aufgetauter Gelehrter

Als Sergeant Long in dem engen Gang war, auf den sich die Außentür des Forts öffnete, hörte er die Rufe sich verdoppeln. Irgend jemand klopfte auch heftig an das Ausfallstor, das zu dem von hohen Holzmauern geschützten Hof den Zugang bildete. Der Sergeant stieß die Tür auf. Fußhoher Schnee bedeckte den Boden. Bis an die Knie in diese weiße Decke sinkend, blind vom Schneewirbel und geschüttelt von der eisigen Kälte, ging er quer über den Hof auf das Tor zu.

„Wer, zum Kuckuck, mag nur bei diesem miserablen Wetter noch kommen!“ sagte sich Sergeant Long und hob methodisch, um nicht zu sagen „reglementmäßig“, die schweren Schließbalken des Tores aus – „bei einer solchen Kälte wagen sich doch nur Eskimos heraus.“


„Aufmachen! Aufmachen!“ drängte von draußen eine Stimme.

„Es wird schon aufgemacht“, antwortete Sergeant Long, der allerdings eine kleine Ewigkeit zum Öffnen zu brauchen schien.

Endlich schlugen sich die Torflügel nach Innen auf, wobei den Sergeant ein Schlitten halb in den Schnee schleuderte, der mit einer Bespannung von sechs Hunden wie ein Blitz hereinfuhr. Fast wäre der wackere Long überfahren worden. Doch er erhob sich ohne Murren, schloß das Tor wieder und kam in gewöhnlichem Marschtempo, das heißt mit 75 Schritt pro Minute, an das Hauptgebäude nach.

Schon waren Captain Craventy, Lieutenant Jasper Hobson und Corporal Joliffe da, die, der entsetzlichen Kälte trotzend, den überschneiten Schlitten betrachteten, der vor ihnen hielt.

Soeben entstieg ihm ein dick in Pelze verpackter Mann.

„Fort Reliance?“ fragte dieser.

„Ist hier“, antwortete der Captain.

„Captain Craventy?“

„Bin ich; und Sie?“

„Ein Kurier der Company.“

„Allein?“

„Nein, ich bringe einen Reisenden.“

„Einen Reisenden? Und was will er hier?“

„Er will den Mond sehen.“

Bei dieser Antwort fragte sich der Captain, ob er es mit einem Verrückten zu tun habe, was in Anbetracht der Begleitumstände nicht unwahrscheinlich war.

Jetzt hatte er aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Kurier hatte eine schwere Masse, eine Art schneebedeckten Sack, von dem Schlitten gezogen, den er sich anschickte, in das Haus zu bringen, als der Captain ihn fragte:

„Was ist mit diesem Sack?“

„Das ist mein Reisender.“

„Und wer ist er?“

„Der Astronom Thomas Black.“

„Aber er ist erfroren!“

„Nun, dann tauen wir ihn wieder auf.“

Von den Händen des Sergeants, des Corporals und des Kuriers getragen, hielt Thomas Black seinen Einzug ins Haus, wo man ihn in einem Zimmer des ersten Stockwerks niederlegte, dessen Temperatur infolge eines wohlgeheizten Ofens ganz erträglich war. Dort legte man ihn auf ein Bett, und der Captain ergriff seine Hand.

Diese Hand war buchstäblich gefroren. Man löste die Decken und Pelzhüllen, die Thomas Black, der wie ein Paket verschnürt war, umschlossen, und fand darunter einen dicken, kleinen Mann von an die 50 Jahren, mit graulichen Haaren und struppigem Bart, dessen Augen geschlossen und dessen Lippen zusammengepreßt waren, als wären sie mit Leim verbunden. Dieser Mann atmete gar nicht oder doch nur so schwach, daß er dadurch keinen Spiegel getrübt hätte. Joliffe entkleidete ihn weiter und drehte und wendete ihn immer hin und her mit den Worten:

„Nun vorwärts, Sir! Wollen Sie denn nicht wieder zu sich kommen?“

Die so angeredete Persönlichkeit schien aber nur noch ein Leichnam zu sein. Um in ihm die entschwundene Wärme wieder zurückzurufen, fand Joliffe nur ein heroisches Mittel, das darin bestand, den Patienten in den heißen Punsch zu tauchen.

Ohne Zweifel zum Glück für Thomas Black kam Lieutenant Jasper Hobson auf einen anderen Gedanken.

„Schnee her!“ befahl er. „Sergeant Long, schaffen Sie einige Hände voll Schnee her!“

Im Hof von Fort Reliance war daran kein Mangel. Während der Sergeant den verlangten Schnee holen ging, kleidete Joliffe den Astronomen vollends aus. Der Körper des Unglücklichen zeigte sich mit weißen Flecken bedeckt, die auf ein tiefes Eindringen der Kälte in den Organismus hinwiesen. Gewiß war es höchste Zeit, den ergriffenen Stellen wieder Blut zuzuführen, was Jasper Hobson durch kräftige Abreibung mittels Schnee zu erreichen hoffte. Bekanntlich bedient man sich in den Polargegenden ganz allgemein dieses Mittels, um die Blutzirkulation wiederherzustellen, die eine übermäßige Kälte ebenso hemmt, wie sie das Wasser der Flüsse zum Stehen bringt.

Sergeant Long war zurückgekommen, und er und Joliffe frottierten nun den Neuankömmling auf eine Weise, die dieser vorher sicher nicht gewöhnt war. Das war kein sanftes Abreiben oder Einsalben mehr, sondern ein handfestes Kneten, das mehr an die Bearbeitung mit einem Striegel als mit der Hand erinnerte.

Während dieser Operation sprach der schwatzhafte Corporal immer auf den Reisenden ein, der ihn doch nicht hören konnte.

„Nun aber vorwärts, Sir! Was ist Ihnen nur eingefallen, sich dermaßen durchfrieren zu lassen. So seien Sie doch nicht so halsstarrig!“

Jedenfalls blieb Thomas Black zunächst noch halsstarrig, denn eine halbe Stunde verging noch ohne ein Lebenszeichen von seiner Seite. Schon wollte man daran verzweifeln, daß er wiederzubeleben sei, und die Massierenden wollten eben ihre anstrengenden Versuche aufgeben, als der arme Mann leise aufseufzte.

„Er lebt! Er erholt sich!“ rief freudig Jasper Hobson.

Nach Wiedererwärmung der Körperoberfläche durch die Friktionen durfte man auch die inneren Organe nicht vergessen.

Corporal Joliffe beeilte sich demnach, einige Gläser Punsch herbeizuschaffen, die dem Reisenden sehr gut zu tun schienen. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, seine Augen den Blick, seine Lippen die Sprache, und der Captain durfte endlich auf die Mitteilung hoffen, warum Thomas Black hierher gekommen war, und das in so jämmerlichem Zustand.

Der nun wieder warm zugedeckte Thomas Black richtete sich halb auf, stützte sich auf einen Ellenbogen und sagte mit schwacher Stimme:

„Fort Reliance?“

„Ist hier“, erwiderte der Captain.

„Captain Craventy?“

„Bin ich selbst, Sir, der Sie hier willkommen heißt. Doch darf ich fragen, was Sie nach Fort Reliance führte?“

„Er will den Mond sehen!“ fiel der Kurier ein, der beharrlich bei dieser Antwort blieb.

Sie schien übrigens Thomas Black zu befriedigen, denn er nickte beifällig. Dann fuhr er fort:

„Lieutenant Hobson?“

„Steht auch vor Ihnen.“

„Also noch nicht abgereist?“

„Wie Sie sehen, noch nicht, Sir.“

„Schön, schön, Sir“, versetzte Thomas Black, „dann habe ich zunächst Ihnen nur noch zu danken und bis morgen auszuschlafen.“

Der Captain zog sich mit seinen Begleitern zurück und überließ den Sonderling der so notwendigen Ruhe. Eine halbe Stunde später war das Abendfest zu Ende, und alle suchten ihre jeweiligen Wohnungen auf, entweder im Fort selbst oder in einigen kleinen Gebäuden, die außerhalb in der Nähe lagen.

Am nächsten Tag war Thomas Black annähernd wiederhergestellt. Seine kräftige Konstitution hatte der furchtbaren Kälte widerstanden. Ein anderer wäre wohl nicht aufgetaut, aber er war eben aus besserem Holz geschnitzt.

Doch wer war dieser Astronom? Woher kam er? Wozu diese Reise durch die Ländereien der Company, und das jetzt, noch während des strengen Winters? Was bedeutete die Antwort des Kuriers, den Mond zu sehen?

War denn der Mond nicht überall zu sehen und hatte es einen Zweck, ihn hier im hohen Norden zu suchen?

Diese Fragen stellte sich Captain Craventy. Als er jedoch tags darauf ein Stündchen mit seinem neuen Gast gesprochen hatte, war er sich über alles im klaren.

Thomas Black war in der Tat Astronom, und zwar an der von Airy mit so großem Geschick geleiteten Sternwarte von Greenwich. Ein mehr intelligenter und kluger Kopf als Theoretiker, hatte Thomas Black seit den 24 Jahren, die er seine Stelle schon einnahm, den uranographischen Wissenschaften (das ist der Himmelskunde) sehr große Dienste geleistet. Im Privatleben war er ein ganz unbrauchbarer Mensch, der außerhalb seiner astronomischen Fragen gar nicht existierte und mehr im Himmel als auf der Erde wohnte; ein würdiger Abkomme des gelehrten La Fontaine, der bekanntlich in einen Ziehbrunnen fiel. Mit ihm war keine Unterhaltung möglich, wenn man nicht von Sternen und Sternbildern sprach. Er war ein Mann, geschaffen, gleich im Fernrohr zu leben. Aber wenn er beobachtete, tat es ihm auch keiner gleich. Welch unerschöpfliche Geduld hatte er dann! Ganze Monate lang konnte er nach einem kosmischen Phänomen auf der Lauer liegen. Meteore und Sternschnuppen bildeten seine Spezialität, und seine Entdeckungen in dieser Richtung sind von bleibendem Wert. Handelte es sich um ganz feine Beobachtungen oder genaue Messungen und Bestimmungen, dann wandte man sich stets an Thomas Black, der eine sehr merkwürdige „Gewandtheit des Blicks“ besaß. Beobachten zu können ist nicht jedermanns Sache. So nimmt es nicht wunder, daß der Greenwicher Astronom ausersehen worden war, die nachfolgenden Beobachtungen, die für die Selenographie (das ist die Mondkunde) von hohem Wert waren, auszuführen.

Bei einer totalen Sonnenfinsternis erscheint die Mondscheibe nämlich von einem Strahlenkranz umgeben, dessen Ursprung allerdings noch nicht feststeht. Ist er tatsächlich vorhanden oder ein Brechungsphänomen der Sonnenstrahlen rund um den Mond? Noch ist das eine offene Frage.

Seit 1706 schon haben die Astronomen diese „Aureole“ wissenschaftlich beschrieben. Louville und Halley beobachteten bei der totalen Sonnenfinsternis von 1715, Maraldi bei der von 1724, Antonio de Ulloa 1778, Bouditch und Ferrer 1806 diesen Strahlenkranz möglichst genau. Bei der totalen Sonnenfinsternis von 1842 suchten Gelehrte aller Nationen wie Airy, Arago, Peytal, Laugier, Mauvais, Otto Struve, Petit, Baily und anderen die Lösung des Ursprungs dieser Erscheinung zu finden; aber so streng auch diese Beobachtungen waren, so sagt Arago darüber doch, daß „der Mangel an Übereinstimmung, den man an den von geübten Astronomen an verschiedenen Punkten anstellten Beobachtungen ein und derselben Sonnenfinsternis findet, über diese Frage eine solche Dunkelheit verbreitet habe, daß vorderhand an eine bestimmte Entscheidung über den Ursprung dieser Erscheinung nicht gedacht werden könne“.

Diese Frage berührt jedoch die Mondkunde sehr wesentlich und verlangt gebieterisch ihre Lösung. Jetzt bot sich eine neue Gelegenheit, diesen Lichtkranz zu beobachten. Am 18. Juli 1860 stand wieder eine totale Sonnenfinsternis bevor, die im Norden Amerikas, in Spanien und Nordafrika sichtbar sein mußte. Die Astronomen verschiedener Länder waren übereingekommen, gleichzeitige Beobachtungen an verschiedenen Punkten in der Zone der Sichtbarkeit anzustellen. Thomas Black war zu dem Zweck für den Norden Amerikas gewählt worden. Er befand sich da etwa unter denselben Verhältnissen wie die englischen Astronomen, die zur Beobachtung die Finsternis von 1851 nach Schweden und Norwegen gegangen waren.

Es ist selbstverständlich, daß Thomas Black die ihm gebotene Gelegenheit, jenen Lichtkranz zu beobachten, mit Begierde ergriff. Er sollte gleichzeitig so weit wie möglich die Natur der rötlichen Protuberanzen ins Auge zu fassen suchen, die an verschiedenen Stellen des Umkreises an unserem Tagesgestirn bemerkt werden. Gelang es dem Astronomen aus Greenwich, diese Frage auf unwiderlegliche Weise zu lösen, dann durfte er der Anerkennung der ganzen gelehrten Welt sicher sein.

Thomas Black rüstete sich also zur Abreise und erhielt an die Hauptagenten der Hudson's Bay Company die gewichtigsten Empfehlungsschreiben. Gleichzeitig sollte auch demnächst eine Expedition nach den Nordgrenzen abgehen, um dort eine neue Faktorei zu gründen. Von dieser Gelegenheit galt es Nutzen zu ziehen.

Thomas Black reiste also ab und durchschiffte den Atlantik nach New York, gelangte über die amerikanischen Seen nach der Niederlassung am Red River und dann von Fort zu Fort auf flüchtigem Schlitten, unter Leitung eines Kuriers der Company, trotz des Winters, trotz der Kälte, unter Mißachtung aller Gefahren einer Reise durch die arktischen Länder am 17. März in Fort Reliance unter den eben beschriebenen Umständen an.

Das waren die Aufklärungen, die der Astronom Captain Craventy gab, der sich infolgedessen Thomas Black vollkommen zur Verfügung stellte.

„Aber, Mr. Black“, sagte er, „warum eilten Sie dermaßen, um hierherzukommen, da diese Sonnenfinsternis erst im nächsten Jahr, also 1860, stattfinden wird?“

„Ich hatte ja gehört, Captain, daß die Company eine Expedition nach dem nördlichen Küstengebiet und über den 70. Breitengrad hinaus entsende, und wollte also die Abreise von Lieutenant Hobson nicht verfehlen.“

„Mr. Black“, versetzte der Captain, „wäre der Lieutenant schon fortgewesen, dann wäre es mir eine Ehre gewesen, Sie bis an die Küsten des Eismeers zu geleiten.“

Endlich wiederholte er dem Astronomen, daß dieser völlig auf ihn zählen könne, und nannte ihn nochmals in Fort Reliance herzlich willkommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Land der Pelze