Die folgende Erzählung ist nicht phantastisch, sie ist nur romantisch

Es würde ein Irrtum sein, wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit zu glauben, daß sie nicht wahr wäre. Wir leben in einer Zeit, wo alles möglich ... ja man wäre berechtigt zu sagen, wo alles schon vorgekommen ist. Wenn unsere Erzählung heute auch nicht wahrscheinlich sein sollte, so ist sie es vielleicht schon morgen, dank der wissenschaftlichen Hilfsmittel, die sich der Zukunft bieten, und dann würde es niemandem in den Sinn kommen, sie als sagenhaft zu bezeichnen. Heute, nah dem Abschluß des so praktischen, so positiven 19. Jahrhunderts, entstehen übrigens keine Sagen mehr, weder in der Bretagne, dem Gebiet der wilden Korrigans, noch in Schottland, der Heimat der Brownies (Heinzelmännchen) und der Gnomen; weder im sagenumwobenen Norwegen, dem Vaterland der Asen, Elfen, Sylphen und Walküren, noch auch in Transsilvanien (Siebenbürgen), wo die mächtige Kette der Karpathen für Geisterbeschwörungen und Geistererscheinungen einen so günstigen Boden bietet, obwohl wir hierzu die Bemerkung nicht unterdrücken dürfen, daß gerade im transsilvanischen Land der Aberglaube früherer Zeiten noch in üppiger Blüte steht.

Gerando hat dieses entlegene Gebiet Europas beschrieben, Elisee Reclus hat es besucht. Beide erwähnen nichts von den Vorkommnissen, worauf unsere Erzählung beruht. Vielleicht hatten sie davon Kenntnis, wollten ihnen aber keinen Glauben beimessen. Das ist schon deshalb zu bedauern, weil der eine diese Ereignisse mit der Verläßlichkeit des Geschichtsschreibers wiedergegeben, der andere sie mit dem unbewußten poetischen Schwung geschildert hätte, der seine Reiseberichte so vorteilhaft auszeichnet.


Da das also beide unterlassen haben, will ich versuchen, es für sie zu tun.

Am 29. Mai eines der letzten Jahre hütete ein Schäfer seine Herde am Rand eines grünen Wiesenplans am Fuß des Retyezat, der ein mit geradästigen Bäumen besetztes und mit reichen Ackerfeldern geschmücktes Tal überragt. Über jene offene, ganz schutzlose Hochfläche streichen zur Winterszeit die Galernen, das sind die scharfen, schneidenden Nordwestwinde, wie das Messer des Barbiers. Man sagt dann auch dort zu Lande, daß die Höhe sich – und zuweilen sehr glatt – „rasiert“.

Jener Schäfer zeigte in seinem Äußeren nichts Arkadisches und auch nichts Bukolisches in seiner Haltung. Es war kein Daphnis, Amyntas, Tityros, Lycidas oder Meliböus. Der Lignon murmelte nicht zu seinen mit plumpen Holzschuhen beschwerten Füßen; die walachische Sil war es, die mit ihrem klaren, frischen Gewässer würdig gewesen wäre, durch die Windungen des Romans ‚Astree‘ zu fließen.

Frik, Frik aus der Dorfschaft Werst – so nannte sich der ländliche Hirt – selbst ebenso vernachlässigt wie seine Tiere, schien wie geschaffen, mit in dem am Eingang des Dorfs errichteten schmutzigen Nest zu wohnen, in dem auch seine Schafe und Schweine in empörendem Schlamm und Unrat hausten, wie das übrigens für alle Schäfereien des Komitats gleichermaßen zutrifft.

Das immanum pecus weidet also unter der Obhut des genannten Frik ... immanior ipse. Auf einem Haufen zusammengetragenen Grases ausgestreckt, schlief er mit dem einen und wachte mit dem anderen Auge, immer die dicke Tabakspfeife im Mund; nur dann und wann rief er seine Hunde an, wenn sich ein Lamm zu weit vom Weideplatz verirrte, oder ließ er einen schrillen Pfiff ertönen, den das Echo von den Bergwänden vielfach wiederholte.

Es war jetzt 4 Uhr nachmittags. Die Sonne begann zu sinken. Einzelne Felsengipfel im Osten, deren Fuß sich in wallenden Dunstwolken badete, erglänzten schon im Abendlicht. Nach Südwesten zu ließen zwei Lücken der Bergkette ein schräges Strahlenbündel hereinfallen, so wie ein Lichtstreifen durch wenig geöffnete Türen dringt.

Das Gebirgssystem der Gegend gehörte zu dem wildesten Teil Transsilvaniens, der im Komitat Klausenburg oder Kolosvar zu suchen ist.

Ein merkwürdiges Bruchstück des österreichischen Kaisertums, dieses Transsilvanien, das „Erdely“ in magyarischer Sprache, das heißt „das Land der Wälder“. Im Norden und Westen wird es von Ungarn begrenzt; im Süden berührt es die Walachei und im Osten die Moldau. Bei einer Fläche von 60.000 Quadratkilometern oder 6 Millionen Hektar – das ist fast der zehnte Teil der österreichischungarischen Monarchie – erscheint es als eine Art Schweiz, ist aber, obwohl um die Hälfte größer als der helvetische Staatenbund, doch nicht volkreicher als jene. Mit seinen dem Ackerbau erschlossenen Hochebenen, den üppigen Weideflächen, den nach allen Richtungen hin streichenden Tälern und seinen schroff aufstrebenden Felsriesen, wird Transsilvanien, das die vielen plutonischen Höhenzüge der Karpathen fast überall streifig bedecken, von zahlreichen Wasserläufen durchzogen, von Zuflüssen der Theiss und der stolzen Donau, in der das sogenannte Eiserne Tor wenige geographische Meilen weiter im Süden den Abfall der Balkankette zwischen der Grenze Ungarns und des osmanischen Reichs verschließt.

So erscheint das Bild des alten Daciens, das Trajan im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung eroberte. Die Unabhängigheit, der es sich unter Johann Zapoly und dessen Nachfolgern bis zum Jahr 1699 erfreute, hatte ein Ende mit Leopold I., der das Gebiet dem der österreichischen Kronländer einverleibte. Trotz veränderter politischer Verhältnisse ist es aber stets der Wohnsitz verschiedener Rassen geblieben, die hier miteinander in Berührung stehen, doch nicht verschmelzen, die Heimat von Walachen oder Rumänen, von Ungarn, Zigeunern, Szeklern moldauischer Abstammung, und auch von Sachsen, die durch Zeit und Umstände sich zugunsten der transsilvanischen Einheit doch schließlich „magyarisieren“ dürften, so hartnäckig sie bisher auch ihre Stammeseigentümlichkeit behaupteten.

Welchem Typus der Schäfer Frik angehörte und ob er etwa ein entarteter Nachkomme der alten Dacier war, das hätte man angesichts seines wirren Haarschopfs, des nicht gerade sauberen Gesichts, des struppigen Barts, der dichten, wie aus rötlichen Borsten gebildeten Augenbrauen und der zwischen grün und blau schillernden, stechenden, doch am Hornhautrand schon den sogenannten Greisenbogen zeigenden Augen des Mannes nur schwer bestimmen können. Daß er bereits 65 Jahre zählte, konnte man schon leichter sehen. Dabei war er groß, sehnig und hielt sich straff unter dem weichen Filzhut, der allerdings weniger Haare zeigte als seine halb entblößte Brust – kurz, ein Maler würde ihn, wenn er so, auf den langen Stab mit Krähenschnabelgriff gestützt, unbeweglich wie ein Felsen dastand, gewiß gern als Modell benutzt haben.

Als die Sonnenstrahlen sich durch die Berglücke im Westen Bahn brachen, drehte Frik sich um; dann formte er aus der halb eingeschlagenen Hand eine Art Fernrohr – so als hätte er sie als Sprachrohr verwendet, wenn er sich weithin vernehmbar machen wollte – und blickte aufmerksam in jener Richtung hinaus. Am hellen Hintergrund des Horizonts erhoben sich in einer Entfernung von 1 Meile und deshalb stark verkleinert die Umrisse einer Burg. Dieser altertümliche Schloßbau nahm auf einem einzeln stehenden Seitengipfel des Bergs Vulcan den mittleren Teil eines Hochplateaus ein, das den Namen des Plateaus von Orgall führte. Bei dem schimmernden Licht hoben sich die Umrisse des Ganzen deutlich und mit derselben Schärfe wie stereoskopische Bilder vom Himmel ab. Nichtsdestoweniger mußte das Auge des Hirten mit seltener Sehschärfe ausgestattet sein, um irgendeine Einzelheit der entfernten Gegenstände unterscheiden zu können.

Plötzlich rief er, den Kopf in die Höhe werfend: „Altes Schloß! Altes Schloß! Stütz du dich nur immer auf deine Grundfeste! Noch 3 Jahre, und es ist zu Ende mit dir, denn deine Buche hat nur noch drei Äste!“

Die betreffende, nah am Rand einer der Bastionen der Burg wurzelnde Buche erschien am Himmelsgrund wie ein feiner Scherenschnitt, und in dieser Entfernung würde sie wohl schwerlich für jemand anders als den Schäfer Frik sichtbar gewesen sein. Die Deutung jener geheimnisvollen Worte, die mit einer das Bergschloß betreffenden Sage in Beziehung stand, wird an passender Stelle folgen.

„Ja!“ wiederholte der Mann, „nur drei Äste! Gestern waren es noch vier; der vierte ist aber im Lauf der letzten Nacht abgefallen ... jetzt steht nur noch ein Stumpf des stolzen Baums da. Ich zähle nur noch drei über dem starken Stamm ... nur noch drei, alte Burg ... nur noch drei lebende Äste!“

Stellt man sich einen Hirten von seiner idealen Seite vor, so erscheint er einem gewöhnlich als Denker oder Träumer; er unterhält sich mit den Planeten; er spricht mit den Sternen und versteht sich darauf, die Schrift des Himmels zu lesen. In Wirklichkeit ist er im allgemeinen ein unwissender, vernagelter Bursche. Trotzdem dichtete ihm die Leichtgläubigkeit so oft übernatürliche Fähigkeiten an; er versteht sich auf Hexerei je nach Laune; er wendet Verzauberungen durch Besprechen ab oder verzaubert selbst Mensch und Tier – was in diesem Fall ja fast aufs gleiche hinausläuft; er handelt mit sympathetischen Pülverchen; man kauft von ihm Liebestränke und Zaubersprüche. Ja, es geht so weit, daß er die keimende Frucht der Ackerfurche tötet, indem er verhexte Kieselsteine hineinwirft, oder daß er die Schafe unfruchtbar macht, indem er sie mit dem linken Auge ansieht. Ein derartiger Aberglaube findet sich in allen Ländern und fand sich zu allen Zeiten. Selbst in zivilisierteren Ländern gehen gar viele Leute nicht an einem Schäfer vorüber, ohne diesem ein paar freundliche Worte zuzurufen, ohne ihm einen hergebrachten Gruß zu bieten, indem er speziell „Hirt“ genannt wird, worauf der Mann besonderen Wert legt. Ein Abnehmen des Hutes schützt bereits gegen manches Übel, und in Transsilvanien ist man deshalb damit nicht sparsam.

Frik wurde nun als ein solcher Hexenmeister betrachtet, der Geistererscheinungen hervorzuzaubern vermochte. Nach Aussage der einen gehorchten ihm die Vampire und die Stryges; nach der anderer konnte man ihn bei abnehmendem Mond in halbfinsteren Nächten, wie in anderen Gegenden das Gespenst des Großen Schalttags, auf dem Schutzdach von Mühlrädern reiten sehen, von wo aus er mit den Wölfen schwatzte oder träumerisch zu den Sternen hinaufstarrte.

Frik ließ die Leute reden, denn er stand sich ganz gut dabei. Er verkaufte Zaubermittel ebenso wie Schutzmittel dagegen. Doch war er, wohl zu bemerken, nicht weniger gläubig als seine Kundschaft, und wenn er vielleicht auch an seinen eigenen Zauberkräften zweifelte, so galt ihm doch der Inhalt der landläufigen Sagen als unbestreitbare Wahrheit.

Hiernach kann es nicht Wunder nehmen, daß er sich jene, das baldige Verschwinden der Burg betreffende Vorhersage zurechtlegte – da die Schicksalsbuche jetzt bis auf drei Äste zusammengebrochen war – und daß er sich beeilte, diese Neuigkeit in Werst bekanntzugeben.

Nachdem er also seine Herde zusammengerufen hatte, indem er mit vollen Backen eine aus weißem Holz geschnitzte Schäferpfeife anblies, schlug Frik den Heimweg zum Dorf ein. Die Tiere in Ordnung haltend, folgten ihm seine Hunde – zwei Terrierbastarde, bissige, wilde Köter, die mehr geschaffen schienen, Lämmer zu zerfleischen als sie zu beschützen. Die Herde bestand aus etwa 100 Widdern und Schafen; darunter etwa einem Dutzend Lämmern, sonst aber aus 3 bis 4jährigen Tieren mit vier und mit sechs Zähnen.

Diese Herde gehörte dem Ortsrichter von Werst, dem Birö Koltz, der der Gemeinde einen tüchtigen Weidepacht bezahlte und seinen Schäfer Frik hoch schätzte, weil er ihn als ebenso brauchbar bei der Schur, wie erfahren in der Behandlung der Schafkrankheiten, der Drehkrankheit, des Leberwurms, der Trommelsucht, der Pocken, der Unfruchtbarkeit und anderer ähnlicher Störungen kannte.

Die Tiere zogen in geschlossenen Haufen dahin, voran der Leithammel mit der Glocke und ein altes Mutterschaf mit Schellenhalsband, die beide inmitten des Geblöks „den Ton angaben“.

Vom Weideplatz aus schlug Frik einen breiten, von ausgedehnten Feldern umgebenen Fußweg ein. Hier wogten die prächtigen Halme eines Getreides, das ebenso hoch im Stroh, wie lang in den Ähren war; dort wucherten üppige Kulturen von „Kukuruz“, dem Mais des Landes. Der Weg führte zum Saum eines aus Fichten und Tannen bestehenden Waldes, der in seinem Schatten erquickende Kühle bot. Weiter unten schlängelte sich das spiegelnde Band der Sil hin, deren Wasser sich an den Kieseln des Grundes klärte, und auf der Stämme und Klötze aus den stromaufwärts liegenden Sägemühlen hinabschwammen.

Hunde und Schafe machten am rechten Ufer des Flusses halt und stillten gierig ihren Durst am steilen Rand, dessen Rosengebüsch sie durchbrochen hatten.

Werst lag nur wenige Flintenschuß weit von hier entfernt, und zwar jenseits eines dichten, halbhohen Weidengebüschs mit natürlich entwickelten Bäumen, nicht solchen verkrüppelten Kopfweiden, deren Zweigruten nur wenige Fuß über der Wurzel ausstrahlen. Dieses Weidengebüsch erstreckte sich bis zu den Abhängen des Vulcan, auf dem das gleichnamige Dorf den Vorberg eines nach Süden verlaufenden Zweigs des Plesagebirges einnimmt.

Die Landschaft war jetzt menschenleer. Die Feldarbeiter kehrten erst mit einbrechender Dunkelheit an den häuslichen Herd zurück, und Frik hätte jetzt wohl kaum Gelegenheit gefunden, den althergebrachten ‚Guten Tag!‘ mit ihm begegnenden Leuten zu wechseln. Nachdem seine Tiere sich gesättigt hatten, wollte er eben in einen verschlungenen Talweg einbiegen, als ihm, etwa 50 Schritte stromabwärts der Sil, ein dort auftauchender Mann in die Augen fiel.

„He! Guter Freund!“ rief dieser dem Hirten zu.

Es war einer jener fremden Händler, die alle Märkte des Komitats besuchen und die man dazwischen in Städten, Flecken und selbst in den geringsten Dörfern antrifft. Sich den Leuten verständlich zu machen, ist ihnen eine Kleinigkeit, sie sprechen eben alle Mundarten. Niemand hätte sagen können, ob der hier Erschienene ein Italiener, Sachse oder Walache war; man erkannte aber leicht, daß er Jude, polnischer Jude war, an seiner langen hageren Gestalt, der gebogenen Nase, dem spitz auslaufenden Vollbart, wie an der vorspringenden Stirn und den lebhaften Augen darunter.

Dieser Hausierer handelte mit Brillen, kleinen optischen Instrumenten, Thermometern, Barometern, geringwertigen Wanduhren und dergleichen. Was nicht in seinem, an starken Achselgurten hängenden Warenkasten untergebracht war, das hing ihm am Hals und am Gürtel – ein richtiger wandelnder Kramladen.

Wahrscheinlich hegte auch dieser Jude die Achtung, vielleicht die stille Scheu, die nun einmal alle Schäfer anderen Leuten einflößen. So begrüßte er denn Frik zunächst mit einer Handbewegung. Dann begann er in rumänischer Sprache, diesem Gemenge aus Latein und Slawisch, mit fremdem Tonfall: „Es geht Euch doch nach Wunsch, guter Freund?“

„Jawohl ... je nach Witterung“, antwortete Frik.

„Dann geht's Euch heute also gut, denn es ist schönes Wetter.“

„Und morgen desto schlechter, denn da wird's regnen.“

„Regnen?“ rief der Händler. „Regnet's in Eurem Land auch ohne Wolken?“

„Nun, Wolken werden diese Nacht schon kommen ... und zwar von da draußen ... von der schlimmen Seite des Berges.“

„Woran erkennt Ihr das?“

„An der Wolle meiner Schafe, die starr und trocken wie gegerbte Haut ist.“

„Das ist allerdings eine schlimme Aussicht für die, die draußen im Freien arbeiten.“

„Und desto angenehmer für die, die in ihrem Haus unterm Dach bleiben können.“

„Gewiß, Schäfer; doch dazu muß man auch ein Haus besitzen.“

„Habt Ihr Kinder?“ fragte Frik weiter.

„Nein.“

„Seid Ihr verheiratet?“

„Nein.“

Die Fragen stellte Frik, weil sie hier landesüblicherweise an jeden gerichtet werden, dem man auf der Landstraße begegnet.

Dann fuhr er fort: „Woher kommt Ihr, Hausierer?“

„Von Hermannstadt.“

Hermannstadt ist eine der bedeutendsten Städte Siebenbürgens. Von dort aus gelangt man in das bis nach Petroseny herabreichende Tal der ungarischen Sil.

„Und Ihr geht ...?“

„Nach Kolosvar.“

Um nach Kolosvar (Klausenburg) zu kommen, hat man sich weiterhin im Tal des Maros zu halten und erreicht dann über Karlsburg, an den ersten Ausläufern der Bilarberge entlang, die Hauptstadt des Komitats. Die Wegstrecke beträgt etwa 20 Meilen (150 Kilometer).

Diese Händler mit Thermometern, Barometern und allerhand Kleinkram erscheinen immer wie Gestalten besonderer – nur nicht hofmännischer – Art. Das liegt in ihrem Geschäft. Sie „verkaufen Zeit und Wetter“, in jeder Form, die Zeit, wie sie verfließt, das Wetter, wie es eben ist und wie es sein wird, wie andere „zweibeinige Ballentiere“ mit Körben, Strick und Baumwollwaren handeln. Man wäre versucht, sie Reisende des Hauses Saturn & Co. – mit dem „Goldenen Stundenglas“ als Warenschutzmarke – zu nennen. Zweifelsohne machte der Handelsjude diese Wirkung auf den biederen Frik, der verwundert diese Menge von Gegenständen betrachtete, die ihm so gut wie neu waren und deren Bestimmung er nicht kannte.

„He, Hausierer“, fragte er, den Arm vorstreckend, „wozu dient das Ding da, das wie die Zähne eines alten Gehenkten an Eurem Gürtel klappert?“

„Oh, das sind lauter wertvolle Sachen“, erwiderte der Fremde, „lauter Dinge, die all und jedem nützlich sind.“

„All und jedem“, entgegnete Frik augenzwinkernd, „auch für einen Schäfer?“

„Auch jedem Schäfer und Hirten.“

„Und das lange glänzende Ding da?“

„Dieses Instrument“, belehrte ihn der Jude, indem er ein Thermometer in der Hand auf und ab gleiten ließ, „sagt Euch, ob es warm oder kalt ist.“

„Aber, guter Freund, das weiß ich doch allein, wenn ich unter der dünnen Jacke schwitze oder unter dem dicken Flausrock friere.“

Offenbar genügten solche Wahrnehmungen einem Schäfer, der sich um das Warum dabei nicht kümmerte.

„Und die alte dicke Uhr dort mit dem einen Zeiger dran?“ erkundigte er sich weiter und wies auf ein Aneroidbarometer.

„Das ist keine alte Uhr, sondern ein Instrument, das Euch vorhersagt, ob's morgen schön sein oder regnen wird.“

„Ist das wahr?“

„Gewiß, darauf könnt Ihr Euch verlassen.“

„Na, es mag ja sein; ich möchte das Ding aber doch nicht, selbst wenn's nicht mehr als einen Kreuzer kostete. Ich brauche ja nur nachzusehen, wie die Wolken durch die Berge ziehen oder ob sie hoch über deren Gipfeln hingehen, da weiß ich das Wetter auch für 24 Stunden im voraus. Da draußen, Ihr seht wohl den Nebel, der fast auf der Erde hinschleicht? Na, wie ich Euch sage, das bedeutet für morgen Wasser.“

Der Schäfer Frik, ein langgeschulter Wetterbeobachter, konnte in der Tat ohne ein Barometer auskommen.

„Da ist wohl die Frage überflüssig, ob Ihr vielleicht eine Uhr braucht?“ nahm der Handelsjude wieder das Wort.

„Eine Uhr? Ach, ich habe eine, die geht ganz allein und hängt mir, wo ich gehe und stehe, über dem Kopf – das ist die Sonne da oben. Seht Ihr, Freundchen, wenn die sich über die Spitze des Roduk da drüben stellt, dann ist es Mittag, und wenn sie durch das Loch des Egelt guckt, ist es 6 Uhr abends. Das wissen meine Schafe ebenso gut wie ich; die Schafe und die Hunde erst recht. Da behaltet nur Euren Kram.“

„Allerdings“, bemerkte der Händler, „wenn ich nur Schäfer als Kunden hätte, würd' es mir schwer werden, etwas zu verdienen. Ihr braucht also gar nichts von meinen Waren?“

„Nicht das Geringste!“

Die billigen Ramschwaren des Juden waren übrigens auch wirklich nicht viel wert; die Barometer zeigten gerade dann nicht auf „Schön Wetter“ oder „Veränderlich“, wenn es ihre Pflicht gewesen wäre, und die Uhrzeiger bezeichneten die Stunden zu lang oder die Minuten zu kurz – mit einem Wort, der Jude trug den reinen Ausschuß trödeln. Den Schäfer mochte auch ein gewisses Mißtrauen beschleichen, denn er machte gar keine Miene, den Beutel zu ziehen. Da, als er schon den langen Stab zum Weitergehen bewegte, tippte er noch auf eine Art Röhre, die am Tragegurt des Hausierers hing, und sagte: „Wozu dient denn die kleine Röhre hier?“

„Diese Röhre ist keine simple Röhre.“

„Na, es ist doch auch kein Ofenrohr?“

Der Schäfer verstand darunter eine Art altmodischer Pistole mit erweiterter Mündung.

„Nein“, erklärte der Jude, „das ist ein Fernrohr“.

Es war in der Tat eines jener Jahrmarktinstrumente, die die betrachteten Gegenstände fünf bis sechsmal vergrößern oder sie um ebensoviel näher zu bringen scheinen, was ja in der Wirkung aufs selbe hinausläuft.

Frik hatte das Fernrohr losgebunden; er betrachtete es genau, drehte und wendete es nach allen Seiten und verschob die Einzelzylinder übereinander.

Dann richtete er wie ungläubig den Kopf hoch auf.

„Ein Fernrohr?“ fragte er.

„Ja, Schäfersmann, und zwar ein ganz ausgezeichnetes, das Euch befähigt, viel weiter als gewöhnlich zu sehen.“

„Oho, ich habe sehr gute Augen, Freundchen. Bei klarer Luft erkenne ich die entlegensten Felsen bis zur Spitze des Retyezat und die letzten Bäume im Grund des Talwegs des Vulcan.“

„Ohne die Augen halb zu schließen?“

„Ohne solche Kunststückchen. Das verdank' ich dem heilsamen Tau, wenn ich am Abend bis zum Morgen unter freiem Himmel schlafe. Glaubt nur, das wäscht die Pupille rein.“

„Was, der Tau?“ erwiderte der Hausierer. „Der macht ja die Leute weit eher blind.“

„Nur die Schäfer nicht!“

„Mag sein! Doch wenn Ihr auch gute Augen habt, meine sind doch noch besser, sobald ich sie ans Ende meines Fernrohrs bringe.“

„Das müßt' ich erst sehen.“

„Werft doch einmal selbst einen Blick durch das Fernrohr.“

„Ich?“

„Versucht's nur.“

„Und das kostet nichts?“ fragte Frik, der von Natur etwas mißtrauisch vorsichtig war.

„Nichts ... gar nichts, wenigstens wenn Ihr das Fernrohr nicht kauft.“

In dieser Hinsicht beruhigt, nahm Frik das Instrument, das der Hausierer für ihn passend einstellte. Nachdem er dann das linke Auge geschlossen hatte, brachte er das rechte nah an das Okular.

Erst blickte er in der Richtung des Vulcans und aufwärts nach dem Plesa hinaus. Nachher senkte er das Instrument und richtete es nach dem Dorf Werst hinab.

„Wahrlich“, rief er, „es ist doch richtig! Das trägt weiter als meine Augen. Da die Landstraße ... ich erkenne darauf die Leute! Richtig, Nic Deck, der Förster, der mit der Flinte auf dem Rücken vom Rundgang heimkehrt, mit ...“

„Wie ich's Euch sagte!“ unterbrach ihn der Hausierer.

„Ja, richtig, das ist Nic!“ fuhr der Schäfer fort. „Und wer ist das Mädchen im roten Rock und schwarzen Leibchen, das aus dem Haus von Meister Koltz tritt, wie um jenem entgegenzugehen?“

„Seht nur ordentlich hin, Schäfer, und Ihr werdet das Mädchen ebenso gut erkennen, wie den jungen Mann ...“

„Ja, wirklich, das ist Miriota, die schöne Miriota! – Oh, diese verliebten Leute! Jetzt sollen sie aber auf der Hut sein, denn ich habe sie hier deutlich am Ende des Fernrohrs, und es entgeht mir keine Zärtlichkeit.“

„Nun, was sagt Ihr jetzt von dem Instrument?“

„Was soll ich sagen? – Daß man damit weiter sehen kann als sonst.“

Wenn Frik in seinem Leben noch niemals durch ein Fernrohr geblickt hatte, mußte das Dorf Werst doch wohl zu den Ortschaften des Komitats Klausenburg gehören, die am weitesten hinter der Zeit zurückgeblieben waren. Und daß es so war, wird der Leser bald selbst erkennen.

„Jetzt, Schäfer“, fuhr der Fremde fort, „schaut noch einmal hindurch, aber weiter als nach Werst. Das Dorf liegt viel zu nah. Sehr darüber hinaus, weit, weit hinaus!“

„Und das kostet auch nicht mehr?“

„Keinen Heller mehr.“

„Gut. Ich will mich einmal in der Gegend der ungarischen Sil umsehen. Aha, da ist der Kirchturm von Livadzel! Den erkenn' ich an dem Kreuz, woran der eine Arm fehlt. Da ... und weiter draußen seh' ich den Turm von Petroseny, auch seinen Weißblechwetterhahn mit geöffnetem Schnabel, so als wollte er seine Glucken rufen! Und ganz unten ... das muß der Turm von Petrilla sein. Doch, nicht wahr, Hausierer, Ihr sagtet, das kostet deshalb immer nicht mehr.“

„Das Hindurchsehen kostet nichts, Schäfer.“

Frik wandte sich jetzt dem Plateau von Orgall zu; dann folgte er mit dem Fernrohr den Waldmassen im Schatten der Abhänge des Plesa, und schließlich trat die Burg in das Sehfeld des Glases.

„Richtig!“ rief er. „Der vierte Ast liegt zu Boden ... ich habe doch richtig gesehen! Na, den wird auch keiner aufheben, um ihn am Johannisfest als hübsche Fackel zu gebrauchen. Nein, keiner ... nicht einmal ich selbst! Das hieße ja Leib und Seele der Hölle verschreiben! Doch keine Sorge; einen gibt's doch, der ihn noch diese Nacht in seiner Höllenküche verbrennen wird ... das ist der Chort!“

Der Chort – so heißt der Teufel, wenn er hier im Land im Gespräch genannt wird.

Der Jude hätte vielleicht nach einer Erklärung dieser Worte gefragt, die für jeden unverständlich sein mußten, der nicht aus Werst oder dessen Nachbarschaft stammte, doch schon rief Frik wieder mit einer aus Schrecken und Erstaunen gemischten Stimme: „Da, was ist denn das? Ein Dunst, der über dem alten dicken Turm schwebt? Ist's denn wirklich nur Dunst? Nein, das könnte man für Rauchwolken halten! Unmöglich! Seit langen, langen Jahren haben die Schornsteine der Burg nicht mehr geraucht!“

„Wenn Ihr da draußen Rauch seht, Schäfer, dann wird's schon Rauch sein.“

„Nein, Hausierer, nein! Wahrscheinlich ist nur das Glas Eures Instruments angelaufen.“

„Dann wischt es doch ab.“

„Und wenn ich das täte.“

Frik drehte das Fernrohr um und setzte es, nachdem er die Gläser mit dem Ärmel abgerieben hatte, wieder vor das Auge.

Es war tatsächlich eine Rauchsäule, die dort aus dem Wartturm aufwirbelte. Bei der ganz stillen Luft stieg sie kerzengerade empor und verschwamm schließlich im Dunst der Höhe.

Frik stand wie versteinert und sprach kein Wort. Seine ganze Aufmerksamkeit wandte er der Burg zu, nach der schon der Schatten der Täler unter dem Plateau von Orgall langsam emporschlich.

Plötzlich ließ er das Fernrohr herabsinken, griff nach dem kleinen Quersack, der unter seiner Jacke hing und fragte: „Was soll Euer Rohr kosten?“

„Anderthalb Gulden“, antwortete der Händler.

Er hätte das Fernrohr auch schon für 1 Gulden weggegeben, wenn Frik sonst Lust zum Kauf gezeigt hätte. Der Schäfer feilschte aber nicht. Offenbar unter dem Druck einer ebenso plötzlichen wie unerklärlichen Verblüffung, senkte er die Hand in den Quersack und brachte das verlangte Geld hervor.

„Kauft Ihr das Fernrohr für Euch selbst?“ fragte der Hausierer.

„Nein, für meinen Herrn, den Ortsrichter Koltz.“

„Dann gibt er Euch zurück, was ...“

„Jawohl, die 2 Gulden, die es mich gekostet hat.“

„Wie, die 2 Gulden, sagt Ihr?“

„Natürlich. Und nun Gute Nacht, Freundchen.“

„Gute Nacht, Schäfersmann!“

Frik pfiff die Hunde heran, ließ diese die Herde zusammentreiben und zog rasch in Richtung Werst davon.

Der Jude, der ihm nachschaute, schüttelte leicht den Kopf, als ob er es mit einem halben Narren zu tun gehabt hätte.

„Hätt' ich das gewußt“, murmelte er vor sich hin, „dann würd' ich ihm das Fernrohr etwas teurer verkauft haben!“

Nachdem er dann seine Waren am Gürtel und auf den Schultern wieder geordnet hatte, schlug er, am rechten Ufer der Sil hinabwandernd, den Weg nach Karlsburg ein.

Wohin er ging, hat für uns keine weitere Bedeutung. Er taucht nur dieses einzige Mal in unserer Erzählung auf. Der Leser wird ihn nicht wieder zu sehen bekommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Karpathenschloß